11-12-2024
Russlands dekoloniale Bewegung
Am 17.4.2024 verabschiedete die parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) die Resolution 25401 zu Russland und weist darin auch auf die Unterdrückung und Russifizierung der Indigenen Völker und Minderheiten in Russland hin. Die Resolution kommt unter anderem zu dem Schluss, „dass die Entkolonialisierung der Russischen Föderation eine notwendige Bedingung für den Aufbau der Demokratie in der Russischen Föderation ist“. Warum ist das Thema jetzt so wichtig?
Yana Tannagasheva (c) Nora_Erdmann1
Von Nora Erdmann
Selbst heute wird der Begriff Kolonialismus in Russland nicht auf die eigene Vergangenheit bezogen. Warum aber die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit und Gegenwart Russlands und die Dekolonisierung ein Schlüssel zur Rettung und Zukunft Russlands sind, darüber sprach Nora Erdmann mit Maria Vyushkova, Sergej Lukashevsky und Yana Tannagesheva. Dank auch an Pavel Sulyandziga und Johannes Rohr6.
Im November 2023 kam in Berlin das 11. Europäische Geschichtsforum2 unter dem Motto „Dekolonisiert Euch!“ in der Heinrich-Böll-Stiftung zusammen. Neoimperialistische Geschichtsdeutung unter Putin wurde als machtvolles Instrument zur Verfolgung politischer Ziele und der Legitimation von Angriffskriegen thematisiert. Dem stellen Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen eine ‚dekoloniale Geschichtsschreibung‘ entgegen, die auch die bisherigen russischen Narrative in der westlichen Forschung adressiert. Essentiell, um Russlands revanchistischen Ansprüchen zu begegnen. Moskau rechtfertigt bis heute seine aggressive Politik gegenüber ehemaligen Sowjetrepubliken damit, dass deren Unabhängigkeit und Souveränität keine historische Grundlage hätten.
Dazu heißt es in der jüngsten Resolution des Europarates1: „Das Regime von Wladimir Putin hat sich der neoimperialistischen Ideologie des Russkiy Mir (der ‚russischen Welt‘) verpflichtet, die der Kreml zu einem Instrument der Kriegsförderung gemacht hat. Diese Ideologie wird benutzt, um die Überreste der Demokratie zu zerstören, die russische Gesellschaft zu militarisieren und externe Aggressionen zu rechtfertigen, um die russische Föderation auf alle Gebiete auszudehnen, die einst unter russischer Herrschaft standen, einschließlich der Ukraine.“
Warum ist die koloniale Vergangenheit (und Gegenwart) Russlands kein Thema für viele russische Bürger? Wie wird das Thema stattdessen in Russland gesehen?
Sergej Lukashevsky, Historiker und Leiter des Sacharow Zentrums: „Die russische Gesellschaft kennt ihre koloniale Geschichte nicht. Das öffentliche Bewusstsein wird von einer absolut imperialen Geschichtsdarstellung über die Beziehung zwischen den Russen und den Völkern des Nordens, Sibiriens, Zentralasiens usw. beherrscht. In dieser Erzählung erscheint Russland als Wohltäter, Beschützer und zivilisierende Kraft. Das wird schon in der Schule vermittelt. Heute wissen wir immer noch sehr wenig, aber es ist mehr oder weniger klar, dass sich beispielsweise die Geschichte der Annexion Sibiriens nicht wesentlich von der Kolonisierung Kanadas unterscheidet. Die große Schwierigkeit besteht darin, dass es zu wenige Quellen zu den Ereignissen des Mittelalters und auch danach gibt. Die Geschichte muss aus einzelnen Details und Indizien rekonstruiert werden.
Ein weiterer Faktor, der die Aufarbeitung der Vergangenheit erschwert, ist die Tatsache, dass die multinationale Elite des Russischen Reiches die Mehrheit der Bevölkerung des Landes auf sehr koloniale Weise behandelte. Die russischen Bauern im frühen 19. Jahrhundert hatten das Privileg, sich mit dem großen orthodoxen Reich zu identifizieren, aber 60 Prozent3 von ihnen waren in Wirklichkeit Sklaven bzw. Leibeigene, deren Situation sich kaum von der der Afrikaner in den Vereinigten Staaten unterschied.
