Russlands Kolonialisierung und die Sehnsucht nach Dekolonisierung: Stimmen indigener Völker

Eine Radiosendung der Regionalgruppe München: Dialog über Erinnerung und Selbstbestimmung: Perspektiven auf die koloniale Vergangenheit und den Weg in eine dekolonialisierte Zukunft

Transkript:

Die Sendung der Regionalgruppe München der Gesellschaft für bedrohte Völker auf Radio Lora München, 92.4, jeweils am fünften Dienstag im Monat.

Zuerst zur Information: Morgiger 30. Oktober ist der Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Repression in Russland.

Dieser Tag wurde in der Sowjetunion von politischen Gefangenen initiiert, die zu der Zeit in Lagern und Gefängnissen saßen, um gegen die Bedingungen in den Haftanstalten zu protestieren.

Seit 2007 organisiert die Organisation „Memorial“ die Aktion „Rückkehr der Namen“. In verschiedenen Orten Russlands lesen die Teilnehmer*innen der Aktion abwechselnd die Namen der 1937-1938 erschossenen Menschen vor. In diesem Jahr wurde allerdings die Aktion nicht erlaubt. Sogar die Internetseite „Rückkehr der Namen“ wurde von den russländischen Behörden blockiert. (https://www.svoboda.org/a/roskomnadzor-zablokiroval-sayt-aktsii-vozvraschenie-imyon-/33161126.html)

Das Projekt Roskomsvoboda stellte fest, dass die Website „Rückkehr der Namen“ in das Register der blockierten Websites aufgenommen wurde und der Zugang zu  allen Domains und Subdomains der Website gleichzeitig gesperrt ist.

Im Register heißt es, dass die Sperrung von einer nicht näher bezeichneten staatlichen Stelle beantragt wurde. In der Regel wird diese Rolle von der Generalstaatsanwaltschaft übernommen.

Die jährliche Aktion „Rückgabe der Namen“ wird am 29. Oktober, dem Vorabend des Tages des Gedenkens an die Opfer politischer Repression, vorbereitet. Die Website der Aktion enthält eine vollständige Liste der Orte, an denen die Aktion in verschiedenen Städten Russlands und der Welt stattfinden wird.

Tanja: Kurze Information zu Memorial, wenn jemand diese Organisation nicht kennt, sie ist eine Internationale Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge. Gegründet wurde sie 1992 in Moskau. Ihr ging die Moskauer Bürgerinitiative Memorial voraus, die 1987 gegründet wurde und aus der eine Reihe regionaler Organisationen und Gruppen hervorgingen. Im Jahr 1989 schlossen sie sich zur Allunionsgesellschaft für Geschichte und Bildung „Memorial“ zusammen.

Seit etwa 2012 haben die russischen Behörden den Druck auf Historiker, Journalisten und Nichtregierungsorganisationen, die politische Verbrechen während der Sowjetzeit untersuchen, stetig erhöht.

Am 4. Oktober 2016 nahm das Justizministerium International Memorial in das Register der ausländischen Agenten auf.

Am 5. April 2022 wurde Memorial nach Verfahren in mehreren Instanzen aufgelöst.

Tochterorganisationen sind jedoch weiterhin tätig

Im Jahr 2022 erhielt Memorial den Friedensnobelpreis.

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Tjan: Und jetzt zum angekündigten Thema Kolonisation und Dekolonisation in Russland.

Mit dem Ausbruch des russischen umfassenden Krieges gegen die Ukraine ist das Thema Kolonisierung und Dekolonisierung aufgeflammt.

Aber es ist nicht neu in Russland.

Machen wir daher einen kurzen historischen Exkurs in die Vergangenheit.

Felix:  Im 19. Jahrhundert schrieb der Forscher und Publizist Nikolai Jadritsev nicht nur unter anderem das Buch „Sibirien als Kolonie“, sondern beteiligte sich auch an der „Sibirischen Unabhängigkeitsgesellschaft“, wofür er für fünf Jahre ins Exil in die nördliche Provinz Archangelsk verbannt wurde.

In den 1930er Jahren, während der Sowjetzeit, schrieben Wissenschaftler über die Kolonisierung Sibiriens, allerdings nur über die Zeit des Zarenreichs. Es war doch eine kurze Periode der Meinungsfreiheit, die für das gemeine Volk nicht ausreichte, um zu verstehen, wie es genau war. Wie wir wissen, wurden viele Wissenschaftler, die sich mit indigenen Völkern beschäftigten, während des Großen Terrors den Repressalien ausgesetzt.

In den Jahren 1991-92, während des Zusammenbruchs der Sowjetunion, verfassten viele autonome Republiken und Regionen in Russland ihre Unabhängigkeitserklärungen. 15 Subjekte der Russischen Föderation unterzeichneten Souveränitätserklärungen ihrer Staaten.

 Auch in Kamtschatka wollte man sich vom Joch des Kolonialismus befreien. In der Zeitung „Kamtschatskaja Prawda“ vom 18. Oktober 1991 wurde die Idee einer selbsternannten Unabhängigkeit Kamtschatkas im Rahmen einer Fernöstlichen Republik beschrieben, unter anderem (Zitat):

„Die wichtigsten Etappen sollten eine weitgehende Entmilitarisierung (unter anderem der Abzug der strategischen Atomwaffen von der Halbinsel) sein … Einführung von 2-3 Staatssprachen, von denen eine Koryakisch oder Itelmenisch sein könnte. … Mit der vollständigen Erlangung der Unabhängigkeit und der Beseitigung des Kolonialismus in der Region … Die Priorität bei der 

Lösung aller Fragen des Territoriums wird der einheimischen Bevölkerung und der dauerhaft in Kamtschatka lebenden Bevölkerung gehören. …“

Tjan:  Und als ich diesen Artikel in der Zeitung gelesen hatte, schrieb dem Autor, dass ich gerne im Außenministerium des zukünftigen Staates Kamtschatka arbeiten würde. Eine Antwort bekam ich leider nie.

