Und wie weiter? 

Armenien nach der Massenvertreibung der Arzacher Bevölkerung.

Von Tessa Hofmann

Störfaktor Exilregierung?
Nach neunmonatiger Hungerblockade und einem Militärangriff am 19. und 20. September 2023 erklärte sich die Regierung der De Facto-Republik Arzach zu Waffenstillstandsverhandlungen mit Aserbaidschan bereit. Unter dem Diktat der Sieger unterzeichnete am 28. September 2023 der letzte Präsident der Republik, Samwel Schachramanjan, auch ein Dekret zur Auflösung der Republik zum 1. Januar 2024. 

Das hat er inzwischen im Jerewaner Exil widerrufen, mit der Begründung, dass die Republik Arzach auf dem Volkswillen beruhe: An ihrem Beginn stand am 10. Dezember 1990 ein Referendum, mit dem sich die Arzacher Bevölkerung gegen die Zugehörigkeit zu Aserbaidschan und für ihre Unabhängigkeit aussprach. 33 Jahre später erklärten die aus Arzach vertriebenen Parlamentsabgeordneten auf dem Jerewaner Soldatenfriedhof Jerablur, dass sie weiterhin die Interessen der Arzacher Bevölkerung vertreten. In ihrer Erklärung vom 10. Dezember 2023 heißt es abschließend:

„Nachdem der Präsident [der Republik Arzach] die Verfassungswidrigkeit des von Aserbaidschan auferlegten Dokuments erkannt und die mögliche Gefahr eines Völkermords an der friedlichen Bevölkerung, die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit und die Möglichkeit willkürlicher Verhaftungen eingeschätzt hatte, unterzeichnete er ein Dekret, nach dem alle staatlichen Institutionen von Arzach bis zum 1. Januar 2024 aufgelöst wurden und die Bevölkerung vor die Entscheidung gestellt wurde, ihre Heimat zu verlassen oder sich in Aserbaidschan zu integrieren.

In Anbetracht der Intensität der Schritte, die von den an der endgültigen Lösung der Arzach-Frage interessierten Parteien unternommen wurden und werden, und des aggressiven Verhaltens der betroffenen Parteien, bleibt die Nationalversammlung der Wahrung der Rechte des Volkes von Arzach verpflichtet und bringt ihre Bereitschaft zum Ausdruck, alle problematischen Fragen mit den betroffenen Parteien zu diskutieren.

Die Nationalversammlung der Republik Arzackh ist dem Mandat treu, das sie durch die freie Willensäußerung des Volkes von Arzach erhalten hat, und ist entschlossen, die Rechte und Freiheiten zu verteidigen, die auf Kosten von Blut und Schweiß tausender Armenier errungen wurden“. 

Schachramanjans Jerewaner Büro erklärte das Auflösungsdekret deshalb für null und nichtig. 

Den Regierungschef Nikol Paschinjan der Republik Armenien freuen diese Willensbekundungen der Arzacher Volksvertretung und des Staatsoberhaupts der Republik Arzach allerdings wenig. In der Tätigkeit einer karabach-armenischen Exilregierung auf dem Territorium der Republik Armenien sieht er einen erheblichen Störfaktor für die im „kollektiven Westen“ (USA und Europäische Union) wie auch in Moskau immer wieder geforderten Friedensverhandlungen mit Aserbaidschan. Schon am 16. November, also vor dem Widerruf des Arzacher Auflösungsdekrets, hatte der Parlamentssprecher der Republik Armenien, Alen Simonjan, lautstark sowohl eine unabhängige Regierung in Arzach, als auch eine Arzacher Exilregierung in Armenien verurteilt: „Wir haben ein großes Problem in Bezug auf die Armenier aus Arzach. Ich sehe keinen Sinn darin, dort einen Staat zu gründen oder staatliche Institutionen hier zu erhalten und zu entwickeln. Ich halte das für eine direkte Bedrohung und einen Schlag gegen die Sicherheit der Republik Armenien.“

Die Ängste des politischen Establishments der Republik Armenien scheinen nicht aus der Luft gegriffen. Der aserbaidschanische Journalist Asker Manafow deutete in einem Kommentar vom 4. Dezember 2023 an, dass die karabach-armenischen „Strukturen“ in der Republik Armenien „ferngesteuert“ seien und drohte: „Falls die armenischen Behörden Bedingungen für die Tätigkeit separatistischer Strukturen schaffen und diese finanziell unterstützen, wird das offizielle Baku dies als eine Form von Gebietsansprüchen gegenüber Aserbaidschan betrachten. In diesem Fall wird die tatsächliche Bedrohung der nationalen Sicherheit Armeniens mehr als nur konkrete Formen annehmen.“

