08-11-2021
„Weißes Argentinien?“ – Gründlich ethnisch gesäubert
Von Wolfgang Mayr
In Argentinien herrscht 500 Jahre nach der Eroberung und der 200-jährigen Unabhängigkeit noch immer Krieg gegen die Ureinwohner. Die argentinische Staatsideologie schweigt die Menschen vor der europäischen Invasion tot, Argentinien ist weiß, europäisch. Gleichzeitig geht der Staat gegen aufbegehrende indigene Gruppen vor.
Im Sommer empfing Staatspräsident Fernandez den spanischen Ministerpräsidenten Sanchez in Buenos Aires mit den Worten: „Die Mexikaner kommen von den Indios, die Brasilianer aus dem Busch und wir Argentinier von den Booten“, berichtete der Nachrichtenpool Lateinamerika, der präsidiale Sager ein Ausdruck eines gepflegten rassistischen Weltbildes.
Der Mapuche-Sprecher Mauro Millán reagierte empört auf den Staatspräsidenten: „Wir Indigenen sind nicht unter einem Stein, aus dem Regenwald oder irgendeinem Gebirge hervorgekrochen. Wir waren schon vor tausenden von Jahren hier, mitsamt unseren eigenen Regeln, Strukturen und Kenntnissen über die Welt, in der wir leben. In diesem Gebiet gab es mehr als fünf Millionen von uns, als man mit Booten kam und unsere Lebensweise unterjochte.“
Millán übte grundsätzliche Kritik am Geschichtsbild des argentinischen Staatspräsidenten: „Der argentinische Staat wurde auf der Grundlage von Regeln, Strukturen, Sprache, Religion und Ideologien gegründet, die aus Europa stammen. Doch dieser Gründungsakt resultierte in einer der schmerzhaftesten Tragödien, die sich je auf diesem Gebiet ereignet haben: Hunderttausende ermordete, verschleppte, versklavte und ihrer Heimat beraubte Indigene. Dies geschah keineswegs als Vereinbarung zwischen der indigenen Bevölkerung und den hier geborenen europäischen ArgentinierInnen … Das Schreckliche ist, dass eine Ideologie des Hasses mitgebracht und hier etabliert wurde: eine Ideologie, die auf Ausbeutung, Invasion, Aneignung und Privileg beruht.“
Rassistisches Argentinien
Mauro Millán, Lonko Mapuche des Lof pillan mawiza, wirft Präsidenten Fernandez vor, das Projekt eines „weißen Argentiniens“ zu verfolgen. Ein Projekt, das ohne ständige Gewalt gegen die indigenen Bevölkerungen nicht umsetzbar ist: „An uns Indigenen, die überlebt haben und auf unserem Boden wieder aufgestanden sind, wie es die Geschichte der Mapuche besagt. Die Äußerungen des Präsidenten offenbaren die politischen Absichten uns gegenüber und verdeutlichen, warum wir nicht auf der Agenda der Diplomatie, wohl aber auf der Agenda von Justiz und Sicherheit stehen. Egal, ob rechts, Mitte oder Mitte-links: die Ideologie der Verleugnung ist die gleiche. Unsere nationale Identität wurde nicht abgestimmt, sondern aufgezwungen, und der erste Gründungsakt des argentinischen Staats war die Aneignung unserer Gebiete.“
US-Präsident Biden hat am 12.Oktober dazu aufgerufen, den Kolumbus-Tag anders zu begehen, in Erinnerung an vertriebenen, assimilierten oder ermordeten Ureinwohnern. Der Papst forderte Spanien auf, sich für die Massenmorden der Konquistadoren zu entschuldigen. Die Kolumbus-Fans sind sauer auf Biden, die rechten Spanier auf den Papst.
