12-11-2024
Wir sprechen! Wer hört uns?
DAHOMEY - ein Film von Mati Diop, DIE ILLEGALEN MASKEN - ein Theaterstück von Ilija Trojanow. Der Film läuft im Kino, das Stück ist bei uns zu lesen.
Von Claus Biegert
Diebstahl und Rückgabe von Diebesgut – in den ethnografischen Museen der Nordhalbkugel ein Trauma, das sich nicht mehr aus den Gemäuern entfernen will. Für die indigenen Kulturen ist es nicht nur der Zorn über den Raub, es ist auch ein Mitleiden mit den gestohlenen Objekten, die – numeriert und ihrer Persönlichkeit beraubt – in den staubdichten Gefängniszellen der Magazine ruhen, in der Regel mit Pestiziden gegen Insektenbefall besprüht. Dass sie in ihre Heimat als beseelte Wesen behandelt wurden, kümmert die Kuratoren in den Metropolen kaum.
In ihrem Film „Dahomey“ (seit 24. Oktober im Kino) beleuchtet die Regisseurin Mati Diop die Themen Aneignung, Selbstbestimmung und Restitution aus vielfältigen Blickwinkeln.
Im November 2021 verlasen 26 königliche Schätze aus dem Königreich Dahomey Paris und kehren in ihr Herkunftsland, die heutige Republik Benin, zurück. Diese Artefakte zählen zu den tausenden Objekten, die während der Invasion von 1892 von den französischen Kolonialtruppen geraubt wurden. Für sie gehen 130 Jahre Gefangenschaft zu Ende.
Mati Diop fragt, wie diese Objekte in einem Land aufgenommen werden sollen, das sich in ihrer Abwesenheit stark verändert hat.
Ilija Trojanow lässt seine Protagonisten miteinander ins Gespräch kommen und gibt den Masken die Seele, die in unserer Museumswelt ihnen abgesprochen wird.
Wir danken Ilija Trojanow herzlich für die Möglichkeit, das Stück auf unserer Plattform VOICES veröffentlichen zu dürfen.
Sie können die PDF-Datei hier herunterladen
Die illegalen Masken
Ein Stück in drei Akten
von Ilija Trojanow
Dramatis Personae
GRIOT, der Erzähler
TIMBUKTU, der Irrende, der Verlorene (sein Sohn)
NOMO (Stein/Blindheit), weiblich
JEGE (Eisen/Schlaf), männlich
TIZI (Feuer/Kummer), männlich
KUFU (Wasser/Tod), weiblich
BADA (Luft/Wandel), weiblich und männlich
LEO LIEBERBERG (Museumsdirektor)
PROFESSORIN MEAD
PROFESSOR DUBUFFET
SAM (Straßenmusiker, könnte von dem selben Schauspieler wie der
GRIOT gespielt werden)
SONIA (Kellnerin)
SUNNY (Waffendealer)
POLIZIST
AKT [1] SZENE [1]
TIMBUKTU
Die Füße stoßen gegen den Horizont.
Hilfe!
Der Kopf prallt gegen den Himmel.
Hilfe, Vater.
Der Körper liegt auf Stein.
Hilfe, rufe ich, Vater hilf.
Es ist so eng auf der Welt, ich kann mich nicht bewegen.
GRIOT
Unsichtbar, begleitet von einer Kora oder Mbira oder Sanza oder von einem Xylophon …
Perform
My father said.
Perform as if …
As if it were a holy act? Said I.
It is a holy act, said he.
Perform
My father said.
Perform as if …
As if nothing exists but through you
Through your song and your word! Said he.
Perform and everything will want to be.
Perform, my father said.
Perform and every answer
Will be a stranger along the path,
helpful in some way.
Perform and everything will want to be.
GRIOT
schält sich aus der Dunkelheit
Wer hört zu, wer hört denn noch zu?
ANDERE STIMMEN
Sei doch still, du alte Krähe
GRIOT
Ay … ay … ay … was kräht die Krähe,
ANDERE STIMMEN
Sei doch still, du alter Köter
GRIOT
Ay … ay … ay … was kläfft der Köter,
ANDERE STIMMEN
Sei doch still, du alter Geier
GRIOT
Ay … ay … ay … was greint der Geier,
Das Instrument verstummt.
GRIOT
Gott schuf Stein
TIMBUKTU (zunehmend leiser)
Stein … Stein … Stein
GRIOT
Aus Stein schuf er Eisen
TIMBUKTU (zunehmend leiser)
Eisen … Eisen … Eisen
GRIOT
Aus Eisen schuf er Feuer
TIMBUKTU (zunehmend leiser)
Feuer … Feuer … Feuer
GRIOT
Aus Feuer schuf er Wasser
TIMBUKTU (zunehmend leiser)
Wasser … Wasser … Wasser
GRIOT
Aus Wasser schuf er Luft
TIMBUKTU (zunehmend leiser)
Luft … Luft … Luft.
GRIOT
Gott schuf aus Stein,
der auch Eisen
der auch Feuer
der auch Wasser
der auch Luft,
den Menschen!
Grelles Licht. TIMBUKTU hockt zusammengepfercht in einem Kasten, der kaum größer ist als er selbst.
FRAUENSTIMME
Mucksmäuschenstill, verstehst du, mucks-mäuschen-still.
MÄDCHENSTIMME
Geduld. Du musst geduldig sein. Sonst erwischen sie dich.
JUGENDLICHE STIMME
Zehn Liter Wasser, mehr gibt’s nicht.
Zum Waschen und zum Trinken.
Wer mehr trinkt, der wäscht sich weniger.
Wer sich mehr wäscht, der trinkt weniger.
KINDERSTIMME
Mutter fragt mich immerzu, wo du bist.
Wieso fragt sie mich?
Kannst du es ihr nicht sagen.
FRAUENSTIMME
Haben Sie sich verlaufen? Möchten Sie einen Glühwein?
So was kennen Sie bestimmt nicht, wer weiß, ob Sie so was überhaupt trinken? Ich weiß nicht, ob ich Ihnen so was anbieten darf?
MÄNNERSTIMME
Was können Sie denn? Na?
Was haben Sie so drauf? Na?
Was können Sie beitragen?
Zeigen Sie uns doch mal, was Sie auf dem Kasten haben?
Bewähren Sie sich!
Beweisen Sie, dass wir uns auf Sie verlassen können.
Verstehen Sie mich?
Haben Sie noch ein Ass im Ärmel?
Haben Sie noch einen Pfeil im Köcher?
Timbuktu windet sich in der Enge.
ALLE STIMMEN IM CHOR (gleichzeitig)
Mucksmäuschenstill
Geduldig musst du sein
Zehn Liter Wasser
Mutter fragt immerzu
Haben Sie sich verlaufen?
Was können Sie denn?
AKT [1] SZENE [2]
Die fünf Masken in einem Saal eines Weltkulturen-Museums.
KUFU
Was für ein Albtraum.
NOMO
Warst du wieder Timbuktu?
KUFU
Ich träume von niemand anderem. Wer weiss, vielleicht werde ich von ihm erträumt. Ich bin im Wachsein so eingesperrt wie im Albtraum.
NOMO
Was siehst du im Traum?
KUFU
Schuhe.
TIZI
Schuhe?
KUFU
Nur Schuhe. Stiefel, Sandalen, Sneaker, Moonboots, Clogs, Latschen, Wanderschuhe. Augentreter. Ein Schlitz, dahinter Licht, im Licht Schuhe. Und Sohlen. Und Absätze.
TIZI
Wie lange schon ist mir kein Barfüßiger mehr begegnet.
KUFU
Flipflops. Gelegentlich Flip-flops.
TIZI
Flip flop, flip flop.
BADA
Ich bin in meinem Traum nach Hause zurückgekehrt, die Felder waren abgebrannt, die Stauden gebrochen, es roch nach Maiskolben, ich erreichte einen Bach, der war kein Bach, der war ein Frauenkörper.
TIZI
Habe ich auch gerochen, gegrillte Maiskolben, haufenhoch, heiß und knackig.
BADA
Die Bächin drängte mich, in einen der Kolben hineinzubeissen. Ich habe mir die Lippen verbrannt, die Zunge.
TIZI
Greifen Sie beherzt zu! Bedienen Sie sich. Uns soll heute nähren, was morgen verbrennt.