Der ehemalige Menschenrechtsbeauftrage und spätere Präsidentenberater Artak Beglarjan bringt Verständnis für die Haltung  der armenischen Behörden auf, ohne ihnen zuzustimmen: „Die armenischen Behörden können sagen: ‚Wir sind mit euren Aktivitäten nicht einverstanden, sie sind gefährlich‘, usw. Sicherlich sollten die Behörden von Arzach das berücksichtigen. Aber sie sollten ihre Arbeit fortsetzen…. Sie sind die legitimen, legalen Vertreter unseres Volkes.“

Die Karabacher legislativen und exekutiven Exilorgane werden von der armenischen politischen Opposition unterstützt. Beglarjan räumt ein, dass die Einmischung in die armenische Innenpolitik ein zweischneidiges Schwert sein könnte: „Wenn ein Thema zu einer innenpolitischen Frage zwischen der Opposition und der Regierung wird, wird die Regierung in der Regel aggressiver. Und das kann unserer Situation bis zu einem gewissen Grad schaden. (…) In dieser Situation kann es etwas riskant sein. Andererseits brauchen wir einen gewissen öffentlichen Druck auf die Regierung, damit sie versteht, dass es sich um eine öffentliche Forderung handelt und eine Lösung findet.“

Mit anderen Worten: Arzach soll die Möglichkeit behalten, für die Rechte seiner vertriebenen Bevölkerung einzutreten. Denn von der Republik Armenien ist dies nicht zu erwarten. Schon in der Vergangenheit hat sie sich darauf beschränkt, das Recht der Arzacher auf Selbstbestimmung zwar verbal zu unterstützen, sich aber stets dagegen gewehrt, als Konfliktpartei definiert zu werden. Es hat die Republik Arzach nicht einmal anerkannt.

Volk ohne Land, Land ohne Volk

An die 100.600 Menschen haben Ende September ihre Heimat Arzach verloren. Die Flüchtlinge schildern ihren Massenexodus als Vertreibung, was Aserbaidschan bestreitet. Als der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew am 20. September die Kapitulation der De-facto-Behörden in Karabach ankündigte, beschrieb er eine positive Vision des Zusammenlebens mit der armenischen Bevölkerung in der Region: „Ich bin sicher, dass sich für die armenische Bevölkerung in Karabach bald etwas zum Besseren wenden wird.  Wir wollen ein gemeinsames Leben aufbauen, das auf Frieden, gegenseitigem Verständnis und gegenseitigem Respekt beruht. Wir haben keine Probleme mit dem armenischen Volk. Wir haben keine Feindschaft.“

Aber nach 70 Jahren sowjetaserbaidschanischer Zwangsherrschaft über Berg-Karabach, nach drei völkerrechtswidrig von Aserbaidschan begonnenen Militärangriffen sowie nach der neunmonatigen Hungerblockade glaubte ihm zumindest keiner der Betroffenen. 

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Seit dem Massenexodus hat Alijew kaum noch über die mögliche Rückkehr von Armeniern nach Karabach gesprochen. Als der Präsident Anfang Dezember bei einem Treffen mit Vertretern ausländischer Denkfabriken darauf angesprochen wurde, versicherte er, das Thema sei noch immer auf dem Tisch, und wiederholte das Versprechen von Sprach-, Bildungs- und Kulturrechten für ethnische Armenier.

Abgesehen von formalen Erklärungen ist es jedoch unwahrscheinlich, dass Aserbaidschan „irgendetwas Substantielles tun wird, um die Rückkehr der Armenier aus Karabach zu gewährleisten„, so Schujaat Ahmadsada, Non-Resident Research Fellow am Topchubaschow Center in Baku, das sich auf internationale Beziehungen und Sicherheit konzentriert. „Vielleicht werden wir diese Rhetorik des ‚jeder kann kommen, solange er die aserbaidschanische Staatsbürgerschaft erhält‘ noch eine Zeit lang hören, ohne dass etwas Konkretes daraus wird.“ 

Nach Angaben des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes sind nur etwa 25 Armenier in Arzach zurückgeblieben. Sie werden vom Roten Kreuz versorgt.