Denn nach dem Zusammenbruch der UdSSR hat die moderne Russische Föderation die Erklärungen von autonomen Republiken und Regionen Russlands annulliert.

Meiner Meinung nach waren das revolutionäre Ideen.  Doch wieder war die Zeit der Meinungsfreiheit in Russland sehr kurz. Erinnern wir uns an die damalige Zeit: die Menschen lebten in großer Armut, kümmerten sich nur um das Überleben, so dass sie keine Zeit hatten, ernsthaft über eine solche revolutionäre Idee/Ideen nachzudenken. Die Aufklärungsarbeit in diesem Bereich soll/muss systematisch, dauerhaft und mit viel Geduld geführt werden.

Tanja:  Und so begannen ab 2022 die Vertreter*innen der Baschkiren, Tataren, Jakuten, Burjaten und anderer Völker über die Entkolonialisierung / Dekolonisierung zu diskutieren. Aber sowohl offizielle Vertreter*innen des Landes als auch russländische Oppositionelle außerhalb Russlands haben dies äußerst negativ aufgenommen.

Es gibt aber besonders ausserhalb Russlands lebende Menschen, die den Aktivist*innen der Dekolonisierung vorwerfen, dass sie nicht in der Lage seien, genau zu sagen, was mit dem Wort Dekolonisierung gemeint ist.

Man muss sagen, Vertreter*innen verschiedener Völker haben verschiedene Vorstellungen, wie man sich von der Kolonisation befreien kann/muss. Denn der Prozess der Kolonisierung verlief lange und unterschiedlich je nach geographischer Lage, Bevölkerungszahl und militärischem Stand eines Volkes und der Bereitschaft des einen oder anderen Volkes, beim nächsten Stadium der russischen Eroberung mitzumachen etc.

Zuerst haben die Dekolonisations-Aktivist*innen begonnen, sich mit dem Begriff Kolonisation, Kolonisierung zu beschäftigen.

Und wir haben in Wikipedia nachgeschlagen.

Wir haben aber kein einziges Wort zur russischen Kolonisation gefunden, weder auf Russisch noch auf Deutsch.

Aber zum Glück gibt es was auf Englisch.

In der Kolonialzeit bezieht sich der Kolonialismus in diesem Zusammenhang hauptsächlich auf die Kolonisierung von Ländern in Amerika, Afrika, Asien und Ozeanien durch westeuropäische Länder. 

Zu den wichtigsten europäischen Ländern, die sich an dieser Form der Kolonisierung beteiligten, gehörte unter anderen das Zarenreich Russland (später Russisches Reich)“

Tjan: Noch 1983 als ich beim Kolloquium „Sibir 1582-1982“ in Paris teilgenommen habe, war vorher für die meisten nicht klar, ob Russland seine Territorien trotz Eroberungen kolonisiert habe.

In meinem Vortrag verglich ich zwei Autoren, die über Kamtschatka schrieben.

Als die Sowjetunion noch jung war, existierte in den 1920-30er Jahren noch das freie Denken.

Okun Semen Benzianovich nannte in seinem Buch „Skizzen zur Geschichte der Kolonialpolitik des Zarismus im Gebiet Kamtschatka“ (erschienen 1935) die Fakten mit richtigen Namen. Als Beispiele:

Felix „… die Halbinsel Kamtschatka wurde von Kosaken erobert.  Die tiefe Wirtschaftskrise drängte Russland dazu, Kamtschatka zu erobern, und die Kosaken, die tief in die Halbinsel eindrangen, begannen mit der Massenvernichtung der Eingeborenen, raubten sie aus und beraubten sie oft ihrer Produktionsmittel, Lebensmittel und Kleidung. Die Einführung der russischen geistigen Kultur begann mit der Zwangstaufe der Itelmenen. Seit ihrer Ankunft in Kamtschatka wurden die Itelmenen, vor allem Frauen und Kinder, von Kosaken in die Sklaverei verschleppt; in der Zeit der Massentaufe wurden die Itelmenen in großem Umfang versklavt.

Die kamtschadische Bevölkerung, die von den eintreffenden Russen von ihren besten Plätzen vertrieben wurde, siedelte sich in kleinen Lagerstätten entlang der gesamten Westküste an. Das Recht der russischen Siedler, sich das Land der Eingeborenen ungehindert anzueignen und die Eingeborenen ungestraft von ihren Plätzen zu vertreiben, wurde von der Regierung bereits 1852 genehmigt …“

Tjan: Später wurde die Geschichte der Zarenzeit und der Sowjetunion langsam umgeschrieben. Nadezhda Starkova, übrigens wie ich eine Itelmenin, stellt in ihrem Buch „Die Itelmenen, materielle Kultur des 18. bis 20. Jahrhunderts“ (Erscheinungsjahr 1976) die Geschichte anders dar:

„Der Anschluss der Halbinsel an den russischen Staat war sowohl für Russland als auch für die dortige Bevölkerung von großer Bedeutung“, berichtet Starkova weiter: „Die Isolation und Loslösung der Bewohner der Halbinsel von der zivilisierten Welt endete, und sie begannen, sich der höheren materiellen und geistigen Kultur des russischen Volkes anzuschließen“.