NOMO (schreit)
Wer hat meine Yams gegessen?
NOMO
Bin den glattesten Baum hinaufgestiegen, bin kein einziges Mal ausgerutscht. Er fand kein Ende, der Baum, irgendwann stieg ich nicht mehr, weil es keine Spitze gab und ohne Spitze kein Oben und kein Unten.
KUFU
Schuhe. Nur Schuhe, nichts als Schuhe.
Stunden, Tage, Wochen, Sohle neben Sohle, Gummi auf Leder, Tritt um Tritt, hundertmal schwarz, einmal bunt.
Schuhe, Sohlen, die Sohlen unbekannter Schuhe unbekannter Menschen.
NOMO
Alles hängt von der Perspektive ab.
TIZI
Du warst am falschen Platz.
KUFU
Zum Sein kein Platz.
Angekündigt von den Klängen der Kora (o.ä.) erscheint der GRIOT.
GRIOT
Der Mensch wurde stolz.
So schuf Gott die Blindheit
Den Stolz zu bändigen.
Die Blindheit wurde stolz.
So schuf Gott den Schlaf
Den Stolz zu bändigen.
Der Schlaf wurde stolz.
So schuf Gott das Leid
Den Stolz zu bändigen.
Das Leid wurde stolz.
So schuf Gott den Tod
Den Stolz zu bändigen.
Der Tod wurde stolz.
So schuf Gott die Unendlichkeit
Den Tod zu überwinden.
Neonlicht. LIEBERBERG, MEAD, DUBUFFET betreten den Raum. Die Masken erstarren zu Ausstellungsobjekten.
LIEBERBERG
Liebe Kollegen, wir sollten uns ein wenig beeilen. Bis 17.45 soll ich Sie in Ihr Hotel zurückgebracht haben, wie Sie wissen, erwartet Sie ein dicht gepacktes Abendprogramm …
MEAD
Das also sind die Masken?
LIEBERBERG
Zufällig gefunden, ein Wasserbruch und es kommen die wunderbarsten Schätze zu Tage. Glück im Unglück.
MEAD
Die größten Funde werden heutzutage in den Depots unserer Museen gemacht.
LIEBERBERG
Was für eine Fügung, dass Sie heute angereist sind, morgen schließen wir das Museum wegen Renovierungsarbeiten für einige Tage. Aber genug der überflüssigen Worte. Das also sind sie.
Schweigsames Betrachten.
Meisterwerke!
MEAD
Wie bitte?
LIEBERBERG (lauter)
Meisterwerke!
MEAD
Unzweifelhaft.
LIEBERBERG
Beachten Sie den formvollendeten Ausdruck kosmologischer Hierarchie. Die anthropomorphische Metastruktur von inhärenter philosophischer Stringenz.
DUBUFFET
Verzeihung, werter Kollege, aber ich entdecke Spuren des Hybriden, Schattierungen des Übergangs. Könnten diese Masken aus einer Epoche transitorischer Entwicklung stammen?
LIEBERBERG
Das dürfte eher der Komplexität des zugrundeliegenden Mythos geschuldet sein, eine profunde Komplexität, zudem mangelt es uns an historischen Beweisen, alles weitere unterliegt der Spekulation, wildester Spekulation.
DUBUFFET (flüstert zu MEAD)
Die alte Schule hält sich wacker.
MEAD (flüstert zu DUBUFFET)
Nicht lebendig, aber erstaunlich quick.
DUBUFFET
Heuristisch blind.
LIEBERBERG
Minimalistisch die Münder, subtil gesetzt, ornamentiert mit Perlen and Kaurimuscheln.
DUBUFFET streckt seine Hand aus, das schöne Gesicht einer der Masken zu berühren.
LIEBENBERG
Ich bitte Sie, nicht berühren!
MEAD
Sie sind nicht nur heilig, werter Kollege, sondern auch von unschätzbarem Wert.
DUBUFFET
Tausende von Hände haben ihre Existenz begründet.
LIEBERBERG
Wie wahr, wie wahr. Aber jetzt sind sie hoch versichert. Kehren wir doch noch einmal zurück zu den Gestaltungsprinzipien. Worauf ich Ihre Aufmerksamkeit noch lenken wollte, die strenge Frontalität, das Verhältnis von Torso zum restlichen Körper, alles ist durchdrungen von dem allumfassenden Konzept des Mythologischen, in diesem Fall natürlich vom Schöpfungsmythos der Fulani …
DUBUFFET
Verzeihen Sie, wenn ich Ihre präzise Analyse unterbreche, aber erst neulich hat Professor Jenkins …
LIEBERBERG
Jenkins!
DUBUFFET
… in seinem Essay über „Die Bewusstheit des primitiven Künstlers hinsichtlich Konzept und Prozess“ einen faszinierenden Subtext herausgearbeitet …
LIEBERBERG
Er liest zu viel hinein!
PROF DUBUFFET
… einen Ausdruck von migratorischer Bewegung, von Konflikt und Selbstbehauptung, ein Kreislauf, der durch seine Wiederholung mythologische Züge annimmt, ergo erfahren ist, nicht behauptet wird …
LIEBERBERG
Das kann ist nicht bestätigen, nein, das halte ich für ausgeschlossen, gewisse mnemonische Funktionen, das mag angehen, aber eine unmittelbare Illustrierung der Stammesgeschichte, nein!
GRIOT setzt seine Geschichte fort, sotto voce.
DUETT: LIEBERBERG / GRIOT
Beide Stimmen zerfranst, sich gegenseitig bedrängend, der Griot im Singsang, Lieberberg im Vortragsstil …
GRIOT
Der Mensch wurde stolz
wie seltsam ist sein Stolz.
LIEBERBERG
Wir sollten einige Aspekte der Skarifizierung nicht unerwähnt lassen …
GRIOT
Der Mensch wurde blind
wie seltsam ist seine Blindheit.
LIEBERBERG
vermutlich Initiationssymbole …
GRIOT
Der Mensch wurde schläfrig
Wie seltsam ist sein Schlaf.
LIEBERBERG
die zugleich als formelle Embleme eingesetzt werden.
GRIOT
Der Mensch wurde leidend
Wie seltsam ist sein Leid.
LIEBERBERG, MEAD, DUBUFFET diskutieren eifrig, aber stumm weiter.
GRIOT
Der Mensch wurde sterblich,
Wie seltsam ist sein Tod!
LIEBERBERG, MEAD, DUBUFFET diskutieren noch ein wenig weiter, dann verlassen sie den Raum.
AKT [1] SZENE [3]
Die MASKEN bewegen sich nun wie eine Familie in im eigenen Wohnzimmer.
JEGE
Ich dachte, die gehen nie mehr wieder weg.
KUFU
Im Keller war’s ruhiger.
TIZI
Weniger Licht.
BADA
Dafür nicht so viele starrende Augen.
NOMO
Was die starren können.
BADA
Gestern der Junge …
NOMO
Starrauge!
KUFU
Und die Schulklasse …
JEGE
Alle haben mich gezeichnet.
TIZI
Weil du so einen strengen Gesichtsausdruck hast.
NOMO
Weil du die schönsten Narben hast.
KUFU
Weil es einfacher ist, den Schlaf zu zeichnen als den Tod.
JEGE
Ich sehne mich nach jenem Tag, an dem wir nicht angestarrt werden.
KUFU
An dem es verboten ist!
TIZI
So wie früher, meinst du?
NOMO
So wie einst.
KUFU
Als die Termiten flügge, der Regen erschöpft, das Flüstern rundum, die Schatten davon.
NOMO
Klammert euch nur an die Baumstämme der Erinnerung, ihr Vertriebenen.
TIZI
Treibholz.
JEGE
Gedächtniseintreiber.
KUFU
Und doch werdet ihr weggeschwemmt werden.
NOMO
Ich schwebte über dem Fluß …
TIZI
Ich trieb auf dem Wasser …
JEGE
Ich versank im Wasser …
KUFU
Ich war das Wasser.
BADA
Genug der Verklärung!
KUFU
Jemand hat uns geschaffen, jemand muss uns geschaffen haben.
NOMO
Er hat das Holz im Schattenhain gefunden.
TIZI
Woher wusste er von diesem Holz?
JEGE
Er hat es berührt.
KUFU
Er hat uns mit seinen Händen gesehen bevor wir da waren.