Die nach Armenien Vertriebenen stehen gegenwärtig noch unter Schockstarre; Jung und Alt sind traumatisiert und sehnen sich nach ihrer Heimat. Von Radio Free Europe/Radio Liberty befragte Flüchtlinge in der Republik Armenien erklärten allerdings, sie würden nur nach Karabach zurückkehren, wenn es unter armenischer Kontrolle stünde. „Wenn Karabach armenisch ist, werden die Menschen zurückkehren“, so ein Flüchtling in der Siedlung Metsamor. „Wenn es aserbaidschanisch ist, wird niemand zurückkehren.“

Die Integration der Flüchtlinge in Armenien gestaltet sich schwierig, zumal das staatliche Flüchtlingsmanagement rudimentär und oft inkompetent wirkt. Es fehlt an Wohnraum und Arbeitsplätzen. In der Hauptstadt Jerewan und den angrenzenden Provinzen Kotajk und Ararat, wo noch amtlichen Angaben 38 bzw. 15 Prozent der Arzacher Vertriebenen leben, sind die Mieten infolge des Zuzugs russländischer Staatsbürger in den Jahren 2022 und 2023 drastisch gestiegen. In anderen Landesteilen sind die Mieten zwar niedriger, aber es fehlt an Arbeitsplätzen.

Finanzielle Nöte kommen hinzu: Die armenische Regierung hat den Flüchtlingen zunächst 100.000 Dram (etwa 250 $) ausgezahlt, dann weitere 50.000 Dram als Mietzuschuss für diejenigen, die für ihre eigenen Wohnungen zahlen. Im November und Dezember 2023 erhielt jeder Flüchtling 40.000 Drachmen pro Monat. Rentenzahlungen erfolgen nur, falls Flüchtlinge bereit sind, die Staatsbürgerschaft Armeniens anzunehmen. Viele lehnen dies ab, weil sie fürchten, mit der Abgabe ihres Arzacher Ausweises auch ihre dortigen Rechte und Ansprüche auf ihr zurückgelassenes Hab und Gut zu verlieren.

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) hat in Zusammenarbeit mit der armenischen Regierung und mehreren internationalen und armenischen Nichtregierungsorganisationen einen Plan zur Unterstützung der Flüchtlinge bis März 2024 ausgearbeitet, dessen Kosten auf 97 Millionen Dollar geschätzt werden.

Die schwierigen Bedingungen, unter denen viele von ihnen jetzt leben, könnten sie dazu zwingen, Armenien zu verlassen, vermutet Artak Beglarjan. Er rechnet damit, dass im Frühjahr 2024 viele Arzacher Armenien verlassen werden: „Wenn diese Art von Bedingungen bestehen bleibt – die Unsicherheit in Armenien – werden im Frühjahr viele Menschen auswandern, nach Russland oder wohin auch immer sie können. Und einige von ihnen werden sich entscheiden, nach Berg-Karabach zurückzukehren. Aber es ist sehr schwer abzuschätzen, wie viele Menschen dazu bereit sind, und in der gegenwärtigen Situation rechne ich damit, dass das sehr selten sein wird.“

Viele Bürger der Republik Armenien haben die aus Arzach Vertriebenen sehr herzlich aufgenommen und stehen ihnen so gut wie möglich bei. Aber die Regierung Armeniens dürfte über die Abwanderung ihrer Landsleute insgeheim erleichtert sein, erschweren diese doch mit ihren Forderungen die Beziehungen der kleinen Republik zu ihren größeren und mächtigeren Nachbarn Aserbaidschan und Türkei. Für Arzach war und ist kein Platz in den Überlegungen der Paschinjan-Regierung. 

Völkerrechtliche Wertung

Die Ereignisse des Jahres 2023 haben Armenier in Armenien und in seiner Diaspora in eine tiefe Krise gestürzt. Am meisten betroffen sind begreiflicherweise die aus Arzach Vertriebenen,  von denen viele die Hoffnung nicht aufgeben wollen, eines Tages doch wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können, in Freiheit und Sicherheit. In seinem Vortrag aus Anlass der 75. Jährung der UN-Genozidkonvention erinnerte der Völkerrechtler und erste Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo daran, dass die Genozid-Konvention der Vereinten Nationen nicht nur schwere körperliche, sondern auch seelische Schäden als Genozid definiert; diese seien dem Volk von Arzach genozidal zugefügt worden, ebenso wie Deportation als Verbrechen gegen die Menschheit.  Auch die UN-Sonderberaterin für die Verhütung von Völkermord, Alice Wairimu Nderitu, zählte Ende 2023 Arzach zu den „sechs verschiedenen Situationen, in denen die Gefahr eines Völkermordes gegen ethnische Gruppen [besteht], darunter die Rohingya, Berg-Karabach, die Tigray in Äthiopien, die Israelis und Palästinenser sowie die Masalit in Darfur, Sudan.“ (Moreno 2023, S. 2)