Auch während der Sowjetära war die Situation nicht besser, so dass die russische Gesellschaft heute an einer Art Schizophrenie leidet. Wenn es um das historische Erbe geht, identifizieren sich die meisten Menschen gerne mit dem Imperium und seiner Geschichte. Aber wenn die Frage nach der historischen Verantwortung gestellt wird, verweisen viele auf die Tatsache, dass „die Russen alle genährt haben“ und die Bevölkerung der baltischen Staaten, der Ukraine oder Transkaukasiens in den Sowjetjahren besser lebte als die Russen im historischen Kern Russlands. Das macht das Gespräch über die Entkolonialisierung Russlands sehr schwierig, hebt aber die Bedeutung des Problems nicht auf. Ohne Entkolonialisierung ist es unmöglich, den autoritären Kurs der Entwicklung des Landes zu überwinden.“
Warum ist es so schwer, die Geschichte der Kolonisierung nachzuvollziehen?
Ein Problem liegt in der Art der Aufzeichnungen begründet, sind doch Archive und Material selbst immer noch unter imperialer Perspektive aufgebaut und organisiert. Diese Archive befinden sich in Russland. Nur dort lässt sich rekonstruieren, wie die russische Bürokratie mit den Kolonien und den Menschen umging. Originale Stimmen der Kolonisierten überhaupt zu finden, ist ungleich schwieriger. Durch die Russifizierung und mangelnde Sprachförderung ging vieles, was hätte überliefert werden können, verloren, die Geschichte wurde nicht aufgeschrieben. Gibt es keine Geschichte, gibt es kein Volk.
Wie wurde Russland zum größten Territorialstaat der Welt?
Auf dem Europäischen Geschichtsforum1 wies die Historikerin Botakoz Kassymbekova, die an der Uni Basel u.a. über russischen Kolonialismus und die sowjetische Invasion in Zentralasien forscht, auf einen wesentlichen Unterschied zu der westlichen Kolonialgeschichte hin: Das russische Reich wuchs als Imperium, das über Land expandierte, es nahm die angrenzenden Länder einfach ein. Während der westliche Übersee-Kolonialismus vor allem auf die Ausbeutung von Arbeitskräften, vor allem Sklaven, ausgelegt war, ging es bei der russischen Expansion um die Erweiterung des eigenen Territoriums und den Zugriff auf Rohstoffe und wertvolle Tribute der unterworfenen Völker. Russland wurde so zum territorial größten Land der Welt. Tragende Säule dieser Kolonisierung war die ‚Russifizierung‘. Diese imperiale Logik sei nach wie vor im Denken der russischen politischen Elite verwurzelt, so Kassymbekova. Ethnien wurden assimiliert oder ausgelöscht. In der Sowjetunion war es Praxis, dass Kinder ihren Familien entrissen und in Internate gesteckt wurden, um sie zu Russen zu erziehen. Schon während der Zarenzeit gängige Adoptionen von Waisenkindern in den Kolonien durch russische Eltern beschreibt sie als Teil eines ‚kulturellen Völkermords‘.
Indigene Völker sind weltweit die Leidtragenden von Kolonialismus, ohne sie kann es keine Dekolonisierung geben.
Yana Tannagasheva, Schorin und russische indigene Aktivistin im schwedischen Exil, Gründungsmitglied des International Committee of Indigenous Peoples of Russia (ICIPR) fordert die Anerkennung und Wahrnehmung der indigenen Völker und aller mit ihnen verbundenen Rechte.
„Indigene Völker auf der ganzen Welt sind Opfer von Kolonialismus, so auch im Russischen Reich, der Sowjetunion und nun in der Russischen Föderation. Die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen ist eines der wichtigsten Ziele und Rohstoffhandel die Haupteinnahmequelle des russischen Staates. In diesem Zusammenhang wurden die indigenen Völker auf dem Gebiet Russlands gewaltsam erobert und assimiliert. Bis hin zur heutigen forcierten Militarisierung.
Die Rechte der indigenen Völker anzuerkennen und zu respektieren, zu verstehen, dass die Gebiete des Kaukasus, des Nordens, Sibiriens und des Fernen Ostens besetzt wurden und dass die Politik des Imperiums seine indigenen Völker absichtlich vernichtet hat – das ist es, was wir zuallererst anstreben, unabhängig von der Zukunft des Landes.