JEGE
Vorhin wurde ich fast berührt. Die Absicht der fremden Hand strich mir über die Wange. Ich fühle mich wertlos, so lange schon hat mich niemand mehr berührt.
KUFU
Mit seinen Händen hat er uns aus dem Holz befreit.
BADA
Ich war die Hexenfrau, die nachts die Sonne in ihrem Schoß verbirgt. Ich war der Baum, der mitten auf dem Marktplatz umfiel und an den Haaren weggezerrt wurde.
NOMO
Großmutter war glücklich. Ein Tag reichte nicht aus, die Ernte zu zählen. Sie mochte keine Märchen. Sie zog die Weisheit voller Töpfe vor.
TIZI
Ich bin nicht diejenige, die ich sein sollte. Sie zwangen mich, die ganze Kalebasse auszutrinken.
JEGE
Eine Kalebasse voll mit …?
TIZI
… dem, was von mir erwartet wurde.
JEGE
Trunken vom Durst der Erwartungen.
BADA (schriller)
Ich bin die Hexenfrau, ich gestehe, ich habe unzählige Monde getötet.
KUFU
Wenn es regnete, regnete es nach dem Mahl am Abend. Die alte Uhr meines Vaters grunzte wie ein Zuchtbulle. Wenn es regnete, weckten die Termiten die Nacht.
NOMO
Ich hielt die Hand der Frau, deren Fleisch vom Vorsteher gegessen wurde. Ich habe sie gereinigt von dem, was er zwischen ihren Schenkeln zurückgelassen hatte.
TIZI
Ich habe die Kalebasse zerbrochen. Ich war diejenige, die überlebt, wenn ein Zwilling stirbt.
KUFU
Bevor du ein Glas Hirsebier ausgetrunken hattest, bedeckten die weißen Flügel der Termine den gesamten Boden. Meinen ganzen Körper.
NOMO
Großmutters Hand fühlte sich an wie ein trockenes Blatt. Während alle anderen den Versammlungsplatz füllten, sanken wir in den besänftigenden Atem des anderen.
BADA
Ich bin die Hexe.
TIZI
Ich war schwach, das ganze Dorf spuckte mich an. Vertreibt sie, schrieen sie, weg mit ihr. Übergibt sie dem weißen Mann, der Versager sammelt.
NOMO
Großmutter zog die Weisheit voller Töpfe vor.
KUFU
Wenn du zum Regen sprichst, flattern dir Flügel in den Mund. Wenn du dem Regen zuhörst, fluten Flügel dir die Ohren.
TIZI
Weg mit ihm. Übergibt ihn dem weißen Mann, der Versager sammelt.
JEGE
Die Erde verschlingt alle Stimmen. Neue Worte sind Knochenfunde.
Die fünf Masken bilden einen intimen Kreis.
NOMO
Und? Wie war’s letzte Nacht?
TIZI
Es hat geregnet, Katzen und Hunde, Hammer und Nägel, und kein einziges Taxi weit und breit.
NOMO
Du hast bestimmt verängstigt ausgesehen.
JEGE
Ungünstige Zeiten. Die Touristensaison ist vorbei, die Volksfeste sind gefeiert, die Jahreszeit der Verkleidung hat noch nicht begonnen.
TIZI
Das Ausgehen ist so viel leichter während des Karnevals.
KUFU
Die einzige Zeit, zu der wir nicht auffallen.
JEGE
Wisst ihr noch, wie ich einem Besoffenen am Bahnhof verklickert habe, ich sei Museumsdirektor, verkleidet als eine seiner Masken.
NOMO
Umgekehrt wärst du aufgeschmissen. Du als Lieberberg, das könntest du nicht einmal einem Blinden unterjubeln.
JEGE
(äfft Lieberberg nach)
Nicht einmal, wenn ich meinen überdimensionierten Torso in die Gleichmäßigkeit realistischer Plausibilität eingliedere?
TIZI
Wer ist denn heute Nacht dran?
NOMO
Ich würde es gern verdrängen, aber ich bin an der Reihe.
KUFU
Du glückliche – Freitagabend!
NOMO
Was ist so wunderbar an Freitagabend?
KUFU
Die Einheimischen lassen die Sau raus …
BADA
Wo hast du denn diesen Ausdruck aufgelesen?
KUFU
Eher aufgegabelt, in einem Wirtshaus. Sie wollten mich verprügeln, bis ich mit lauter Stimme behauptet habe, ich sei der Prinz aus Nugustan und lade alle ein, zu trinken, so viel sie wollen.
NOMO
Und dann …?
KUFU
Dann haben sie vorbildlich die Sau rausgelassen.
NOMO
Wie hast du gezahlt?
KUFU
Mit Weggehen.
TIZI
Ach, die Magie des Wochenendes.
KUFU
Das soll ein Segen sein? Ich konnte mich letztes Mal vor lauter Drinks nicht retten. Wenn den Männern hierzulande eine Frau gefällt, wollen sie ihr unbedingt Alkohol schenken.
BADA
Betrachte es als Trankopfer.
NOMO
Ich will nicht mehr ausgehen, es hat keinen Sinn.
BADA
Hast du die Prophezeiung vergessen?
JEGE
Lass sie in Ruhe.
BADA
Ob zum Guten oder zum Schlechten, wir sind aufeinander angewiesen, bis wir unsere Zwangslage überwunden haben.
TIZI
Wir dürfen den Pfad der Prophezeiung nicht verlassen.
NOMO
Wieso. Es bringt doch nichts.
BADA
Weil wir einmal versagt haben, ein einziges Mal. Weil wir seitdem unser Bedauern herunterschlucken müssen.
TIZI
Solange wir die Hüter der Menschen waren, waren wir behütet. Wir wachten gemeinsam über das Gleichgewicht der Dinge.
NOMO
Ihr habt recht, die Pflicht ist uns ins Fleisch …
BADA
ins Holz …
NOMO
Ins Fleisch und ins Holz eingeschrieben. Es ist an mir, ich werde heut Nacht aufbrechen.
AKT [2] SZENE [1]
NOMO in der Stadt: Lichter, Werbungen, hektische Bewegungen, Türen, die sich zu einem merkwürdigen Rhythmus öffnen und schließen.
NOMO
Singt vor sich her.
My mother went to work the fields
My father went to drink away the yields
My brother went to study in a silent room
And I am busy waiting for my groom.
One day I will go to work the fields
My groom will go to drink the yields
Our son will study in a silent room
Our daughter will be waiting for her groom.
Eine U-Bahn-Station. Am Ende des Laufbands ein afrikanischer Musiker, der auf einer Gitarre klimpert. Als NOMO an ihm vorbeigeht, ruft er aus
SAM
Schwesta, lass ‘nen Blinden doch nicht so leiden!
NOMO
Woher weiß der Blinde, dass ich eine Schwesta bin?
SAM
Geruch, Gnädigste, Geruch.
NOMFAMA
Ich verwende kein Parfüm.
SAM
Ach Schwesta, deine Ignoranz ist reizend. Wusstest du nicht, dass Mann und Frau unterschiedlich riechen. Wusstest du nicht, dass der Dünne und der Dicke unterschiedlich riechen. Auch der Junge und der Alte riechen unterschiedlich. Die Augen kann man belügen, niemals aber die Nase.
NOMO
Was kannst du denn noch so erschnüffeln?
SAM
Ich erspüre einen Hauch von Afrika, viele Winter entrückt, bedeckt von einem miefigen Mantel. Aargh, lebst du denn in einem Kleiderschrank, Schwesta? Ich erspüre einen Hauch von Entrückung. Ich muss gestehen, selten gewährt mir der Geruch der Vergangenheit einen Schnupper der Zukunft.
NOMO
Du bist präzise in deiner Vagheit.
SAM
Sie nennen mich den Wundermann.
NOMO
Einige Winter entrückt von den Wundern der Jugend.
SAM
Ach Schwesta, du bist mir aber eine …
NOMO
Eine Hexe!
SAM (interessiert)
Wirklich?
NOMO
Werd jetzt nicht geil.
SAM
Wie gut du mich missverstehst, Schwesta.
NOMO
Ich bin gut damit gefahren, Männer misszuverstehen. All die Männer daheim, die von Hexenschössen träumen, wenn die Nacht ihnen ins Glied kriecht.