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L. Moreno Ocampo und vor ihm das Lemkin Institute for Genocide Prevention halten die Unterzeichnerstaaten der UN-Genozidkonvention für mitverantwortlich am jüngsten Genozid gegen Armenier, denn sie hätten in ihrer Pflicht versagt, Völkermord zu verhindern. „In einer gespaltenen Weltordnung wählen freilich die Nationen die Normen aus, die sie befolgen wollen. Die USA, Frankreich und Russland haben sich sehr aktiv für eine Verhandlung zwischen Armenien und Aserbaidschan eingesetzt, um einen neuen Krieg zu vermeiden und ihre eigenen Interessen zu schützen. Sie besitzen jedoch als Unterzeichner der Völkermordkonvention vor allem die rechtliche Verpflichtung, Genozid zu verhindern, sobald sie ‚normalerweise vom Bestehen einer ernsthaften Gefahr Kenntnis erlangen, dass ein Völkermord begangen wird.‘“ (Ocampo, 2023, S. 6f.) Dieser Pflicht kam kein Unterzeichnerstaat der UN-Konvention nach, auch Deutschland nicht. Z:um zweiten Mal in seiner Geschichte haben politische Entscheidungsträger in Deutschland untätig zugesehen, wie Genozid an Armeniern verübt wurde.

Das armenische Volk wurde mithin nicht nur der neuerlichen Erfahrung von Genozid ausgesetzt, sondern ebenso der wiederholten Erfahrung, dass die Weltöffentlichkeit seinem Leiden untätig zusieht, wie schon während des Ersten Weltkrieges. Armenier fühlen sich folglich als das verlassenste Volk auf Erden.

Wie könnte eine strafrechtliche Aufarbeitung der bereits verübten jüngsten Verbrechen aussehen? Aserbaidschan ist kein Vertragsstaat des Römischen Statuts (1998)und erkennt die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) nicht an. Folglich können Kriegsverbrechen, die ausschließlich in Aserbaidschan begangen werden, nicht vom IStGH untersucht werden. Allerdings können das Verbrechen der Deportation als Verbrechen gegen die Menschheit sowie Genozid gemäß Artikel II b) und Artikel 6 b) untersucht werden, da sie auch in Armenien begangen wurden bzw. sich dort fortsetzten. Dem Präzendenzfall Bangladesch/Myanmar folgend, ist der Internationale Strafgerichtshof zuständig für die Untersuchung der Beteiligung von Präsident Alijew an andauernden Verbrechen, wie Deportation, Verfolgung und andere unmenschliche Handlungen, die auf dem Hoheitsgebiet von Aserbaidschan, einer nichtstaatlichen Partei, begonnen und im Hoheitsgebiet von Armenien fortgesetzt wurden. (Ocampo 2023, S. 15)

Geiseln

Acht Mitglieder der Regierung der Republik Arzach wurden bei ihrer Ausreise festgenommen bzw, stellten sich vorher freiwillig; sie befinden sich nun in Baku in Untersuchungshaft, die nach Ansicht Moreno Ocampos einer Geiselhaft gleicht: „Das ist der dringlichste Aspekt der Völkermordprävention, um die Gefahr ‚schwerer körperlicher und seelischer Schäden‘ (Völkermordkonvention Artikel II b) für über zwanzig Opfer des Völkermordes abzuwenden, darunter drei ehemalige Präsidenten von Arzach und fünf weitere führende Persönlichkeiten der Gesellschaft, die von Aserbaidschan eingekerkert wurden. Ihre Gefangenschaft ist Teil des Völkermordes und eine Botschaft an ihre Gemeinschaft: Wenn ihr nach Berg-Karabach zurückkehrt, werdet ihr ausgehungert, eingekerkert oder getötet. Sie wurden zu Geiseln.“

Zum Weiterlesen: 

https://luismorenoocampo.com/wp-content/uploads/2023/12/REPORT-USP-Innovation-on-Global-Order.-Nagorno-Karabakh-case.pdf?fbclid=IwAR38Onr_uS3iwzXuFPitP_0uSK8DENEY55fP2jMUH1V1tRbXH43kaUdznqI

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