Was erwartet unsere indigenen Völker in der Zukunft? Sowohl Auflösung oder Zerfall der Russischen Föderation als auch der Umbau hin zu einer demokratischen Föderation mit Autonomie und Selbstverwaltung sind denkbar und sollten jetzt diskutiert werden, und zwar von allen. Ohne indigene Völker ist es unmöglich, über zukünftige Prozesse zu sprechen.“
Spektrum an Möglichkeiten
In einem von Meduza4 veröffentlichten Artikel, den die Journalistin Leyla Latypova für The Beet geschrieben hat, wird das Spektrum dieser Möglichkeiten ebenfalls angeführt: „Die Meinungsvielfalt innerhalb der dekolonialen Bewegung erstreckt sich auch auf die Visionen für die Zukunft der verschiedenen Republiken. Radikalere Bewegungen wie die Liga der Freien Nationen fordern die Abspaltung von Russland und drängen auf die vollständige Unabhängigkeit der in ihr vertretenen Nationen, darunter Baschkiren, Burjaten, Erzyas, Kalmücken und Tataren. Andere, eher pazifistisch orientierte Gruppierungen betonen den gewaltlosen Widerstand und die Verwirklichung ihres Rechts auf Selbstbestimmung durch demokratische Verfahren, und einige spielen mit dem Gedanken, eine größere Autonomie innerhalb des russischen Föderalstaates zu erreichen.“4
Ist eine nationale Versöhnung möglich?
Einer der international bekanntesten und in UN-Kreisen renommierten russischen Indigenen, der Udege Pavel Sulyandziga bekräftigte in einem in der Moscow Times veröffentlichten Essay5: „Für die indigenen Völker Russlands ist es von entscheidender Bedeutung, dass der russische Staat und die Gesellschaft die historische Tatsache der Kolonialisierung anerkennen. Dies könnte der Ausgangspunkt für eine neue, gerechtere Beziehung zwischen den indigenen Völkern und dem Staat sein. Eine solche Anerkennung ist der erste Schritt zu einer nationalen Versöhnung, wie sie in Kanada, Norwegen, Australien und anderen Ländern mit einer ungerechten Geschichte gegenüber ihren indigenen Völkern stattgefunden hat.“ 5
Obwohl Sulyandziga in seinem Artikel vor einem Zerfall der Russischen Föderation in korrupte Autokratien nach dem Muster der asiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken warnt, hat ihn die Russische Föderation zu einer Gefahr für Russland und als unerwünscht erklärt. So ergeht es inzwischen Vertreter*innen und Aktivist*innen von indigenen Völkern und Minderheiten, die Kritik an den bestehenden Verhältnissen, Putins Regime und dem imperialen Krieg gegen die Ukraine führen.
Historische Wahrheit statt Geschichtsrevisionismus
Sulyandziga schreibt in seinem Essay weiter:“ Darüber hinaus könnte die Anerkennung der Kolonisierung als Prozess und des unbestreitbaren Erbes des Russischen Reiches und seiner Nachfolgestaaten der Ausgangspunkt für den Aufbau eines neuen Staates sein, der auf Geschichtsrevisionismus zugunsten der historischen Wahrheit verzichtet.“
Die Hauptaufgabe sieht er darin, den Fortbestand der indigenen Völker Russlands zu sichern. Was die Perspektive einer Eigenstaatlichkeit betrifft, ist er dagegen skeptisch: „Wir leiden unter dem Mangel an qualifizierten Fachkräften, der geografischen Isolation unserer angestammten Gebiete, dem niedrigen Bildungsniveau unseres Volkes und den unzureichenden finanziellen und administrativen Ressourcen. Hinzu kommt, dass wir in den Regionen, die unsere angestammte Heimat sind, größtenteils nur eine Minderheit der Bevölkerung darstellen.“ 4
Der Ukrainekrieg und die Militarisierung