SAM
Da liegst du falsch. Zuhause streift das, was du gesagt hast, die Wahrheit, aber hier, in diesem eisigen Binnenland sind wir nur Geschwister …
NOMO
Jetzt klingst du fast wie jene, die sich blindlings an uns ergötzen.
SAM
Ruhig, Schwesta, immer langsam mit den jungen Pferden.
NOMO
Selbst du würdest mehr sehen als sie.
SAM
Natürlich, ich bin dein Bruder. Ein Sohn Mutter Afrikas. An ihrer warmen Brust großgeworden, als Kind gesegnet mit all dem, was schön und stark ist. Afrika fliesst durch meine Venen.
NOMO
Ich glaube kein Wort. Davon. Heb dir solches Geschwätz auf für jene, die dir Münzen zuwerfen.
SAM
Glaubst du etwa, ich bin von ihnen abhängig?
NOMO
Die Schale vor deinen Füßen, die spricht ein klares Wort.
SAM
Aber was ist drin? Kleingeld. Das was abfällt, wenn man die Hosentaschen vor dem Waschen leert. Glaubst du wirklich, dass ich mich für so was …
NOMO
Aber nein doch, wer verkauft sich denn je für Geld?
SAM
Stimmt also doch, das mit der Hexe. Du bist mir eine. Wie hast du dich eigentlich verlaufen?
NOMO
Ich habe alles verloren als ich das Wort des Vorstehers in Abrede stellte.
(zur Seite)
Als der Schnitzer uns Leben einhauchte, wurde ich gewarnt, nicht mit jenen gemeine Sache machen, die Lügen gebären. Der Schnitzer flüsterte: Masken, ihr habt wahr zu sein, und sonst nichts.
(wieder zu Sam)
Wie kann der Mutterleib, schrie ich, neun Monate lang eine Lüge austragen?
(zur Seite)
Ruhe dich nachts niemals aus, sagte der Schnitzer, sonst verlierst du deine Freiheit und deine Kraft.
(wieder zu Sam)
Sie sperrten mich ein. Sie untersuchten mich wie ein kaputtes Transistorradio. Der Lehrer, der Doktor, der Richter. Du bist so blind wie die Nacht, sagte der Arzt. Und du blendest mich mit deinen Lügen, sagte ich. Keine Nacht werde ich ruhen, ich schwor, bis zum Ende aller Blindheit.
SAM
Das ist eine Aufgabe! Bist du dem Versprechen treu geblieben?
NOMO (lächelt bitterlich)
Ja, bis auf einmal.
SAM
Bis auf einmal? Was soll das bedeuten?
NOMO
Egal! Was machst du denn hier? Schattenreiche ausleuchten? Hemmungen beseitigen? Weiße Frauen reanimieren?
SAM
Ich suche nach einem Lied, das ich vergessen habe. Es wird wiederkehren, dessen bin ich mir sicher.
NOMO
Hier?
SAM
Der Ort taugt mir so sehr wie jeder andere. Ich bin Missachtung gewohnt. Ich war schon früh eine Last für die Familie, das dauerte an, bis aus dem Ausland die Nachricht kam, dass einer unserer Söhne aufgeblüht war, in der Ferne. Mein Glück musste darin bestehen, woanders Aufnahme zu finden. Das gelobte Land roch nach frischer Farbe, im Haus meines Cousin-Bruders, der mich eine Woche lang verwöhnte. Ich hatte das Gefühl, ein lebenslanges Fasten gebrochen zu haben, aber ich wusste, das Fasten würde wieder einsetzen müssen.
NOMO
Wer war dein Vater?
SAM
Er war ein Chief.
NOMO
Was hat er dir beigebracht?
SAM
Er brachte mir alles bei, was er wusste. Er kleidete mich in seine fließende Weisheit. Die Namen derer zu kennen, die vor uns hergegangen sind, die Namen derer zu speichern, die vor uns die Geschicke der Menschen beeinflusst haben. Es war verwirrend, die Ahnen, die er im Mund führte, waren nicht die Ahnen, die uns in der Schule beigebracht wurden.
NOMO
Wurde er gehört?
SAM
Er konnte seine Berufung nicht nähren. Er hat Prüfungen abgelegt und mit Auszeichnung bestanden. Er beherrschte die Welt der Steuern, vom Thron eines Schreibtischs aus.
NOMO
Wurde er respektiert?
SAM
Man bot ihm Respekt an, wie eine weitere Bestechung. Die Größe seiner Schreibtischschubladen war die Summe aller Achtung.
NOMO
Trotzdem, er wurde respektiert. Er wurde nicht missbraucht, er wurde nicht vertrieben.
SAM
Wir haben keinen Respekt für einander, das ist unser Leid, Schwesta. Unsere Augen sind erblindet, so sehr haben sie sich an die Dunkelheit gewöhnt.
NOMO
Um die Stimmung zu heben, warum singst du nicht von besseren Zeiten.
Der Musiker hebt seine Stimme an, die Maske tanzt.
SAM
Unter allen Tieren
gibt es dieses hier:
Es findet Zuflucht im Haus
und im Baumwipfel.
Es lebt in Zimmern und
zwischen zwei Ästen.
Es ist weiser als die Eule,
sieht mehr als der Adler.
Es kriecht in alle Richtungen,
es hängt kopfunter.
Heim, sagt die Spinne,
ist das Netz, in dem ich stecke!
Am Ende des Liedes ist das Klappern von Münzen deutlich hörbar.
SAM
Das Geräusch von Regentropfen auf dem Blechdach. Dieses Lied aus alten Zeiten und dein betörender Tanz laden Segen ein. Du bist schon außer Atem?
NOMO
Müde von meinem Flug auf dem Rücken einer Hyäne.
(Sie lacht bitterlich)
Hör zu – ich habe einen Plan – verzeih mir, wenn ich zu aufdringlich bin, aber könntest du für mich und meine Freunde singen?
SAM
Wo?
NOMO
Im Museum der Masken. Ich muss noch klären, wie du hineinkommst. Wie kann ich dich denn erreichen?
SAM
Ich werde hier sein. Ich bin die tägliche Abzweigung. Tausende wechseln hier jeden Tag die Spur. Wenn sie meine Lieder hören, wissen sie, dass sie auf dem Sprung in die Vorstädte sind, oder zur Nachtschicht …
Dunkle Gestalten springen aus dem Nichts hervor, begleitet von einer Explosion, einem Schock für die beiden wie auch für das Publikum; die Gestalten überwältigen SAM und NOMO und zerren sie von der Bühne, während das Licht gedimmt wird.
AKT [2] SZENE [2]
Im Museumssaal. JEGE, TIZI, KUFU, BADA stehen zusammen, bilden eine Raute.
KUFU
Was für ein Albtraum.
TIZI
Warst du wieder Timbuktu?
KUFA
Ich war in zwei geschnitten. Meine Arme schwammen, meine Beine rannten. Meine Hände ballten sich, meine Füße streckten sich. Meine Finger waren abgewetzt, meine Zehen eingeschlafen.
JEGE
Wo ist Nomo?
BADA
Das fragst du seit Stunden.
JEGE
Bis ich eine Antwort erhalte.
BADA
Die Antwort richten sich nicht nach der Frequenz der Frage.
KUFA
Und wo sind die Menschen, die uns anstarren?
TIZI
Wo sind die Wärter?
BADA
Wo ist Lieberberg?
JEGE
Wo ist die Welt?
TIZI
Hat man uns vergessen?
JEGE
Dass sie uns anstarren ist mir immer noch lieber, als dass sie uns ignorieren.
TIZI
Sind wir denn überflüssig geworden?
KUFU
Gestern setzte sich ein junger Mann mir gegenüber und begann zu zeichnen und ich dachte, noch einer, der mich abzeichnet, so wie ich nicht bin, aber ich täuschte mich, denn als er seinen Block nach unten senkte, erkannte ich das Bildnis einer jungen Frau, die mir bekannt vorkam, eine junge Frau, die uns früher oft besuchte, die einige Zeit mit uns verbrachte.
TIZI
War es jene, die zum Abschied ein Foto von dir knipste.
KUFU
Ja, die meine ich. Er hat mich angeschaut, aber er hat diese Frau gezeichnet.
TIZI
Obwohl du ihr gar nicht ähnelst.
KUFU
Lass die dummen Sprüche. Er hat sie erkannt in mir, ich hatte das Gefühl, er hat auch mich gesehen.
