Schamanen sind Terroristen, die Wahrheit steht Kopf, wir stehen am Abgrund und sehen ihn nicht

Wenn die Wahrheit in den sogenannten Fakten verloren geht, kann nur die Form der Erzählung uns noch zuverlässig die Wirklichkeit zeigen. „Frau des Himmels und der Stürme“, der neue Roman des französischen Schriftstellers und Musikers Wilfried N'Sondé bringt uns auf die Spur. Die Spur führt nach Sibirien.

Aus aktuellem Anlass eine andere Art der Buchbesprechung von Claus Biegert und Tjan Zaotschnaja

Num, der Nomade ist verzweifelt. Sein Volk, die Nenzen, vertrauen seiner Kraft und seinen Visionen. Num ist Schamane und sucht den Dialog mit der unsichtbaren Welt. Von dort erhält er seine Visionen. Ohne die Hilfe der Ahnen und Geister ist er machtlos. Es geht um das Wohl seines Volkes und um das Fortbestehen der wunderbaren Jamal-Halbinsel, deren Tiere und  Pflanzen bedroht sind. Ein riesiges Erdgasvorkommen wurde entdeckt, und Jamal soll für den Energiehunger Russlands und Europas geopfert werden. Num nimmt den Kampf gegen den Energie-Giganten auf – die Ahnen aus der Vorzeit liefern ihm die Vorgaben.

Geben wir dem Schamanen vorübergehend einen anderen Namen. Nennen wir ihn Sergei Kechimov. Sergei gehört zum Volk der Chanten, ist Rentierzüchter und lebt im autonomen Landkreis Chanty-Mansi in Westsibirien. Seit er sich dem Ölkonzern Surgutneftegas entgegen stellt, gilt er als Terrorist. Sergei ist der traditionelle Hüter des heiligen Sees Imlor und verteidigt seinen See gegen den Konzern Surgutneftegas, der die Ölvorkommen unter dem heiligen See ausbeutet. Viele seines Volkes wurden bereits umgesiedelt, Kechimov gehört zum Kern derer, die nicht weichen. „Der See Imlor verlässt sich darauf, dass wir ihn schützen und verteidigen“, sagt Sergei. 

Anfang Juli 2023 drohte ihm ein neuer Prozess, der jedoch auf den 18. September verschoben wurde. Ihm wird nach dem Artikel 318 des Strafgesetzbuchs die Anwendung von Gewalt gegen einen Vertreter der Behörden vorgeworfen. Das Strafverfahren wurde nach einem Konflikt mit Beamten der Verkehrspolizei am 14. Dezember 2022 eingeleitet. Die Polizei hatte an diesem Tag Kechimovs Schneemobil angehalten und behauptet, er sei betrunken. Von seiner Frau wissen wir, dass er keinen Alkohol trinkt.

Die Beamten wollten Kechimov festnehmen, aber er „riss sich los und ging in den Wald“. Die Polizei folgte ihm und nahm ihn fest – Verletzungen an Rippe, Schulter und Hand zeugen von der Festnahme. In der Anklage heißt es, er habe einen Inspektor der Verkehrspolizei angegriffen. 

Daraufhin wurde er gemäß dem Artikel über die Androhung von Mord oder schwerer Gesundheitsschädigung (Artikel 119 des Strafgesetzbuchs) für schuldig befunden. Die ursprüngliche Suche nach ihm ging auf Klagen von Mitarbeitern des Konzerns zurück, die er beim Fällen der Bäume am heiligen See hindern wollte. Da Kechimov in der Tundra immer mit einer Axt unterwegs ist, wurde ihm vorgeworfen, er habe die Arbeiter mit einer Axt bedroht.

„Die Kriminalisierung von Kechimov vollzieht sich in kleinen und leisen Schritten. Das Ziel ist aber klar: Die Behörden wollen Kechimov mittel- und langfristig zum Schweigen bringen“, sagt Regina Sonk, Referentin für indigene Völker bei der „Gesellschaft für bedrohte Völker“. Kechimovs Unterstützerschaft sehe die Ordnungswidrigkeit als Vorwand für weitere strafrechtliche Verfolgung. Ein Strafverfahren wegen „Gewaltanwendung gegen einen Vertreter der Staatsgewalt“ mit einer Höchststrafe von fünf Jahren sei möglich, oder wegen „Gewaltanwendung, die das Leben oder die Gesundheit eines Behördenvertreters gefährdet“, mit bis zu zehn Jahren Haft.

Schamane zu sein ist gefährlich in Sibirien. Alexander Gabychew aus Jakutien wurde zwangsweise in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Viele Schamanen schaffen es nicht, die Außenwelt über ihr Schicksal zu informierem.

Kehren wir zurück zu Num. Er entdeckt im aufgetauten Permafrost das über 10.000 Jahre alte Grab einer schwarzen Frau. Wer war sie? Haben die sibirischen Völker womöglich Vorfahren aus Afrika?

Es dauert nicht lange, und ein Forscherteam folgt dem Ruf des Schamanen Num auf die Halbinsel Jamal. Womöglich muss die Geschichte neu geschrieben werden. Eine Sensation liegt in der Luft. Doch die Förderung von Erdgas diktiert die Abläufe, und die Forscher bekommen die Skrupellosigkeit des Konzerns zu spüren.

Wilfried N’Sondé hat seine afrikanischen Wurzeln sprechen lassen, als er diesen Öko-Thriller der Subarktis schuf. Chapeau! müssen wir ihm zurufen, und: Merci! Num steht für alle verfolgten Schamanen.

Wilfried N’Sondé, „Frau des Himmels und der Stürme“, Verlag Kopf und Kragen, 256 Seiten, 24 Euro 

 

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