 Die Geschichte Russlands wurde seit mehreren Jahrhunderte immer wieder neugeschrieben, dabei einige Ereignisse, Faken wurden verschwiegen. Das Thema Kolonisation wird in den Schul- und Universitätsbücher nicht behandelt. 

Es ist kein Wunder, dass weder Kolonisator*nnen, noch Kolonisierte überhaupt nichts oder wenig davon wissen. Seit Beginn Krieges Russlands gegen die Ukraine werden die Debatte zwischen Vertreter*nnen der russländischen Oppositionellen und ethnischen Minderheiten immer heftiger. 

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Nehmen wir den jungsten Fall mit Julia Nawalnaja. Hier ist die Reaktion von Pawel Suljandziga und Dmitry Berezhkov:

 (Der volle Text auf Russisch : https://indigenous-russia.com/archives/39631, 10.09.2024)

Tjan: Nach der Ermordung ihres Mannes wurde Julia Nawalnaja in den Augen vieler zu einem Symbol des Widerstands gegen das Putin-Regime und zu einer der lautesten Sprecherinnen der „russländischen Opposition“. 

Es sei darauf hingewiesen, dass der Begriff „russländische Opposition“ unserer Meinung nach nicht gut ist. Er ist unter den gegenwärtigen Bedingungen semantisch uninteressant, und man kann eher die Teilnehmer*nnen der „politischen Emigration“ als die wirkliche politische Opposition bezeichnen. Allerdings sollte man sich darüber im Klaren sein, dass die „politische Emigration“ über Nacht zur politischen Opposition oder sogar zur realen Macht in einem bestimmten Land werden kann, wenn die entsprechenden günstigen Bedingungen gegeben sind. 

Auf dem strategischen Forum „A World of Parallel Realities“, das am 2. und 3. September 2024 in Bled (Slowenien) stattfand, hielt Julia Nawalnaja eine Rede, in der sie darauf hinwies, dass Europa aufhören müsse, taktische Entscheidungen in Bezug auf Russland zu treffen, und eine langfristige Strategie entwickeln müsse. 

Nach den Ergebnissen des slowenischen Forums läuft Julia Nawalnaja Gefahr, in der Erinnerung der nicht-russischen Völker Russlands als eine Person in Erinnerung zu bleiben, die (offenbar nach ihrer Machtübernahme) damit droht, diejenigen zu finden, die Russland „entkolonialisieren“ werden. Die Zitat von Nawalnaja: 

Tanja: „Endlich werden wir diejenigen finden, die von der Notwendigkeit einer dringenden „Entkolonialisierung“ Russlands sprechen. Angeblich ist es notwendig, unser zu großes Land in ein paar Dutzend kleine und sichere Staaten aufzuteilen. Die „Entkolonialisierer“ können jedoch nicht erklären, warum Menschen mit einem gemeinsamen Hintergrund und kulturellen Kontext künstlich geteilt werden sollten. Und wie es überhaupt dazu kommen sollte, sagen sie uns auch nicht.“

 Felix: Allein die Tatsache, dass der Begriff „Entkolonialisierung“ im Text der politischen Erklärung in Anführungszeichen gesetzt wird, zeugt von dem Wunsch, seine Bedeutung zu verringern und die Künstlichkeit des Phänomens aufzuzeigen. Ganz allgemein, um seine Irrelevanz zu zeigen.

Der Begriff der Entkolonialisierung ist indessen weiter gefasst als nur die Aufteilung großer Länder in kleine Länder. Es gibt viele Interpretationen der Entkolonialisierung in der Welt: Entkolonialisierung der Gesetzgebung, Entkolonialisierung der Kultur, der Kunst, Entkolonialisierung der Wissenschaft, des Kinos und so weiter.

Darüber hinaus wird das Phänomen der Dekolonisierung in der zeitgenössischen Politik immer dominanter. 

Erinnern wir uns jedoch an die klassische Definition der Dekolonisierung als Prozess der politischen Unabhängigkeit der europäischen Kolonien nach dem Zweiten Weltkrieg. Für Dutzende von Völkern auf der ganzen Welt war dieser Prozess eine Chance, Unabhängigkeit, Menschenwürde und ein nationales Selbstbewusstsein zu erlangen. 

Es ist erwähnenswert, dass die absichtliche Verharmlosung eines sozialen Phänomens und der damit verbundenen Terminologie ein spezieller Ansatz ist, der häufig von Vertreter*nnen der herrschenden Klasse verwendet wird, um diesem Phänomen entgegenzuwirken. Dieser Ansatz wurde in der Geschichte schon oft angewandt – wir alle erinnern uns an Wladimir Lenins berühmten Satz über „Intellektuelle, Lakaien des Kapitals, die glauben, sie seien die Gehirne der Nation…“.

In ihrer Erklärung über die Entkolonialisierung Russlands gibt Julia Nawalnaja fast wortwörtlich die Hassreden Wladimir Putins gegen die Ukraine und den Westen wieder. Bei Putin heißt wie folgt: 

Tanja: „Nach dem Zusammenbruch der UdSSR haben sich unsere geopolitischen Bösewichte sicherlich zum Ziel gesetzt, das, was vom historischen Russland noch übrig ist, zu dekolonisieren, das heißt, seinen Kern, das eigentliche Russland, die Russische Föderation, zu dekolonisieren und das, was übrig bleibt, ihren geopolitischen Interessen unterzuordnen. Das sage ich mit Überzeugung als ehemaliger Direktor des FSB…“ 

Felix: In dieser Angelegenheit spricht Julia Nawalnaja, gewollt oder ungewollt, aus der Position von typischen Vertreter*nnen der herrschenden Gesellschaft (Klasse) und gibt Putins Botschaft über die Spaltung der Mehrheit wieder, ohne die Möglichkeit zu erwähnen, dass die Minderheiten Freiheit erlangen könnten. 