BADA
Wir sollten lieber darüber reden, wie wir Nomo finden?
TIZI
Jege muss sie suchen.
JEGE
Ihr wisst doch, wie groß die Stadt ist. Ich bin einmal losgegangen und habe mir geschworen, erst mit dem Gehen aufzuhören, wenn ich das Ende der Stadt erreicht habe. Ich ging vorbei an kleinen Häusern und gewaltigen Mauern, gewundenen Gassen entlang und endlos geraden Strassen, das Ende der Stadt erreichte ich aber nicht. Bringe mich ans Ende der Stadt, bat ich einen Taxifahrer, und er fuhr mich zum Flughafen und er sagte: Um dorthin zu gelangen, wo du hinmöchtest, musst du fliegen.
TIZI
Jege muss sie suchen.
BADA
Vielleicht wurde sie geraubt!
KUFU
Von wem?
BADA
Einem der Professoren.
KUFU
Unsinn!
BADA
Einem Händler von Masken.
KUFU
So was gibt es nicht.
BADA
Von wegen.
JEGE
Hört auf, ich kann das Knattern euer Worte nicht mehr ertragen. Die Pflicht ist uns in die Haut geritzt und ins Holz eingeschrieben. Es ist an mir, ich werde heut Nacht aufbrechen. Vielleicht kann ich ja Nomo finden.
AKT [2] SZENE [3]
JEGE, SONIA
JEGE tritt in ein neonbeleuchtetes Fast-Food-Restaurant.
SONIA (sehr müde)
Was soll’s sein?
JEGE
Eine gute Frage. Eine ausgezeichnete Frage! Ich war nicht vorbereitet, wissen Sie, auf diese spezielle Frage.
SONIA
Menü?
JEGE
Es scheint – nach den Bildern über ihrem Kopf zu urteilen –, Sie bieten eine bestimmte Art von kohlensäurehaltigem Wasser an, das sich – ich bedauere, dies sagen zu müssen – kaum mit meinem Verstand verträgt.
SONIA
Der nächste!
JEGE
Finger food!
SONIA
Fisch?
JEGE
Fish erlaubt mein Name nicht.
(Pause)
SONIA
Was denn dann?
JEGE
Ich habe mich entschieden, ich wähle das „Herbstvergnügen“.
SONIA
Ketchup, Mayonnaise?
JEGE
Oh, heute ist Samstag, oder? Keine Eier erlaubt am Samstag. Tabus sind das Silberbesteck des guten Geschmacks.
SONIA
Ketchup! Extra Chips?
JEGE
Warten Sie: Was für ein Öl wird verwendet? Palm sollte es nicht sein und ich würde gerne auf Erdnuss verzichten. Kokus vielleicht? Hoffentlich?
SONIA
Hey, Bruno, was für ’n Öl verwenden wir? Was weiss ich. Guck doch mal aufs Etikett. Sonnenblume? Klasse. Es ist Sonnenblumenöl.
JEGE
Weil es mir unbekannt ist, werde ich es auf die Probe stellen.
SONIA
Alles?
JEGE
Ich vermute, ich kann jederzeit zurückkehren, um mehr zu bestellen, nicht wahr?
SONIEN
Ja, kommen Sie jederzeit wieder.
24 Stunden am Tag
7 Tage die Woche.
Solange Sie bezahlen.
Scheiße, ich fang schon an so zu reden wie Sie.
JEGE lächelt, ergreift sein Plastiktablett mit dem Essen und nimmt Platz, schaut SONIA an, während er isst, lächelt sie an. SONIA verschwindet, JEGE isst sehr langsam, jede Bewegung wie von langer Hand erwogen und wohl bedacht. SONIA kehrt von einer anderen Seite der Bühne zurück, nicht mehr in der Uniform des Fastfoodkonzerns gekleidet. Sie kommt an JEGES Tisch.
SONIA
Bitte entschuldige, dass ich so neugierig bin, aber das Outfit, das du trägst…?
JEGE
Seltsam, nicht wahr? Du fragst dich:
Ein Bandleader aus Kongo?
Ein Hexendoktor aus Bongo?
Oder ein seltsam verrückter Bewohner des Asylantenheims?
SONIA
Ich war nur fasziniert.
JEGE
Ich werde es dir sagen, aber nur, wenn du dich mir anschließt und Platz nimmst.
(SONIA setzt sich zu ihm an den Tisch.)
JEGE
Du siehst müde aus, du musst dich nach Schlaf sehnen.
SONIA
Ich kann nicht schlafen von Abenddämmerung bis Morgengrauen und nur dösen den Tag über. Aber was ist mit dir, du bist auch spät auf?
JEGE
Ich schlafe nur, wenn mich neonblinde Augen unerbittlich anstarren.
SONIA
Wenn es keinen Schlaf gibt, sind alle Dinge weit auseinander geraten.
JEGE
Das haben wir deiner Arbeit und meinem Schicksal zu verdanken.
SONIA
Arbeit? Nennst du das Arbeit? Ich frage, ich tippe, ich drehe mich um, ich rufe, ich suche, ich greife. Ich diene und bediene. Nie ein untätiger Moment – die Aufsicht hält mich auf Zack. Wenn der Kunde bestellt – nicht tratschen! Wenn ich serviere – nicht bummeln! Eine Uhr sticht mir die Ruhepausen ab. Ich diene und bediene.
JEGE
Wieso haust du nicht ab?
SONIA
Hier bin ich eine Null, das stimmt. Aber eine Null zu sein ist besser als nichts zu sein.
JEGE
Eine Null? Nur wenn du erlaubst, das andere dich so bezeichnen.
SONIA
Die mich zahlen.
JEGE
Und das soll dein Wert sein?
SONIA
Du gibst ihren den kleinen Finger, sie nehmen die ganze Hand.
JEGE
Handreichung, nennt man das nicht so? Aber worauf wartest du, was erhoffst du dir hier noch?
SONIA
Nichts.
JEGE
Das kann nicht sein. Was ist mit deiner Zukunft?
SONIA
Eingeschlafen, im Gegensatz zu mir. Übrigens, einige deiner Leute arbeiten hinten in der Küche.
JEGE
Meine Leute?
SONIA
Mal so geraten. Du hast mir ja noch nicht gesagt, wo du herkommst.
JEGE
Lass uns sagen: Ich bin ein Bewohner von Insomnia.
SONIA
Aber wo kommst du her?
JEGE
Aus den südlichen Provinzen.
SONIA
Klingt schön! Bestimmt ein Ort der Unschuld.
JEGE
Das stellst du dir nur so vor. Meine Großmutter bewohnte noch das Land deiner Träume. Ganze zweihundert Pfund reiner Liebe und Weisheit. Ich sass auf ihren Schenkeln wie auf einem Vulkan der Glückseligkeit. Sie erzählte mir Geschichten, zum Einschlafen, und einige, die mich hellwach hielten.
Der GRIOT erscheint.
GRIOT
Schildkröte ist ein besonnener Reisender, ein umsichtiger Reisender, er macht keine Sprünge, er geht kein Risiko ein. Langsam bewegt er sich, mit Mass. Ein Tag wie Blitz. Hase eilt vorbei und ruft ihm zu: Bist du eine Schnecke, dass du kriechst mit solcher Muße? Hase war voller Verachtung. Und er flitzte weiter. Eine Stunde später, Schildkröte erreichte eine Kurve der Strasse. Hase war nur noch Blut, über seinen Pelz liefen die Spuren eines LKW-Reifens.
SONIA
Was für eine schreckliche Geschichte, warum sollte irgendjemand so brutale Geschichten erzählen. (Pause) Lebt deine Großmutter noch?
JEGE
Sie ist gestorben. Ich war nicht im Dorf. Sie war zu alt, um vor der Dürre zu fliehen.
SONIA
Und deine Eltern?
JEGE
Mutter starb bei meiner Geburt, Vater wurde beim Schmuggeln erwischt. Ich kenne nicht mal den Ort des Gefängnisses, in das sie ihn geworfen haben.
SONIA
Aber das ist ja furchtbar! Gibt es etwas, was man tun kann?
JEGE
Unser Land ist verflucht.
SONIA
Verflucht? So ’ne Haltung wird dir nicht helfen, ihn zu finden! Hast du dich mal an das Rote Kreuz gewandt?