Der Mapuche Millan hält dem angeblich weißen Argentinien seinen Spiegel vor: „Die spanische Eroberung und Kolonisierung basiert auf der Leugnung des minderen Anderen. Unwissenheit und die Angst vor dem Anderen sind Ursprung von Rassismus, dem ideologischen Freibrief für Überlegenheit und Unterjochung. Können wir heute ein freies, gerechtes und souveränes Land sein, während Grundbesitzer, multinationale Konzerne und Finanzunternehmen die Territorien beherrschen und die Wirtschaft kontrollieren?“
Millan nennt Argentinien rassistisch, schon der Gründer der Republik, Präsident Faustino Sarmiento, war ein Mörder und Rassist, sagt Millan. Er soll Massaker an der indigenen Bevölkerung in Auftrag gegeben haben. Die Eroberer schrieben die Geschichte ihres Sieges, die Verlierer kommen darin nicht vor, stellt Mauro Millan fest. Und warum, fragt sich der Mapuche-Sprecher, bezeichnet sich der amtierende Staatspräsident als Europäer, wie sein Vorgänger Carlos Menem auch.
„Stolz auf Indigenas?“
Präsident Fernandez wunderte sich über die Kritik an seinem Schiff-Sagers und versuchte sich dafür zu entschuldigen. Er verwies stolz darauf, dass Mitte des 20. Jh. mehr als fünf Millionen Menschen aus Europa, Asien und aus dem Mittleren Osten nach Argentinien gekommen sind. Diese hätten mit „unseren ursprünglichen Bevölkerungsgruppen zusammengelebt“, twitterte der Staatspräsident und er ist „Stolz auf diese Vielfalt“.
Der Mapuche Millán hat dieser kolonialistischen Erzählung seine Geschichte entgegengesetzt: „Erstens gehören wir niemandem. „Unsere Indigene“ oder „unsere ursprünglichen Bevölkerungsgruppen“ beinhaltet eine paternalistische Perspektive, die im fortschrittlichen Menschenrechtssektor sehr weit verbreitet ist und die wir bereits mehr als leid sind. Zweitens gab es Mitte des 20. Jahrhunderts kein sogenanntes Zusammenleben. Von den 1920er bis zu den 1950er Jahren fanden systematische und sehr gewaltsame Vertreibungen statt. Wir hatten gerade einen Ausrottungsversuch erlitten, und dennoch waren wir dabei, unsere Wirtschaft wieder aufzubauen und unsere alte Kultur zu stärken, als der Staat erneut eine Welle von Vertreibungen auslöste. Für uns Mapuche Tehuelche waren diese Jahrzehnte der „Mitte des 20. Jahrhunderts“ eine Katastrophe; es waren Jahre voller Traurigkeit. Mit der Ausweitung der Viehzucht und der erneuten Zuwanderung legitimierte der Staat massive Vertreibungen von Tehuelche Mapuche-Gemeinschaften und anderen indigenen Gruppen im Rest des Landes.“
Seit der Rückkehr der Demokratie hat sich an der kolonialen Lage für die indigenen Völker wenig geändert. Die Rückgabe der Territorien findet nicht statt, die Forderung nach Wiedergutmachung für die Völkermorde wird ignoriert. Der Mapuche Millan spricht gar von einer systematischen Unterdrückung und verweist auf die Ermordung von indigenen Jugendlichen und AktivistInnen. Und, die Gefängnisse sind überfüllt mit Menschen nicht-europäischer Herkunft.
Die Rückgabe der Territorien an die Indígenas, verbunden mit einer Agrarreform könnte ein Anfang sein, wirbt Millan für eine neue Politik. Millionen Menschen, die in den Elendsvierteln leben, hätten Zugang zu Land, Ernährungssouveränität und einem würdigeren Leben. Ein plurinationaler Staat ist keine Utopie. Das Zusammenleben verschiedener Kulturen ist der Traum von Millionen.
Argentinien – der Wilde Westen im Süden
Die Fakten sind aber alles andere als optimistisch stimmend. Wenige Stunden nach dem Präsidenten-Treffen wurde im nordargentinischen Chaco, recherchierte der Nachrichtenpool Lateinamerika, Qom José Lago von Polizisten getötet. Die schießenden Polizisten gingen straffrei aus. Wie schon 2017. Damals erschossen Polizisten den Mapuche-Aktivisten Rafael Nahuel. Auch dieser Mord blieb ungestraft, sagt Millan dem Journalisten Nilo Cayuqueo der Zeitung ANRed. Die Folgen des rassistischen Traums der weißen Nation Argentinien, folgert Millan.
