Von Tessa Hofmann: Korridor oder nicht? Die Aufhebung regionaler Blockaden, staatliche Souveränität und Korridorkontrolle

Von Sivizius - Eigenes Werk, CC0,

Ursprung eines Konflikts

Kaukasisch- oder Ost-Armenien stand zwischen 1828 und 1917 unter der Herrschaft des zaristischen Russland. Nach dem osmanischen Genozid an anderthalb Millionen Armeniern bildete es das einzige armenische Siedlungsgebiet. Bei der Sowjetisierung des Südkaukasus sorgten aber die Bolschewiki, nicht zuletzt auf Drängen der größeren und einflussreicheren Nachbarn Armeniens – Aserbaidschan, Georgien und Türkei – dafür, dass Armenien weitere Siedlungsgebiete abtreten musste:

  • Durch den Vertrag von Moskau (16.03.1921) verlor Armenien die Region Nachitschewan (5.500 qkm) mit einer relativen armenischen Bevölkerungsmehrheit (40%). Nachitschewan erhielt zur Sowjetzeit den Status einer autonomen Sowjetrepublik, blieb aber von der Sowjetrepublik Aserbaidschan durch die historische armenische Provinz Sjunik getrennt. Diese bildet bis heute die südlichste der elf Administrativeinheiten (marser), aus denen die postsowjetische Republik Armenien besteht. Auf der Landkarte erinnert Sjunik an den schmalen Hals eines Frauenkopfes im Profil. Aserbaidschan bezeichnet Sjunik als Sangesur und erhebt angeblich historisch begründete Ansprüche auf das Gebiet.
  • Berg-Karabach (12.000 qkm; Armenisch: Arzach) mit einer absoluten armenischen Bevölkerungsmehrheit von damals über 90% wurde auf Beschluss des bolschewistischen Kaukasischen Büros (Kawbjuro) am 5. Juli 1921 Sowjetaserbaidschan angeschlossen, in Verletzung früherer Versprechen Moskaus und Aserbaidschans an Armenien.
  • Georgien erhielt das Gebiet Dschawachk/Dschawacheti (2.589 qkm) mit teilweise absoluter armenischer Bevölkerungsmehrheit
  • Im Zeitraum 1918-1921 verzichtete Russland auf die Bezirke Kars und Ardahan sowie das Gebiet Surmalu, die 1878-1918 zum Russischen Reich gehört hatten. Der Südkaukasus verlor dadurch ein Territorium von fast 25.000 qkm (= ein Fünftel des gesamten Gebiets) mit einer Bevölkerung von 527.000 Menschen an die Türkei, vor allem auf Kosten Armeniens. Georgien verlor den Bezirk Artwin, konnte aber den Hafen Batumi für sich retten.

Zur Sowjetzeit war die Autonome Sowjetrepublik Nachitschewan über die 1941 errichtete Eisenbahnstrecke Jerewan-Idschewan-Kasach mit der Sowjetrepublik Aserbaidschan verbunden. Diese führte über Sjunik. In den 1980er Jahren entstand eine alternative Eisenbahnstrecke, die die armenische Hauptstadt Jerewan mit der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku und mit Russland verband.

Nach dem Ausbruch der Unabhängigkeits- bzw. Selbstbestimmungsbewegung in Berg-Karabach (Herbst 1988) reagierte Sowjetaserbaidschan unter anderem mit einer Blockade der Straßen- und Eisenbahnverbindungen nach Armenien. Die Türkei schloss sich der aserbaidschanischen Blockade auch der Luftwege an. Das solcherart eingeschlossene Armenien blockierte daraufhin Nachitschewan. Beide, die Republik Armenien und Nachitschewan, litten erheblich unter der bis heute nicht aufgehobenen Blockade der Land- und Verkehrswege.

2002 schlug Aserbaidschan Armenien erfolglos vor, den Latschiner Korridor – den Landstreifen um die Stadt Latschin, der Südarmenien mit Berg-Karabach verband und damals unter der Kontrolle der Arzacher Verteidigungsarmee stand, formell zu übernehmen und im Gegenzug Aserbaidschan die Kontrolle über einen Streifen armenischen Landes entlang der iranischen Grenze zwischen Nachitschewan und dem aserbaidschanischen Kernland zu überlassen.

Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens

Das trilaterale Waffenstillstandsabkommen, das auf russische Vermittlung am 9. November 2020 zwischen Aserbaidschan und Armenien geschlossen wurde, sieht unter anderem die „De-Blockierung“ der regionalen Wirtschafts- und Verkehrsverbindungen vor. Hierfür ist bereits eine trilaterale Arbeitsgruppe eingerichtet worden.

Armenien und Aserbaidschan haben der De-Blockierung bisher in zwei weiteren trilateralen Erklärungen bzw. Abkommen grundsätzlich zugestimmt: in der Erklärung vom 11. Januar 2021 sowie unlängst im Sotschi-Abkommen. Darin erklärt unter anderem die Russländische Föderation ihre Bereitschaft, Armenien und Aserbaidschan weiterhin bei der Normalisierung ihrer Beziehungen zu unterstützen.

Das klingt gut, doch wie immer steckt der Teufel in den Details: Die Begrifflichkeit, die möglichen Routen der Verkehrsverbindungen und die Art der Transportverbindungen sind seither Streitpunkte zwischen Aserbaidschan und Armenien. Russland und Armenien haben bisher den Begriff Korridor peinlich vermieden. Armenien favorisiert erkennbar die Wiederherstellung der einstigen Eisenbahnverbindungen, darin unterstützt vom Iran und Russland.

Aserbaidschan dagegen spricht vom „Sangesur-Korridor“, gelegentlich auch vom „türkischen Korridor“ und meint Straßenverbindungen. Präsident Alijew steigerte mit seiner militanten, armenophoben Rhetorik die Bedenken gegen einen Korridor, als er im April 2021 die Rückkehr der aserbaidschanischen Bevölkerung nach „Sangesur“ androhte. Eine Woche später warnte er, dass Aserbaidschan den „Sangesur-Korridor“ mit Gewalt durchsetzen werde, falls Armenien nicht seiner Einrichtung zustimme. Das armenische Außenministerium erwiderte, dass Armenien „alle notwendigen Maßnahmen ergreifen werde, um seine Souveränität und territoriale Integrität zu verteidigen“.

Im Mai 2021 erklärte der armenische Premierminister Nikol Paschinjan, dass Armenien nicht bereit sei, über die „Korridorlogik“ zu diskutieren, aber sehr daran interessiert sei, Verkehrsverbindungen als direkte Eisenbahnverbindung mit dem Iran und Russland zu öffnen. Der russische Vizepremierminister und Ko-Vorsitzende der trilateralen Task Force für grenzüberschreitende Verbindungen, Alexej Owertschuk, bestätigte im September 2021, dass die trilaterale Gruppe über die Freigabe der regionalen Verbindungen, nicht aber über die Schaffung eines „Korridors“ diskutiere.

Eine neue Runde der trilateralen Gespräche begann am 20. Oktober 2021. Einen Tag zuvor hatte der stellvertretende armenische Ministerpräsident Mher Grigorjan erklärt, es gebe Fortschritte bei der Wiederherstellung der Eisenbahnverbindungen aus der Sowjetzeit. Einen Tag nach Beginn der Gespräche wurde Präsident Alijew mit den Worten zitiert, die armenische Seite habe dem „Sangesur-Korridor“ zugestimmt.

Am 9. November 2021 erklärte A. Owertschuk, dass „Armenien und Aserbaidschan die Souveränität über die durch ihr Hoheitsgebiet führenden Straßen behalten werden“. Das russische Außenministerium bestätigte dies. Der Vorsitzende des aserbaidschanischen Zentrums für die Analyse internationaler Beziehungen, Farid Schafijew, äußerte, dass, wenn Armenien nicht „Korridor“ sagen wolle, ein anderer Begriff verwendet werden könne, bestand aber darauf, dass der ungehinderte Zugang für den ungehinderten Verkehr nach Nachitschewan ohne armenische Kontrollpunkte gewährt werden müsse, wobei die Sicherheit der Verkehrsverbindungen einzig durch den russischen Grenzschutz gewährleistet werde.