JEGE
Es war der letzte Abend der Feierlichkeiten. Wir waren überglücklich, wir waren geehrt worden von Gästen aus der Ferne, rotgesichtige Männer mit Fragen nach jedem Warum.
SONIA
Was ist das denn? Eine Erinnerung, ein Märchen – was erzählst du mir da?
JEGE
Als sich das Dorf zur Ruhe begab, in der tiefsten Furche der Nacht, sind auch die Masken eingeschlafen. Aber eine von ihnen hätte wach bleiben sollen, wie von der Prophezeiung vorgeschrieben.
SONIA
Masken, die wachen? Wir sprachen über deinen Vater …
JEGE
Während alle schliefen, entschlüpften die Rotgesichtigen ihrem trügerischen Schlaf, ein jeder ergriff eine der Masken und sie stahlen sich davon, um nie wieder gesehen zu werden. Unser Unglück begann.
SONIA
Und wo sind die Masken?
JEGE
Hier in der Stadt.
SONIA
Die Masken sind in dieser Stadt, die Masken, die deine Leute verloren haben? Kein Wunder, dass du nicht schlafen kannst. Du schmiedest Pläne, stimmt’s?
JEGE
Bislang konnten wir nichts tun.
SONIA
Das kann nicht dein Ernst sein, wie kannst du aufgeben? Es gibt doch bestimmt Wege, sie zurückzufordern. Soll ich dir helfen? Das geht doch gar nicht, dass euch was gestohlen wird und dann jahrelang nicht zurückgegeben wird.
JEGE
Ein Jahrhundert!
SONIA
Wie bitte?
JEGE
Nicht Jahre sind’s, sondern ein Jahrhundert. Es ist niemand am Leben, der sich damals schuldig gemacht hat.
Die Musikanlage des Fast-Food-Restaurants spielt einen weiteren Song. (Z.B. „African Reggae“ von Nina Hagen).
SONIA
Hey, ich mag diesen Song.
JEGE
Möchtest du tanzen?
Sie nickt zaghaft, beide stehen auf. Sie fangen an, zwischen den Plastiktischen zu tanzen, anfangs unbeholfen, aber allmählich verführt von der Musik und dem Rhythmus, die den künstlichen, kalten Ort in eine ländliche afrikanische Bar verwandeln. Sie tanzen zunehmend intimer. Dunkle Gestalten springen aus dem Nichts hervor, begleitet von einer Explosion, einem Schock für die beiden wie auch für das Publikum; die Gestalten überwältigen SONIA und JEGE und zerren sie von der Bühne, während das Licht gedimmt wird.
AKT [2] SZENE [4]
TIZI, SUNNY
In einem Striptease-Klub. Zwei oder drei Stripperinnen, die lasziv tanzen. TIZI und SUNNY treten gemeinsam ein.
TIZI
Ich muss Ihnen danken, dass sie mich an diesem brutalen Torwächter vorbeigeschleusst haben.
SUNNY
Du ziehst Probleme an, Mann, so wie du angezogen bist, wirst du über jeden Türsteher stolpern. Ethno chic ist total out, du musst deinen Stil echt mal updaten.
TIZI sieht sich verwirrt und fasziniert um. Sie setzen sich hin, studieren die Cocktailmenüs.
TIZI
Ich sehe dich Bruder, und was ich sehe, erfreut mich. Die Vorfahren haben dich gut genährt.
SUNNY
Sicher, alter Junge!
TIZI
Ich sehe dich, Bruder, und mein Herz ist voller Stolz. Sag mir, wie hast du dir diesen Reichtum erarbeitet?
SONNE
Ach, indem ich ermögliche.
TIZI
Das verstehe ich nicht.
SUNNY
Spielt keine Rolle. Hauch es weg. Keinen Deut wichtig. Bezahlt die Rechnungen. Auch solche, die nicht ausgestellt werden. Mehr musst du nicht wissen.
Die Getränke werden von einer der Tänzerinnen serviert, der Waffenhändler widmet ihr seine Aufmerksamkeit.
SUNNY
So! Hoch die Tassen, Chappie. Trinken wir auf Kissi!
TIZI
Erstaunlich, zwei Jungs aus ein- und derselben Nachbarschaft, weit weg von zu Hause.
SUNNY
Ich hab allerdings noch nie was von dir gehört?
TIZI
Du gehörst einer anderen Altersklasse an. Du sprichst merkwürdig, wo bist du aufgewachsen?
SUNNY
Weit von Zuhause entfernt. Ich war eine Last für meine Familie. Sie haben mich weggegeben, an jene, die Seelen sammeln.
TIZI
An die Weißen Väter?
SUNNY
Jesus segne sie, was haben die sich angestrengt, einen anständigen Christen aus mir zu machen. Haben mich geriegelt und gestriegelt mit dem Katechismus, haben mich gesponsert, die Bildung hoch und tief der Blick ins Glas. Haben mir geholfen, einen Job zu finden, dann das erste Gehalt, dann das zweite, der Rest flutschte nur so, Auto, Haus und Frauen.
TIZI
Frauen? Sagtest du nicht was von christlich?
SUNNY
Christlich bis in den Schwanz, Kumpel! Sei fruchtbar und vermehre dich.
TIZI
Und die Deinigen?
SUNNY
Nichtsnutze. Ich hab mich eines Tages vor lauter Mitleid auf die Suche nach meiner Familie gemacht. Ach, was war das für ein liebevolles Wiedersehen, mit dem lange Verlorenen, mit dem längst Vergessenen, der plötzlich mit einem großen Geschenkekoffer auftaucht. Im Handaufhalten waren wir fette Freunde, endlich Familie und so, sie haben mir sogar eine Kusine ins Bett gelegt, all die Parasiten um mich herum, mindestens drei Dutzend Blutsauger, und weisst du was, ein jeder von denen teilte großzügig mit mir, was mir allein gehörte.
TIZI
Aber du warst glücklich!
SUNNY
So glücklich wie ein Aas, der von Geiern gepickt wird. Nichts als Gier und Groll. Meine Stärke war denen selbstverständlich, ich war die Ziege, die man den ganzen Tag lang melken kann. Aber zum Glück bin ich rechtzeitig aufgewacht, um mich von dieser raffgierigen Umarmung zu befreien.
TIZI
Du hast dein Land verlassen, um nicht teilen zu müssen?
SUNNY
Du etwa nicht?
TIZI
Wir wurden verschleppt, wir würden gern wieder alles teilen.
SUNNY
Ach, was ist denn so schlimm an der Fremde. Ich kann das Jammern nicht ab, all diese nostalgischen Weicheier. Was du zurückgelassen hast, kannst du leicht ersetzen. Was du brauchst, findest du überall. Außerdem, wie mein Beichtvater zu sagen pflegte: Ein Chamäleon wird oft auf die Probe gestellt.
TIZI
Chamäleon? Das erinnert mich an einen Song, den damals alle gesummt haben.
Der GRIOT erscheint.
GRIOT
Jede Farbe kann als Kleidung dienen,
wenn du verstecken willst
wer du bist und was du suchst.
Jede Lüge kann als Tarnung dienen,
wenn du verbergen willst,
wer du bist und was du suchst.
Jeder Hafen kann als Heimat dienen,
wenn du verheimlichen willst
wer du bist ist und was du suchst.
SUNNY
Du bist ein Dichter, Mann, wunderbar, ich muss noch einen heben, für die Kapillaren. One for the road, one for the road.
Sie bestellen; in Kürze werden die Getränke von einer Stripperin serviert.
TIZI
Trink von dem Quell verwundeter Palmen.
SUNNY
Was soll das denn, worauf spielst du an?
TIZI
Nur so ein alter Trinkspruch.
SUNNY
Ach! Hier liegt zu viel Blei auf den Zungen. Feiern müssen wir. Was für ein Tag, was für ein Deal, ein Volltreffer, sag ich dir. Süß wie der Honig zwischen ihren Schenkeln (deutet auf eine der Stripperinnen) – noch ne Runde, wir müssen feiern.
TIZI
Was für ein Deal?
SUNNY
Mach dich locker, Alter! Was bist du nur für ein verkniffener Arsch.
TIZI
Was für ein Volltreffer?
SUNNY
Sicherheit. Umfangreiche Versorgung mit Sicherheit. Das Wichtigste, was es gibt, dieser Tage. Für mich fällt zwar nur ein Prozent ab, aber ein Prozent von Millionen, das kann sich sehen lassen. Noch ne Runde!