Wir können die Empörung verstehen, die Nawalnaja mit ihrer Rede bei ethnischen Aktivist*nnen und Vertreter*nnen der indigenen Völker Russlands ausgelöst hat, die behaupten, dass Putinisten und Nawalnaja in der Frage der Selbstbestimmung der Völker ein und dasselbe sind; dass es keine Rolle spielt, wer im Kreml an der Macht ist; dass sein Herr in jedem Fall automatisch ein*e Vertreter*in der Interessen des Imperiums wird. 

Es erinnert uns an die Kommunisten, die den Wunsch der Völker der UdSSR nach Selbstbestimmung mit eiserner Faust unterdrückten, ihn aber in der ganzen Welt, vor allem in den Gebieten der westlichen Imperien, unterstützten. Dann kamen die Demokraten unter der Führung von Jelzin. Die Unionsrepubliken, die nicht physisch zurückgehalten werden konnten, wurden von Russland freigelassen. Wo es doch möglich war, klammerten die Demokraten sich mit aller Macht an die autonomen Republiken (zwei Tschetschenienkriege). Als nächstes kamen die Putinisten, die von der „größten geopolitischen Katastrophe“ schwärmten und dann das Übliche taten – Militäraktionen in Georgien, auf der Krim, im Donbass und eine umfassende Invasion in der Ukraine.

Tjan: Wir wollen hier keine lange Diskussion darüber führen, aber es lohnt sich, die Passage über Menschen mit einem „gemeinsamen Hintergrund und kulturellen Kontext“ in der Rede von Julia Nawalnaja zu erwähnen. 

Wir zitieren hier nur zwei Kommentare, die einen Eindruck davon vermitteln, wie der „Hintergrund“ für sie und ethnischen Aktivist*nnen gemeinsam ist: 

1. Zitat:

– Julia, der gemeinsame Hintergrund, den wir Kaukasier mit euch Russen haben, ist, dass ihr historisch gesehen Besatzer seid. Und wir haben keinen gemeinsamen kulturellen Kontext mit euch, wir haben nur gelernt, euch zu verstehen, um uns zu verteidigen, aber ihr wisst absolut nichts über uns“.

2. Zitat:

    – „Und warum sollten dann Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und unterschiedlichem kulturellen Kontext im selben Land leben?! Ihr habt mit den Ukrainern kulturell mehr gemeinsam als mit den Tschetschenen, und trotzdem wollen die Ukrainer nicht mit euch im selben Land leben, aber die Tschetschenen müssen?“ 

Felix: Für uns ist das Wichtigste bei solchen Diskussionen der DIALOG – die Möglichkeit, mit den Starken, den Schwachen, den „Großen“ (um an Churchills Worte zu erinnern), den Schwachen und den Armen zu sprechen.

Aber der Dialog darf kein Monolog sein. Und die Erklärung von Yulia Navalnaja auf dem Forum in Slowenien kann nicht anders als ein Monolog einer Vertreterin der weißen Vorherrschaft bezeichnet werden. 

Dies ist unserer Meinung nach der Hauptgrund, warum ethnische Minderheiten und indigene Völker (dekoloniale Aktivisten, wenn man so will) die Diskussion über die Zukunft durch eine Vertreter*in des derzeitigen politischen Exils – Anhänger*in des „schönen Russlands der Zukunft“ – ablehnen.

Ihre Zukunft, die Zukunft der dekolonialen Aktivist*nnen, ihrer Verwandten, ihrer Lieben, ihrer Völker wird ohne sie diskutiert, und man sagt ihnen, wie sie zu leben haben – ist das nicht ein imperialer Ansatz? Auf die gleiche Weise spricht Wladimir Putin darüber, wie die Ukraine als Teil des „schönen Russlands der Gegenwart“ leben wird – aber aus irgendeinem Grund will die Ukraine das nicht.  

Tjan: Für uns, die kleinen indigenen Völker des Nordens, Sibiriens und des Fernen Ostens, die eine traditionelle Lebensweise führen, ist nicht die Größe des Landes, nicht das Regierungssystem, nicht die Person an der Spitze, sondern das allgemeine Prinzip des Engagements des Staates für die Ideen der Demokratie, der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts der Völker wichtiger. Und dieses Prinzip kann sowohl in einem gemeinsamen Staat als auch in einzelnen nationalen Staatsgebilden erfolgreich verwirklicht werden.

Für uns stehen Demokratie, Freiheiten und Rechte im Vordergrund, nicht die Regierungsform oder der Name einer bestimmten Person an der Macht. 

Daher ist diese Diskussion unserer Meinung nach ein reiner Wettbewerb zwischen den Ideen der „russländischen Opposition“ auf der einen Seite und ethnischen Aktivist*nnen über die „Zerschlagung des Imperiums“ auf der anderen Seite. Und die Dominanz der Position der „russländischen Opposition“ im Westen ist nur ein Beweis dafür, dass es mehr Russ*nnen und weniger Nicht-Russ*nnen gibt. Und dass das russländische intellektuelle, finanzielle und administrative Potenzial das Potenzial der „Ethnien“ übersteigt. So sieht die Situation in Russland selbst, und das ist auch in der Emigration so. 