Angst vor Korridoren

Die von Russland eingeleiteten und moderierten De-Blockierungsbemühungen haben unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Grundsätzlich werden sie als positiv bewertet, weil sie die Isolation der Region Nachitschewan und der Republik Armenien beenden könnten. Doch die von Aserbaidschan präferierte Korridorlösung, verbunden mit Kriegs- und Zuwanderungsdrohungen, löst bei Armeniern nicht nur in Sjunik Ängste aus. Viele Armenier setzen ein Gleichheitszeichen zwischen der Türkei und Aserbaidschan, denen sie jeweils genozidale Absichten in Vergangenheit und Gegenwart unterstellen. Sie sehen, nicht unbegründet, im „Sangesur-Korridor“ eine ständige Herausforderung und Gefahr für die Souveränität ihres kleinen Landes, dessen Flächenumfang von 29.800 qkm in etwa der Belgiens oder des Bundeslandes Brandenburg gleicht.

Dass Korridore keine Lösungen internationaler bzw. regionaler Konflikte bieten, weiß niemand besser als Europäer. Jonathan Lacôte, Frankreichs Botschafter in Jerewan, begründete seine Ablehnung des Begriffs “Korridor” denn auch mit den negativen historischen Assoziationen, insbesondere durch den Danziger Korridor durch Polen, der als Vorwand für den Zweiten Weltkrieg gedient habe.

Ist der russländische Präsident Wladimir Putin also kein Europäer? Es überrascht und beunruhigt gleichermaßen, dass er unlängst in Sotschi bei seinem Treffen mit Paschinjan und Alijew erstmals vom „Korridor“ sprach, ganz abweichend von allen bisherigen russländischen Sprachregelungen.

Sotschi-Abkommen (26. Nov. 2021)

Vollständiger Wortlaut (auf Englisch): https://www.civilnet.am/news/641239/in-sochi-putin-refers-to-the-opening-of-transport-corridors-between-armenia-and-azerbaijan/?lang=en

“We, the Prime Minister of the Republic of Armenia N.V.Pashinyan, the President of the Republic of Azerbaijan I.H. Aliyev and President of the Russian Federation V. V. Putin, met on November 26, 2021 in Sochi and discussed the November 9, 2020 ceasefire statement in the Nagorno-Karabakh conflict zone that ended all hostilities and the implementation of the January 11, 2021 declaration on the unblocking of all economic and transport ties in the region.

We reaffirmed our commitment to the subsequent, consistent implementation and unconditional observance of all the provisions of the November 9, 2020 and January 11, 2021 statements, for the benefit of the stability, security and economic development of the South Caucasus. We agreed to intensify joint efforts aimed at resolving the remaining issues arising from the November 9,2020 and January 11, 2021 announcements as soon as possible.

We noted the significant contribution of the Russian peacekeeping mission in stabilizing the situation in the region and ensuring security.

We agreed to take steps to increase the level of stability and security on the Azerbaijani-Armenian border, to push the process of delimitation of the state border between the Republic of Armenia and the Republic of Azerbaijan, and then to establish a commission on bilateral demarcation with the participation of the Russian Federation.

We highly appreciated the activity of the trilateral working group on unblocking all economic and transport relations of the region, established in accordance with the January 11, 2021 statement, and chaired by the Deputy Prime Ministers of the Republic of Azerbaijan, the Republic of Armenia and the Russian Federation.

We stressed the need to launch specific programs as soon as possible to identify the economic potential of the region.

The Russian Federation will continue to provide the necessary assistance for the normalization of relations between the Republic of Azerbaijan and the Republic of Armenia, the establishment of trust between the Azerbaijani and Armenian peoples, as well as the establishment of friendly relations in the region.”

Zur Autorin:

Tessa Hofmann ist Philologin, Soziologin und Autorin. Als Sachbuchautorin und Herausgeberin hat Hofmann zahlreiche, in neun Staaten erschienene Publikationen zur Geschichte, Kultur und Gegenwartslage Armeniens und der armenischen Diaspora, zur Genozidforschung, zu Minderheiten in der Türkei und im Südkaukasus veröffentlicht. Seit 1979 arbeitet sie in der ehrenamtlichen Menschenrechtsarbeit als Armenien-Koordinatorin der Gesellschaft für bedrohte Völker (mehr zur Person).

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