18-06-2023
Weitere Spannungen an armenisch-aserbaidschanischer Grenze
Wie schon bei der Blockade des Latschiner Korridors, der einzigen Landverbindung zwischen den Republiken Armenien und Arzach, benutzt Aserbaidschan den Umweltschutz als Vorwand, um gewaltsam gegen seine armenischen Nachbarn vorzugehen.
„Ich habe das Recht, Armenisch zu bleiben!“ Kinder in Arzach appellieren an internationale Einrichtungen und bitten um Unterstützung. (Foto:Ani Balayan, Civil.net)
Von Tessa Hofmann
Das kleine armenische Grenzdorf Jeraskh geriet zwischen dem 12. und 14. Juni 2023 drei Mal unter aserbaidschanischen Beschuss. Zwei dort tätige indische Bauarbeiter wurden verletzt. Sie arbeiteten beim Bau einer Metallschrottanlage, gegen deren Errichtung der aserbaidschanische Umweltminister protestierte. Wie schon bei der Blockade des Latschiner Korridors, der einzigen Landverbindung zwischen den Republiken Armenien und Arzach, benutzt Aserbaidschan den Umweltschutz als Vorwand, um gewaltsam gegen seine armenischen Nachbarn vorzugehen.
In den letzten Wochen haben die Spannungen in der Region wieder zugenommen, wobei sich beide Länder fast täglich gegenseitig beschuldigen, die Waffenstillstandserklärung von 2020 zu verletzen. Am Dienstag warnte das armenische Außenministerium, Aserbaidschan bereite „den Boden für weitere Aggressionen“ in der Region. Während Gewaltausbrüche in den Grenzgebieten regelmäßig armenische und aserbaidschanische Opfer fordern, geschieht es äußerst selten, dass ausländische Staatsangehörige entlang der nicht genau definierten Grenze der beiden Länder verletzt werden.
Warum Jeraskh?
Jeraskh liegt an der Westgrenze der Republik Armenien, nahe der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan. Anfang Juni 2023 bestätigte Armenien, dass in Yeraskh ein „großes armenisch-amerikanisches Hüttenwerk“ gebaut werden soll. Die investigative Zeitschrift Hetqnannte als Eigentümer der Anlage den US-Bürger Bobby Kang und den armenischen Staatsbürger Grigor Ter-Rasarjan.
Vorige Woche verurteilte das aserbaidschanische Umweltministerium das Projekt mit der Begründung, das Stahlwerk werde „die Umweltsicherheit der Region beeinträchtigen“ und verstoße gegen ein Übereinkommen der Vereinten Nationen, das mögliche grenzüberschreitende Umweltschäden regelt.
Das armenische Umweltministerium wies diese Behauptungen als „unbegründete“ Anschuldigungen zurück, deren „einziger wirklicher Zweck … darin besteht, die wirtschaftliche Entwicklung Armeniens zu behindern“.
Darüber hinaus bildet Jeraskh die Endhaltestelle einer stillgelegten Eisenbahnstrecke aus der Sowjetzeit, die Armenien über Nachitschewan mit Aserbaidschan verbindet. Anfang dieses Monats trafen sich die stellvertretenden Ministerpräsidenten Armeniens, Aserbaidschans und Russlands in Moskau zu Gesprächen über die Wiederinbetriebnahme dieser Eisenbahnverbindung.
Trotz angeblicher Fortschritte bei diesem Treffen haben armenische und aserbaidschanische Beamte seitdem widersprüchliche Erklärungen zu diesem Thema abgegeben, was darauf hindeutet, dass weiterhin erhebliche Meinungsverschiedenheiten bestehen.
Am Wochenende erklärte der stellvertretende aserbaidschanische Ministerpräsident Schahin Mustafajew, Russland werde die Kontrolle über die Bahnstrecke übernehmen. Sein armenischer Amtskollege, Mher Grigoryan, konterte umgehend, dass „keine solche Vereinbarung“ getroffen worden sei.
In der Waffenstillstandserklärung, die Aserbaidschans völkerrechtswidrigen Angriff auf Arzach (Berg-Karabach) im Jahr 2020 beendete, vereinbarten Jerewan und Baku, „alle Wirtschafts- und Verkehrsverbindungen in der Region“ wieder zu öffnen. Der vom Kreml vermittelte Waffenstillstand besagt, dass russische Grenzschützer für die Überwachung dieser Verbindungen verantwortlich sein werden.
Armenien schätzt, dass die Instandsetzung seiner Eisenbahnabschnitte mehrere Jahre dauern und Hunderte von Millionen Dollar kosten wird.