Felix: Diese Diskussion ist eine Erwiderung auf den Dekolonisierungsdiskurs. Wenn wir eine historische Parallele ziehen, können wir sagen, dass die sibirischen Völker im 16. und 18. Jahrhundert, die von den Kosaken erobert wurden, auch ihren eigenen Standpunkt zu den Ereignissen hatten, der jedoch durch den Standpunkt der Kosaken, die das Reich repräsentierten, unterdrückt wurde. Und vor allem, weil es mehr Kosaken gab, weil das Reich endlose Wellen von Eroberern aussenden konnte, während die unterworfenen Völker, die durch Schusswaffen und Krankheiten schnell ausgerottet waren, eine endliche Kategorie waren. In Navalnajas Missgeschick mit ihrer slowenischen Rede sehen wir also nur eine Wiederholung der Geschichte.

Es ist anzumerken, dass Nawalnaja’s Schlüsselthese zur Dekolonisierung, die eine heftige Reaktion von dekolonialen Aktivist*nnen hervorrief, auf Folie 7 der Veröffentlichung in der russischsprachigen Version von Instagram präsentiert wurde. Die Passage über die Dekolonisierung wird dort durch einen Satz visualisiert, der im russischen Sprachgebrauch als bedrohlich interpretiert werden kann: 

„Schließlich finden wir auch diejenigen, die von der dringenden Notwendigkeit einer „Entkolonialisierung“ Russlands sprechen. Angeblich muss unser zu großes Land in ein paar Dutzend kleine und sichere Staaten aufgeteilt werden.“

 Die anschließende Erklärung, diese Folie sei aus dem Zusammenhang gerissen worden, erscheint uns nicht plausibel. Eine solche Reaktion hätte man im Voraus vorhersehen können. Vor allem, wenn es um ein so sensibles Thema wie die nationale Identität geht.  

Es ist daher anzunehmen, dass diese Visualisierung der These von den Entkolonisatoren beabsichtigt war. Aber warum? 

Tjan:  Dank eines Hinweises unserer Kollegin Anna Gomboeva ist uns ein Unterschied zwischen der russisch- und der englischsprachigen Version von Yulia Navalnayas Instagram-Post aufgefallen. In der englischen Version von Instagram fehlt diese Passage über die Entkolonialisierung. Anna vermutete, dass das Team von Nawalnaja angesichts der Haltung des Westens zu Dekolonisierung, „Black lives matter“ und anderen ähnlichen Themen diesen Absatz aus der englischen Version herausgenommen hat, um sich nicht den Zorn westlicher Menschenrechtsaktivist*nnen zuzuziehen. 

In der Rede, die von Nawalnaja in englischer Sprache gehalten wurde, heißt es nicht, dass sie (nach ihrer Machtübernahme) die Dekolonisator*nnen aufsuchen wird. Die ist nur in Instagram in der russischen Version!

Tanja: „Schließlich gibt es diejenigen, die für die dringende „Entkolonialisierung“ Russlands eintreten und dafür plädieren, unser riesiges Land in mehrere kleinere, sicherere Staaten aufzuteilen. Diese „Entkolonialisierer“ können jedoch nicht erklären, warum Menschen mit gemeinsamer Herkunft und Kultur künstlich geteilt werden sollten. Sie sagen auch nicht, wie dieser Prozess überhaupt ablaufen soll.“

Felix: Diese Technik und Darstellungsform wirft für uns viele Fragen auf und schafft ein Gefühl der Zweideutigkeit und Doppelmoral. Es stellt sich heraus, dass eine (widersprüchliche) Botschaft an das russischsprachige Publikum und eine andere an die westlichen Partner*nnen gesendet wird. 

Wir können davon ausgehen, dass die Folie Nr. 7 auf dem russischsprachigen Instagram absichtlich erstellt wurde, um einen Sturm der Entrüstung auszulösen. Unserer Meinung nach war es, um es unverblümt zu sagen, eine absichtliche Provokation. 

Wir sehen bereits online emotionale Aussagen einiger ethnischer Aktivist*nnen, die das russische Volk mit Faschisten vergleichen. 

Und diese Emotionen können in neuen Runden des berüchtigten politischen Fundraising genutzt werden, um westlichen Politiker*nnen zu sagen: „Seht euch diese Entkolonialist*nnen an – sie sind eine Horde militanter Chauvinist*nnen. Sie sind jetzt so wütend, aber wenn sie an die Macht kommen, werden sie alle Russ*nnen aus ihren Republiken vertreiben.“

Aus der Sicht einer Politikerin, die eine Strategie entwickelt, um in einem multiethnischen Land tatsächlich an die Macht zu kommen, ist die Veröffentlichung der Folie Nr. 7 kurzsichtig und falsch. Aus dem Blickwinkel des politischen Fundraisings ist sie jedoch perfekt. Eine weitere Verunglimpfung von Konkurrent*nnen im Kampf um die Aufmerksamkeit des Westens, zudem bleibt sie für den westlichen Leser*nnen unverständlich, die nur den englischen Text sehen und die Details der russischen Übersetzung nicht verstehen.

 Tanja: Es sollte jedoch anerkannt werden, dass Julia Nawalnaja in ihrer Rede eine Schlüsselfrage stellte (sozusagen eine „Forschungsfrage“) – Wie soll diese Dekolonisierung überhaupt stattfinden? 

Dekolonisierung ist ein weit gefasster Begriff. Für die kleinen indigenen Völker Russisch-Sibiriens und der Arktis beispielsweise ist die Möglichkeit, eine traditionelle Lebensweise zu führen – frei zu jagen, zu fischen, Rentiere auf ihrem angestammten Land zu hüten, ihre Bräuche, Kultur, Sprachen und Traditionen ihrer Vorfahren zu bewahren – von größter Bedeutung. 