TIZI
Wer braucht Sicherheit?
SUNNY
Jeder, der was zu verlieren hat.
TIZI
Menschen, die sich hinter hohen Mauern verstecken, damit niemand sieht, was sie gestohlen haben? Womit befasst du dich genau? Alarmanlagen oder so?
SUNNY (lacht)
Wie unschuldig, wie süß.
(explodiert zu einem gewaltigen Lachen)
Wach auf, Mann, draußen scheint die Realität!
Summt.
SUNNY
Du erinnerst mich an einen Veteran des alten Krieges.
TIZI
Fünf gut eingepackte Masken drei Wochen unter einem Himmel aus Holz.
SUNNY
Er hatte irgendwo in weiter Ferne gedient, dort, wo sich die Sonne den Arsch abwischt, Burma oder so, er knuddelte die Medaillen auf seinem Hemd wie die vollen Brüste seiner Mutter.
TIZI
England oder Europa, wen interessiert’s! Wir wurden von Dieben empfangen, gekleidet in Anzügen aus einsamen Farben.
SUNNY
Er nahm ein Bündel Dokumente heraus, darin ne Plastikhaut mit seinem Gehaltsbuch. Er plapperte vor sich her und auf einmal rief er aus: Selbst Hitla fürchtete uns Löwen.
TIZI
Ein Begräbnis zu Hause ist besser als ein Fest in der Fremde. Wir wurden herausgeholt und an die Wand gelehnt und es kamen so viele und wir hörten, wie sie auf uns anstießen mit flachem Lob.
SUNNY
Sogar der mächtige Hitla hatte Angst vor uns! Bevor du seufzen konntest, zog sich der Alte das Hemd hoch, die Hose runter, was für ein Spektakel das war, alte Narben und neue Ausschläge.
TIZI
Tinker Tailor …
SUNNY
Soldier Sailor!
SUNNY, TIZI (zusammen)
Beggarman Thief!
TIZI
Was ist mit ihm passiert?
SUNNY
Er wurde auf der Straße erschossen.
TIZI
Warum war er auf der Straße?
SUNNY
Er wollte sich einmischen in Sachen, die ihn nichts angehen.
TIZI
Ich verstehe. Eine schlechte Zeit für Helden, eine gute Zeit für Diebe!
SUNNY
Was weißt du denn schon. Du hast eine schiele Art, die Dinge anzuschauen. Halt die Klappe und trink.
(er rülpst)
TIZI
Willst du deine Deals rechtfertigen?
SUNNY
Eine Regierung muss ihre Leute beschützen …
TIZI
Armeen auf beiden Seiten, eine Stadt inmitten ihrer Wut. Die Bomben fallen auf den Markt wie überreife Früchte des Todes. Wohin du auch fliehst, du wirst erschossen, als Verräter oder Spion oder Überläufer, erschossen mit den Instrumenten deiner eigenen Sicherheit.
SUNNY
Die Hersteller können nicht verantwortlich gemacht werden …
TIZI
Auf unseren Friedhöfen ist mehr Platz als in den Krankenhäusern.
SUNNY
… jemand muss die Drecksarbeit machen …
TIZI
Nur wenn wir in einer dreckigen Welt leben möchten. Du schuldest sehr viel Schuld.
SUNNY
Deine Weisheit ist was für Feiglinge.
TIZI
… meine Weisheit sagt mir, dass ich keinen weiteren Drink mit einem Komplizen des Mords …
Beide springen auf, die Fäuste geballt. Ein Pfeifton. Schreie – „Razzia, Razzia“. Dunkle Gestalten springen aus dem Nichts hervor, begleitet von einer Explosion, einem Schock für die beiden wie auch für das Publikum; die Gestalten überwältigen SUNNY und TIZI und zerren sie von der Bühne, während das Licht gedimmt wird.
AKT [2] SZENE [5]
Licht dunkler als in den drei Szenen zuvor.
KUFU, TIMBUKTU, POLIZIST
KUFU geht auf einem Friedhof umher, hält vor einem markanten Grabstein, holt einen rituellen Gegenstand heraus, legt ihn auf das Grab und ruft ihre Vorfahren herbei.
KUFU
Vater und Väter meines Vaters,
Ihr habt den Rhythmus geschlagen
zu meinem müden Lebenstanz.
Ihr habt meine Hoffnung genährt
in den Niederungen der Verzweiflung.
Jeder weiß, dass die Zeit kommen wird,
vom Wind weggeweht zu werden,
von den Gezeiten fortgetragen zu werden.
Ob es heute geschieht, ob es morgen geschieht,
ich schließe mich eurem Kreis an.
GRIOT (unsichtbar)
Tochter und Töchter meiner Tochter.
Wir hören deine Stimme,
Wir hören deine Anrufung,
wir freuen uns und ängstigen uns.
Wir weilen nicht länger auf Feldern der Fülle,
wir bewohnen den Horizont des Schmerzes.
Aus der Welt ist etwas geworden,
das wir nie gekannt haben.
Wir verblassen, wir sterben, denn niemand
weiss unsere Namen zu nennen.
Wir sind einsam, wir sind schwach,
Wir bestaunen die Leere des Landes.
In den Büschen raschelt es, KUFU ist erschrocken, sieht sich um. Unweit sitzt Timbuktu und spricht zu sich.
TIMBUKTU
Vater. Mit seinen zwei Zollstöcken Weisheit in den Händen.
Dirigierte unsere Erziehung wie ein Polizist den Verkehr an einer
dichtbefahrenen Kreuzung. In der Uniform seiner Rechtschaffenheit,
mit der Trillerpfeife der Tradition.
Ich habe ihn irgendwann einmal nicht mehr gesehen.
GRIOT (unsichtbar)
Perform …
TIMBUKTU
Schweig! Sei endlich still. Dein Rat ist längst verfallen.
So einfach soll alles sein?
GRIOT (unsichtbar)
Perform …
TIMBUKTU
Lass mich in Ruhe. Ich habe die Nase voll von deinem Geschwätz.
Glaubst du denn selbst daran? Wer hat dir am Ende denn noch zugehört?
Es sollte dein großer Tag werden, du warst ins Fernsehstudio eingeladen,
die Würdigung, die so lange ausgeblieben war, stand endlich bevor.
Du hast dich tagelang vorbereitet.
Du hast dein Gewand zweimal waschen lassen, du hast kaum gegessen,
du hast gebetet und geübt mit dem Eifer eines Webervogels zur Balz.
GRIOT (unsichtbar)
As if it were a holy act …
TIMBUKTU
Ich sollte dich begleiten, ich war der Träger deines Instruments
und deiner Zuversicht. Du sasst aufrecht im Bus, als sei der Fahrer
dein persönlicher Chauffeur. Du hast die Augen geschlossen und
das Stück gehört, das du vortragen würdest.
Du konntest die innere Stimme stets klarer hören, als alles,
was dich von außen bedrängte.
Es gab keinen Empfang,
nur eine junge Frau mit starker Schminke, die uns den Weg wies.
Wir mussten in einem Gang Platz nehmen auf zerbrochenen Plastikstühlen.
Du sasst auf einem von ihnen wie auf einem Richtersessel.
Du wurdest hereingerufen. Sie müssen dir eine Zeitvorgabe gemacht haben.
Ich weiss nicht, vielleicht hast du diese vergessen,
vielleicht hast du sie absichtlich missachtet,
du hattest gerade deine viel zu lange Einführung beendet,
da hat der Moderator dir ein Zeichen gegeben, aber du hast weitergespielt …
GRIOT (unsichtbar)
It is a holy act …
TIMBUKTU
… der Moderator fuchtelte, du hast mit fester Stimme gesungen,
er rief dazwischen: Wir danken dem Meister, wir danken dem großen Meister.
Ich bin noch nicht fertig, hast du laut widersprochen.
Und nun zur Werbung, sagte der Moderator, du warst
nicht mehr zu sehen auf dem Bildschirm, vor meinen Augen und Ohren
hast du gespielt wie nie zuvor, auf dem Bildschirm erfreuten sich
drei Kinder an den Segnungen der Margarine.