Auswirkungen auf Arzach
Die anhaltenden Spannungen zwischen Aserbaidschan und der Republik Armenien haben auch die Lage in Arzach noch einmal verschärft. Die Region, deren völkerrechtlicher Status seit dem Zerfall der UdSSR ungeklärt ist, die sich aber weiterhin de facto in Unabhängigkeit von Aserbaidschan und Armenien befindet, ist seit dem 12. Dezember 2022 einer Blockade Aserbaidschans ausgesetzt. Am 15. Juni 2023 beschossen sich aserbaidschanische und armenische Streitkräfte an der Hakari-Brücke (nahe dem Dorf Ter) am Zugang zum Latschiner Korridor, dem von Aserbaidschan blockierten Zufahrtsweg nach Arzach. Das Internationale Rote Kreuz, das bisher Medikamente – wenn auch nicht in genügendem Umfang – nach Arzach beförderte und von dort Schwerstkranke in die Republik Armenien ausfuhr, wird seither von Aserbaidschan an der weiteren Versorgung Arzachs gehindert.
Die anhaltende strenge Blockade von Artsakh, die zunehmenden Drohungen mit Gewaltanwendung bis hin zum Genozid sowie die Geiselhaft für die 120.000 Einwohner von Artsakh beeinträchtigen die Aussichten auf die Aufnahme eines echten Dialogs zur Erörterung einer politischen Lösung des Konflikts zwischen Aserbaidschan und Arzach, so das Außenministerium von Arzach (Bergkarabach) in seiner nachfolgenden Erklärung:
„Im Zusammenhang mit den aufrüttelnden Medienberichten über die Bemühungen um einen Dialog zwischen Stepanakert und Baku, die kürzlich in einigen russischen Medien unter Berufung auf ungenannte diplomatische Quellen veröffentlicht wurden, halten wir es für notwendig, Folgendes zu erklären:
Die Republik Arzach besitzt das größte Interesse an einer umfassenden Lösung des Konflikts mit Aserbaidschan durch Dialog und friedliche Verhandlungen, um einen dauerhaften und gerechten Frieden in der Region zu schaffen.
Nach dem Ende des 44-tägigen Krieges hat es bereits Versuche solcher Kontakte gegeben, um eine Reihe von dringenden Fragen zu lösen. Insbesondere fanden unter Vermittlung des russischen Friedenskontingents mehrere Treffen zwischen den Vertretern Arzachs und Aserbaidschans statt, bei denen humanitäre, infrastrukturelle und andere technische Fragen erörtert wurden, um die Bedingungen für ein normales und friedliches Leben der Menschen zu gewährleisten. Vor der Blockade von Arzach durch Aserbaidschan konnten dank der unter Vermittlung des russischen Friedenskontingents abgehaltenen Treffen konkrete Ergebnisse beider Identifizierung des Schicksals von Vermissten und der Suche nach den Überresten vonToten, der Gewährleistung des normalen Funktionierens lebenswichtiger Infrastrukturen, der Organisation landwirtschaftlicher Arbeiten und anderer Themen erzielt werden. Das letzte Treffen in diesem Format fand am 1. März 2023 statt, bei dem Fragen im Zusammenhang mit der Beendigung der Verkehrs- und Energieblockade von Arzach erörtert wurden. Die aserbaidschanische Seite weigerte sich jedoch zunächst, die während des Treffens getroffenen Vereinbarungen umzusetzen, und griff dann zu verschiedenen Provokationen und aggressiven Aktionen, wobei sie alle weiteren Vorschläge der Republik Arzach zur Fortsetzung der Treffen in diesem Format konsequent ablehnte.
Die Behörden der Republik Artsakh haben wiederholt erklärt, dass es für die Wiederaufnahme des Friedensprozesses notwendig ist, das international anerkannte Verhandlungsformat wiederherzustellen, das es ermöglicht, alle Streitigkeiten und Differenzen auf der Grundlage der Prinzipien von Treu und Glauben, Zusammenarbeit und Gleichberechtigung der Parteien zu diskutieren. Gleichzeitig muss dieser Mechanismus integrativ und repräsentativ sein und über das Potenzial und die Autorität verfügen, die Umsetzung der erzielten Vereinbarungen und der von den Parteien eingegangenen Verpflichtungen zu gewährleisten.
Wir sind davon überzeugt, dass sich die Rolle der internationalen Vermittler nicht darauf beschränken sollte, gute Dienste zu leisten, sondern auf eine aktivere Beteiligung am Prozess der Suche nach fairen, ausgewogenen und tragfähigen Lösungen für bestehende Probleme abzielen und günstige Bedingungen für die Zusammenarbeit zwischen den Parteien schaffen sollte.“
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