Für uns bedeutet das Konzept der Dekolonisierung, das das Konzept der Selbstbestimmung der Völker widerspiegelt, dass die indigenen Gemeinschaften in lebenswichtigen Fragen selbst entscheiden können – wo sie fischen, wann sie sammeln und wie sie jagen, wobei die Ansichten dieser Gemeinschaften zu berücksichtigen sind. Damit ein Urwald nicht plötzlich durch eine Kohlemine zerstört wird. 

Im internationalen Recht sind seit langem die notwendigen Instrumente für diesen Zweck entwickelt worden – Mechanismen der Mitbestimmung, das Instrumentarium der freien, vorherigen und informierten Zustimmung und andere.

 Andere Mitglieder der Öffentlichkeit mögen dem Begriff der Entkolonialisierung und der Selbstbestimmung der Völker eine andere Bedeutung beimessen, bis hin zur Schaffung eigener ethnischer Staaten. Dies ist ein natürlicher Wunsch, Autonomie zu erlangen, um über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden. Für die zahlenmäßig kleinen indigenen Völker in Russisch-Sibirien und der Arktis ist eine derartige Lösung aufgrund ihrer kleinen Zahl kaum denkbar. 

 Unserer Ansicht nach ist die Entkolonialisierung und Selbstbestimmung kein Endpunkt, sondern ein Prozess.

Und der erste Schritt in diese Richtung sollte der Dialog und die gegenseitige Ablehnung von Gewalt und Beleidigungen sein. Ein Dialog, um sich gegenseitig zu hören. 

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Tjan: Die Vertreter*nnen der ethnischen Indigenen und Minderheiten beschäftigen sich auch unter sich mit dem Thema Kolonisation und Dekolonisation, da wie wir schon erwähnt haben, darüber wird nicht in der Schule, nicht in der Gesellschaft gesprochen. Es gibt ein Podcast mit dem Namen Bashta. Mit freundlichen Genehmemigung bringen wir heute einige Passagen aus „Dem Gesprächs über die Dekolonisation“ ( https://www.youtube.com/watch?v=Yadrq0jdN-c&list=PLjI-VRWtNFhNoA45bMJhPzqY82-smpeZF&index=34&t=41s)

Es diskutieren: Kamila Smagulowa, Politologin aus Kasakhstan, Aldar Erendzhenow, Aktivist aus Kalmükien, Wasilii Matenow,  Aktivist und Gründer der Bewegung „Asiaten Russlands“ und Dankhajaa Khowalyg, Aktivistin aus Tuwa. 

Dankhajaa: Wir haben unterschiedliche Situationen in den Republiken Tuwa, Buryatien und Kalmükien. 

In Tuva leben 88% Tuwiner*nnen. Das ist praktisch eine nationale Republik. Und in Kalmückien und Burjatien ist die Mehrheit der Bevölkerung russisch. In unserer Republik sprecht die Mehrheit der Menschen Tuwinisch. In der Regel sprechen sie nicht sehr gut Russisch, oft mit einem tuwinischen Akzent.

Was bedeutet diese Geschichte für uns? Ich würde sagen: Eine Rückkehr zu mir selbst, zu meiner Würde. 

Es ist wichtig zu betonen, dass wir alle, mit Ausnahme der Kalmücken, asiatische Völker Russlands sind. Wir leben in der Nachbarschaft Sibiriens mit Burjatien, Tuwa, Jakutien, Chakassien, Altai. Das Kalmückenland liegt im europäischen Süden Russlands, umgeben von Dagestan, Wolgograd, Astrachan, Rostow und Stawropol.  

Aldar:  Die Situation bei den Kalmücken ist kompliziert. 

Wir haben unsere Würde nicht verloren. Wir haben uns in unserer ganzen Geschichte gewehrt. Wir versuchen, uns selbst und unsere Identität zu bewahren, wenn wir auch in die Knie gezwungen werden. Im Gegensatz zu euch befinden wir uns in Europa.

Wir haben also nicht so sehr das Problem der Identitätsaushöhlung wie ihr. Wie auch die Burjaten, hatten wir die stärkste Russifizierung, aber nicht in Bezug auf die Identität. Unsere Religion hat uns sehr geholfen. Selbst ihr nennt uns Kalmak … warum Kalmak? Weil wir nicht zum Islam konvertiert sind. Wir haben unsere Identität behalten. Wir haben den Buddhismus angenommen. Und der Buddhismus hat uns sehr geholfen, unsere Identität und unsere traditionellen Überzeugungen zu bewahren.  

Und was ist mit der Dekolonisierung und der Sprache?

Dankhajaa: Die Dekolonisierung ist eng mit der Einstellung zur Sprache verbunden. Die Mehrheit der Kalmücken spricht ihre eigene Sprache nicht.  Und ihr Burjaten, sprechen die meisten von euch Burjatisch?

Wasilii: Nein, das tun wir nicht. Und das ist ein Problem im modernen Russland. Ich erinnere mich, dass meine Eltern reines Burjatisch sprachen, sie kamen aus Westburjatien. Sie sprachen zu Hause Burjatisch. Wenn ich sie höre, verstehe ich sie, aber es fällt mir schwer zu sprechen. Es stellt sich heraus, dass es unsere Generation ist, die jetzt die Sprache verliert. 

Und was sollten wir dagegen tun?  

Kamila: In Bezug auf die Sprache. Während der Kolonisierung in Kasachstan nenne ich oft das Beispiel der Sprachaktivist*nnen. Sie bezeichnen ihre Tätigkeit als „Einsatz für ihre Sprache“: Es ist so, dass ein Teil der Bevölkerung die Staatssprache, also das Kasachische, nicht spricht. Wir haben oft einen Dokumentenumlauf auf Russisch. Es gibt auch Kasachisch.