Der argentinische Staat kümmert sich wenig um die indigenen Rechte in staatlichen und internationalen Gesetzen. Die Regierung fördert stattdessen Investitionen multinationaler Unternehmen, umschreibt Millan die Handlanger-Tätigkeit des argentinischen Staates. Diese Unternehmen plündern und verseuchen Gebiete indigener Völker, klagt Mapuche-Oberhaupt Mauro Millán an. Staat und Justiz decken mit ihrem Agieren die Plünderei und die indigenen Proteste dagegen werden kriminalisiert.
Quellen: ANRed; Nachrichtenpool Lateinamerika; Autoren: Nilo Cayuqueo und Mauro Millán, Lonko Mapuche des Lof pillan mawiza.
ANRed in Spanish (español) Press Agency of Argentina (pknewspapers.com)
Mapuche
Die Mapuche sind eine Gruppe indigener BewohnerInnen der heutigen zentralen und südlichen Regionen von Chile und des südwestlichen Argentiniens, einschließlich Teilen Patagoniens. Der Sammelbegriff Mapuche bezieht sich auf eine breit gefächerte Ethnie, die sich aus verschiedenen Gruppen zusammensetzt, die eine gemeinsame soziale, religiöse und wirtschaftliche Struktur sowie ein gemeinsames sprachliches Erbe als Mapudungun-Sprecher haben. Ihr Einfluss erstreckte sich einst vom Aconcagua-Tal bis zum Chiloé-Archipel und breitete sich später ostwärts bis nach Puelmapu aus, einem Gebiet, das einen Teil der argentinischen Pampa und Patagoniens umfasst. Heute macht die Gruppe über 80 % der indigenen Völker Chiles und etwa 9 % der chilenischen Gesamtbevölkerung aus. Die Mapuche sind vor allem in der Region Araucanía beheimatet. Viele sind auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten aus den ländlichen Gebieten in die Städte Santiago und Buenos Aires gezogen.
Die traditionelle Wirtschaft der Mapuche basiert auf der Landwirtschaft; ihre traditionelle soziale Organisation besteht aus Großfamilien, die von einem Lonko oder Häuptling geleitet werden. In Kriegszeiten schlossen sich die Mapuche in größeren Gruppen zusammen und wählten einen toki (was „Axt“ oder „Axtträger“ bedeutet), der sie anführte. Die materielle Kultur der Mapuche ist für ihre Textilien und Silberarbeiten bekannt.
Zur Zeit der spanischen Ankunft bewohnten die araukanischen Mapuche die Täler zwischen den Flüssen Itata und Toltén. Südlich davon lebten die Huilliche und die Cunco bis hin zum Chiloé-Archipel. Im siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert wanderten Mapuche-Gruppen ostwärts in die Anden und die Pampa, wo sie sich mit den Poya und Pehuenche zusammenschlossen und Beziehungen zu ihnen aufbauten. Etwa zur gleichen Zeit nahmen die ethnischen Gruppen der Pampa, die Puelche, Ranquel und die nördlichen Aonikenk, Kontakt mit Mapuche-Gruppen auf. Die Tehuelche übernahmen die Sprache der Mapuche und einen Teil ihrer Kultur im Rahmen der so genannten Araukanisierung, in deren Verlauf Patagonien unter die Oberhoheit der Mapuche geriet.
Die Mapuche in den spanisch beherrschten Gebieten, insbesondere die Picunche, vermischten sich während der Kolonialzeit mit den Spaniern und bildeten eine mestizische Bevölkerung, die ihre indigene Identität verlor. Die Mapuche-Gesellschaft in Araucanía und Patagonien blieb jedoch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts unabhängig, als Chile Araucanía besetzte und Argentinien Puelmapu eroberte. Seitdem wurden die Mapuche erst zu Untertanen und dann zu Staatsangehörigen und Bürgern der jeweiligen Staaten. Heute sind viele Mapuche und Mapuche-Gemeinschaften sowohl in Argentinien als auch in Chile in den sogenannten Mapuche-Konflikt um Land und indigene Rechte verwickelt.
Siehe auch:
https://www.gfbv.de/de/informieren/laender-regionen-und-voelker/voelker/mapuche/
https://de.wikipedia.org/wiki/Mapuche
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