Du hast zu Ende gespielt, alle haben dich ignoriert, außer ich,
ich habe mich geschämt und dich bewundert zugleich,
dann bist du aufgestanden, in Würde, hinausgegangen,
ohne die anderen zu beachten, ohne mich zu beachten,
im Bus hat dich dein eigenes Schweigen schrumpfen lassen,
zu Hause haben sich Geröllhalden der Abweisung aufgetürmt.
Nie wieder hast du gesungen.
KUFU
Es sind so viele, die nicht mehr singen. Sie zertrümmern Steine, Felsen zu großen Steinen, große Steine zu kleineren Steinen, die Hammer in ihren Händen zertrümmern Steine, Säcke voller Steine. Das ändert an dem Steinschlag nichts.
TIMBUKTU
Bist du auch herkommen, um Abschied zu nehmen?
KUFU
Er nimmt kein Ende, dieser Abschied, er lähmt mich. Egal, wohin wir kommen, ob wir überleben oder vergehen, ob wir einen Ort finden, wo wir ohne Angst lachen und singen und flunkern können, ich kann nicht die Opfer vergessen. Wir könnten im Paradies landen und feststellen, das Paradies wird von Vernunft und Liebe regiert, und wäre das nicht eine Überraschung, selbst dann könnte ich kein Glück empfinden, weil ich niemals vergessen kann, was Aberglaube und Hass und Gewalt angerichtet haben, weil ich ihren tödlichen Sieg einmal erlebt habe, weil ich einmal das Unglück all meiner Brüder und Schwestern erleiden mußte. Selbst wenn die Zukunft aufleuchtet, das Schicksal hat mich zu einer unheilbaren Zeugin gemacht.
Plötzlich wird KUFU von einem Polizisten überwältigt, ihre Arme hinter ihrem Rücken gebeugt, Handschellen angelegt und zu Boden geworfen. TIMBUKTU rennt davon. Der Polizist spricht in sein Funkgerät.
POLIZIST
Ich habe eine Verdächtige geschnappt, ich wiederhole: Ich habe eine Verdächtige dingfest gemacht, die trieb sich auf dem Friedhof herum mit einem anderen, der hat sich aus dem Staub gemacht, ich bring sie rein. Over!
KUFU stöhnt, der Polizist tritt sie.
POLIZIST
Ruhe! Noch eine von diesen verdammten Illegalen.
Wo die sich überall verstecken! In der U-Bahn, beim Imbiss, im Cabaret, diese Woche haben wir sie aber auch überall aufgeschnappt.
Selbst auf dem Friedhof.
Die haben keinen Respekt. Vor nichts.
Wie sollen wir die je wieder loswerden.
AKT [3] SZENE [1]
Am nächsten Morgen im Museum. LIEBERBERG betritt den Maskenraum, sichtlich wütend.
LIEBERBERG
Und dann noch der Streik, drei Tage, drei verschwendete Tage, für nichts und wieder nichts, es haben nicht wenige angerufen, um sich zu beschweren …
Plötzlich merkt er, dass vier der fünf Masken fehlen. Er rennt von einer Wand zur anderen.
LIEBERBERG
Wie kann das sein?
Das kann nicht sein!
Gestohlen.
Mein Lebenswerk!
Diebstahl!
Er berührt instinktiv das Gesicht der letzten verbliebenen Maske. BADA erwacht zum Leben. LIEBERBERG merkt es zunächst nicht.
LIEBERBERG
Die Masken! Meine Masken …
Wie kann das sein?
Das kann nicht sein!
Mein größter Schatz, geraubt, geraubt!
Er ergreift das hauseigene Telefon an der Wand.
LIEBERBERG
Alarm … rufen Sie die Polizei … jetzt, sofort.
Er dreht sich um, es dämmert ihm allmählich, dass die Maske im Raum steht, und er erstarrt, als sie zu sprechen beginnt.
BADA
Ich bin aus Holz, ich bin aus Fleisch.
Ich tanze stets und bin ewig still.
Ich höre alle Stimmen, aber meine wird nie vernommen.
Ich hoffe wie ein Mensch, ich vertraue als Maske.
LIEBERBERG
Sie spricht, mir geht eine Stimme durch den Kopf, das muss der Schock sein …
BADA
Wir hatten immer eine Stimme, wir haben immer zu dir gesprochen. Du hast uns die falsche Aufmerksamkeit geschenkt. Und nachts haben wir getan, was wir schon immer getan haben, wir sind hinausgeschlüpft, auf der Suche nach einer Verbindung zwischen unseren Sehnsüchten und unseren Pflichten.
LIEBERBERG
Das ist der Wahn, der zu mir spricht, diese verschlagene Stimme, die ist zu deutlich, so deutlich spricht kein Mensch. Kein Mann, keine Frau.
BADA
Mein Schicksal ist nicht Illusion, ebenso wenig meine wechselnde Gestalt.
Das Telefon läutet. BADA blickt auf LIEBERBERG, der nicht reagiert, also nimmt BADA ab, hört zu und wiederholt lautstark einige der Informationen.
BADA
… keine Hinweise … was? … Illegale? … behaupten, Masken zu sein? … behaupten, aus dem Museum zu sein? … na sowas … ja, die Adresse bitte … wir werden gleich dort sein.
BADA geht zu LIEBERBERG, nimmt ihn an der Hand und zieht ihn hoch.
BADA
Komm schon, wir haben noch einiges zu tun!
Sie gehen gemeinsam raus.
AKT [3] SZENE [3]
TIMBUKTU
Ich werde mich stellen, Vater. Ich kann nicht mehr.
GRIOT
Nein! Man wird dich abschieben.
TIMBUKTU
Das kann kein schlimmeres Schicksal sein.
GRIOT
Das denkst du dir so. Das hört sich an wie nach Hause bringen. Vor dem väterlichen Haus absetzen. Aber dein Vater will dich nicht dort. Dein Vater ist nicht mehr dort. Dort ist nichts mehr für dich.
TIMBUKTU
Hier auch nicht.
GRIOT
Abschieben, das ist eine dreistündige Fahrt in die Öde. Das ist ein Halt, irgendwo. Das bedeutet: raus mit dir. Das bedeutet: eine Staubfahne, der du hinterher starrst. Dann fängst du an mit dem restlichen Sterben. Du versuchst zu erraten, in welche Richtung es zur Rettung geht. Du läufst los. Du gräbst dich tagsüber ein, du trinkst dein eigenes Urin. Abschieben, das hat noch keiner überlebt.
TIMBUKTU
Du übertreibst.
GRIOT
Ich habe es mit eigenen Augen erlebt, mein Sohn. Sie kamen in die Stadt, eines Tages einfach so, ohne Ankündigung. Sie waren am Flughafen ausgesetzt worden. Sie liefen sich die Sohlen blutig, bis sie das Dorf ihrer Herkunft erreichten. Sie behaupteten, unsere Stadt sei das Dorf ihrer Herkunft, aber niemand konnte sich an sie erinnern, so lange waren sie fort gewesen. Sie nannten ihre Namen und so wussten wir, welcher Familie sie angehört haben mussten. Aber die Familien, die waren alles andere als erfreut. Die Rückkehrer, das waren Versager. Wieso seid ihr nicht reich zurückgekommen?, wurden sie gefragt. Was habt ihr dort so lange getrieben, wenn ihr nichts erreicht habt?, wurden sie gefragt. Selbst die Kinder machten sich lustig über sie. Sie wurden krank im Kopf. Sie bestanden darauf, Masken zu sein. Sie trugen ihre eigene Bedeutung auf der Zunge. Sie wurden in das Haus der Spritzen und Fesseln gebracht.
TIMBUKTU
Musst du immer düstere Geschichten erzählen. Kannst du mir nichts Erbauendes sagen.
GRIOT
Sie wurden begleitet von einem schmächtigen Fremden, der viel Worte machte. Er blieb bei Ihnen, er kümmerte sich um sie, er zahlte den Tee, den sie tranken, er teilte mit ihnen sein Fladenbrot. Ich hatte den Eindruck, nur er verstand sie, und sie ließen sich von ihm verstehen. Finde solche Menschen, mein Sohn, die dein Schicksal mit dir teilen …
Längeres Schweigen
TIMBUKTU (leise)
Perform
My father said.
Perform as if …
GRIOT
Lass es gut sein, mein Sohn, lass es gut sein.
Es gibt keine neuen Geschichten …
TIMBUKTU
Nur neue Ohren für alte Geschichten.
SHARE