Da hängt zum Beispiel eine Stellenanzeige, die auf Russisch geschrieben ist. Aber in dieser Anzeige steht, dass man die kasachische Sprache perfekt beherrschen muss. Aber wenn jemand die russische Sprache nicht perfekt beherrscht oder sie nicht benutzt, wie kann man dann diese Stellenanzeige auf Russisch lesen?  

Unsere Sprachaktivist*nnen versuchen, den Text nicht mit dem Google-Übersetzer zu übersetzen, sondern bemühen sich, ihn literarisch zu gestalten, ihn kohärent zu machen. 

Es gibt auch radikale Aktivist*nnen, die glauben, dass es nur eine Sprache geben sollte. 

Wenn sie von Zweisprachigkeit sprechen, sind das meist diejenigen, die keine Probleme mit dem Russischen haben. Und gleichzeitig ist es ein Privileg im Vergleich zu denen, die es nicht geschafft haben. 

In unserem Land ist die Sprache ein Thema, das die Gesellschaft stark polarisiert. 

Vor allem nach dem 24. Februar 2022 wurde viel darüber gesprochen. Vor allem auf nationaler Ebene. 

Wir sagen, dass dieses Thema nicht politisiert werden soll. Aber wie kann man es nicht politisieren, wenn jemand zum Beispiel eine Ankündigung auf Russisch nicht lesen kann oder nicht gut Russisch spricht. In diesem Fall kann es sein, dass eine Person nicht das gleiche Gehalt bekommt wie jemand, der zwei Sprachen perfekt beherrscht. 

Dankhajaa: Können wir sagen, dass die Dekolonisierung mit der Sprache beginnt? Wie radikal hört sich das an? Was kann man tun?

Kamila: Das ist schwer zu sagen, denn Sprache ist ein angewandtes Werkzeug. … Sie ist auch ein alltägliches Leben. Kann man zum Beispiel ins Kino gehen, um den Film Avatar in der Sprache zu sehen, die sein/ihre Großmutter zu Hause mit ihm/ihr gesprochen hat? Oder man sieht ihn in einer Synchronisation. Oder man hat das Glück, Englisch gelernt zu haben, und siehst ihn im Original an. 

Es gibt Aktivist*nnen, die sich dafür einsetzen, dass StraßenSchilder auf Kasachisch geschrieben werden. 

Es gibt viele solcher Basisbewegungen in Kasachstan. 

Übrigens wurde der Film „Avatar“ unter großer Beteiligung von Sprachaktivist*nnen ins Kasachische übersetzt. „Avatar“ auf Kasachisch brach Rekorde. Selbst diejenigen, denen es schwerfällt, Kasachisch zu lernen, sahen sich den Film an. Auch die Filme „Wakanda“ und „Black Panther“ wurden ins Kasachische übersetzt. Die Sprachaktivist*nnen sammeln Geld für die Übersetzung der nächsten Filme. Sie wollen nicht nur Untertitel, sondern auch Synchronisationen machen. 

Dankhajaa: Lasst uns versuchen, drei grundlegende Komponenten der inneren Kolonisierung zu identifizieren.

Es wäre schön, das ein bisschen zu systematisieren, 

Aldar: Erstens, ich denke, wir müssen die „Brille“ des Russentums abnehmen. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.

Man sagt, man soll die koloniale Optik auch in kleinen Dingen ändern. In Bezug auf die Herabsetzung der eigenen Kultur. Wenn sie zu uns sagen: „Ihr Wilden habt in Kibitkas und etwas anderem gelebt.“ Nehmt einfach die Brille ab, wenn euch jemand aus Moskau sagt, wie ihr leben sollt, was ihr richtig oder falsch macht. 

Nehmt diese Brille ab und erkennt, dass ihr so leben könnt, wie ihr wollt. 

Meine Entkolonialisierung begann mit meinem Traum, in die Mongolei zu fahren. Ich wollte nach 2014 schon lange dorthin, dachte nach, plante, aber es klappte einfach nicht. Aber als ich das erste Mal in die Mongolei fuhr, fuhr ich gleich in die Westmongolei, wo die Oiraten (Kalmücken)  leben. Sie waren weder der Russifizierung noch der Kolonisierung unterworfen. Sie haben sich ihre nomadische Lebensweise bewahrt.  Ich habe mit ihnen gelebt, bin nomadisch gereist, und das hat dazu beigetragen, dass genau diese „Brille“ von mir abgefallen ist. 

Mein ganzes Leben lang wurde mir gesagt, ich solle gut lernen, an Olympiaden teilnehmen, zum Beispiel an der russischen Geschichtsolympiade. Ich habe russische Geschichte studiert, ich war besser als alle anderen. Aber auf einer Reise in die Mongolei wurde mir klar, dass ich nicht einmal meine Geschichte kannte, ich kannte mein Alltagsleben nicht, meine Leute nicht. Und dann fiel diese Brille ab, und das war meine Erleuchtung, das war der Beginn meiner inneren Entkolonialisierung.

Dankhajaa: Ich glaube, Du sagst etwas sehr Wichtiges – die eigene nationale Geschichte zu studieren. 

Ich weiß, dass wir in unseren Republiken den Unterricht Geschichte der Republik, Geschichte Burjatiens, Geschichte Tuvas usw. haben. Aber aus meiner Erfahrung und der Erfahrung meiner Bekannten, irgendwie gibt es nicht viel Fokus auf das Fach und seinen Inhalt. Ich würde mir wünschen, dass jemand von dort, d. h. Historiker, über die nationalen Republiken berichtet. Denn wir wissen eine Menge über die Geschichte Russlands und insbesondere über die Geschichte des russischen Volkes, über seine Entstehung – im neunten Jahrhundert gab es Rurikowitsch und andere. Aber wir wissen nichts über unsere Republik, dass wir jahrhundertealte Zivilisationen hatten. Das ist eine riesige Geschichte, sehr wichtig, sehr interessant. Es ist schade, dass wir sie nicht kennen.     

 Wie wird Geschichte in Kalmückien gelehrt? Wie heißt das Programm in der Schule? 

  

Aldar:  Wir unterrichten Geschichte anhand der Moskauer Lehrbücher. 

Wir haben von der 7. bis zur 9. Klasse nur ein einziges Lehrbuch – ein sehr kremlfreundliches Geschichtslehrbuch. 

Dankhajaa: Wir werden das Thema der Kolonisierung noch mit unseren kasachischen, kirgisischen und allen zentralasiatischen Völkern diskutieren. Zuallererst denke ich an das Studium der nationalen Geschichte, das heißt die zu erkennen, zu verstehen und  zu studieren. Die „weißen Flecken“  zu entdecken. Wir müssen versuchen, der eigenen Vergangenheit direkt in die Augen zu sehen.  Sie zu begreifen. 

Und wenn möglich, einige unserer kulturellen und alltäglichen Gewohnheiten zu bewahren, wo es uns gefällt. Zum Beispiel alle unsere nationalen Feiertage – sie sind großartig. 

Der nächste Punkt ist die Erkenntnis, wo wir stehen. Warum wir in einer solchen Lage sind. Man sagt, wir, unsere Regionen sind arm. In der Wirklichkeit sind wir sehr reich. Alle unsere Republiken sind sehr reich an Menschen und vielen Ressourcen. Ich denke, es ist sehr wichtig, zu erkennen, dass wir sehr reich sind. 

Und um diese Dissonanz zu verstehen, die man sieht, wenn man in seiner Heimatstadt auf die Straße geht: Wenn wir so reich sind, warum leben wir dann so schlecht? Das bedeutet, unbequeme Fragen zu stellen.     

Lasst uns die richtigen Worte verwenden: zum Beispiel nicht Russ*nnen, sondern Russländer*nnen, nicht russische Gesellschaft, sondern russländische Gesellschaft. Es war kein freiwilliger Anschluss, ist nicht die Entwicklung, sondern Kolonisierung und so weiter. 

Dankhajaa: Und was wird mit der Mehrheit? Wir brauchen die Mehrheit, die uns unterstützen kann. 

Ein Beispiel dafür sind Feminist*nnen, die für die Rechte der Frauen kämpfen. Sie sagen, dass die Bewegung unwirksam ist, wenn die Männer nicht in den Kampf einbezogen werden, weil Männer in Machtpositionen in der Mehrheit sind. Die Situation ändert sich, wenn die Mehrheit einbezogen wird. … Eine Minderheit beginnt den Kampf, dann wird die Mehrheit einbezogen. Mir scheint, dass die Geschichte dies bestätigt. 

Wasilii: Die Menschen haben Angst vor dem Wort Dekolonisation, und viele Menschen in den Republiken verstehen nicht, dass, wenn sie versuchen, zu ihren Wurzeln zurückzukehren, das Dekolonisation ist. 

Darf ich den Kasachen eine Frage stellen? Haben die Menschen Angst vor dem Wort Dekolonialisierung? 

Kamila:  Es gibt einige Menschen, die sich davor fürchten. 

 Ein Teil der Russ*nnen, die in Kasachstan leben, fragt sich: „Wer sind wir?“  Ich denke, wenn man zu einer Gruppe gehört, die zu ihrer Identität zurückkehren will, hat man keine Angst.  Man geht zurück zu seinen Vorfahren, man führt einen Dialog mit seinen Urgroßmüttern, Urgroßvätern. Man kann ihre Geschichte anfassen. 

Ich stelle mir so vor: Ich öffne einen Schrank, der lange Zeit für sie oder ihn verschlossen war. man nimmst das und jenes. Es ist so viel für sie/ihn vorbereitet worden, aber man hatte voher keinen Zugang dazu. Und dann kommt man, und es stellt sich heraus, dass so viel getan worden ist.  

Und wenn man Angst hat, den Imperialismus eigener Vorfahren anzuerkennen, ist das beängstigend. Man stellt sich selbst die Frage, ob man ein Nachkomme der Kolonisatoren ist. Bin ich daran schuld? Man denkt, was soll man jetzt tun, vielleicht eine Entschädigung zahlen, wofür man nicht verantwortlich ist, was seine/ihre Vorfahren getan haben. … 

Dankhajaa: Wir müssen die russische Sprache entkolonialisieren. Ich denke, wir sollten zwischen der formalen Entkolonialisierung, bei der sich ein Land von einem anderen trennt, unterscheiden. Wir haben die Unabhängigkeit erlangt, aber wir leben weiterhin im Kontext des Kolonialismus. 

Dekolonisierung ist nicht nur eine Rückkehr zur eigenen Kultur oder Sprache. Es geht darum, frei darüber nachzudenken, wie man sein Leben gestalten kann. Wir müssen lernen, kritisch zu denken. Auch den Dialog untereinander zu suchen.

 

Tjan: Das unsere Sendung für heute. Wir würden uns freuen, Sie bei der nächsten Sendung der RG München am Di. 31. Dezember 2024 und 19:00 Uhr wieder begrüssen zu dürfen.

 

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