Die in den USA lebende burjatische Quantencomputerforscherin Maria Vyushkova hat eine Analyse zu den Opferzahlen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine vorgelegt. Sie weist auf eine unverhältnismäßig hohe Zahl von Opfern unter den kleinen indigenen Gemeinschaften im Norden Russlands, in Sibirien und im Fernen Osten hin, einschließlich der Tschuktschen und Nenzen, die nach dem russischen Gesetz über die Rechte der kleinen indigenen Völker vom Militärdienst ausgenommen sind. Die Mehrheit der toten Soldaten sind ethnische Russen, aber die nicht-slawischen Minderheiten des Landes und die indigenen Völker sind unter den Verlusten im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung des Landes überrepräsentiert. Vyushkova kritisiert die bittere Armut und wirtschaftliche Ungleichheit in den Regionen als strukturelles Problem, das die Männer in die Armee treibt. Warum müssen Indigene ärmer sein als Russen? 4
Russlands Narrativ der imperialen Unschuld
Die Geschichte der russischen Kolonisierung Nordasiens sei nie wirklich diskutiert worden, so Vyushkova: „Die so genannte ‚imperiale Unschuld Russlands‘ war das einzige Narrativ, das in der Öffentlichkeit existierte, nicht nur während der Sowjetära, sondern auch danach. Der Begriff ‚Kolonisierung‘ wurde nie verwendet, es hieß immer ‚friedliche und freiwillige Vereinigung mit Russland‘. Auch professionelle Historiker in Russland sind oft äußerst unwissend über diese Seite der russischen Geschichte. So behauptete beispielsweise der promovierte Historiker Vladimir Ryzhkov vor einigen Jahren in einer russischen Fernsehsendung, dass ‚das Russische Reich niemals auch nur einen einzigen Burjaten unterdrückt hat, Russland war immer eine liebevolle Völkerfamilie‘.“
Moment des Erwachens für die indigene dekoloniale Bewegung in Russland
Vyushkova beschreibt die russische Invasion in der Ukraine im Jahr 2022 als gewaltigen und grausamen Weckruf für die ganze Welt inklusive der indigenen Bevölkerung Russlands. Den Aufschwung des indigenen dekolonialen Aktivismus in Russland nach dem 24. Februar 2022 führt sie auf mehrere Faktoren zurück:
„Zunächst einmal wurde deutlich, dass Russlands militärische Aggression gegen die Ukraine auf die koloniale Denkweise des 19. Jahrhunderts zurückzuführen ist, die nicht nur im Kreml, sondern auch in der russischen Gesellschaft selbst noch immer vorherrscht. Russland betrachtet die ehemaligen Teile der Sowjetunion sowie die ehemaligen Mitglieder des Ostblocks und die ehemaligen Teile des Russischen Reiches wie Finnland immer noch als seine eigenen rebellischen Provinzen, die es mit einem gottgegebenen Recht unterwerfen und wieder unter seine Kontrolle bringen kann.
Zudem ist die Art und Weise, wie Russland die Ukrainer als Menschen ‚zweiter Klasse‘ mit einer ‚falschen‘ Nation und einer ‚falschen‘ Sprache behandelt und versucht, ihre Sprache und Kultur auszulöschen (einschließlich der Entführung und erzwungenen „Umerziehung“ der ukrainischen Kinder), der sehr ähnlich, wie die indigenen Völker Nordasiens in Russland behandelt werden, vor allem die kleinen Völker des Nordens und des Fernen Ostens Russlands. Rassismus und Diskriminierung der indigenen Völker sind in Russland weit verbreitet.“
Der Ukrainekrieg ist ein kolonialer Krieg
Drittens ist es offensichtlich, dass die Strategie des Kremls darin besteht, die Last dieses ungerechten Krieges auf die Schultern der Schwächsten zu legen, um die sich niemand kümmert: die Sträflinge, die Bevölkerung der abgelegenen und armen Regionen, einschließlich ethnischer Minderheiten, und die Migranten aus den zentralasiatischen Staaten. Die Rekrutierung von Menschen aus den kolonisierten Nationen für weitere koloniale Kriege ist offensichtlich eine koloniale Praxis, ebenso wie die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, die nur den Metropolen finanziell zugutekommt, während die indigene Bevölkerung mit den dabei verursachten Umweltschäden zu kämpfen hat.
Der russische Überfall auf die Ukraine wurde zu einem Moment des Erwachens für die indigene dekoloniale Bewegung in Russland. Die Probleme der Indigenen und ethnischen Minderheiten gab es bereits vor dem 24. Februar 2022. Aber die russische Invasion in der Ukraine, die unverhältnismäßig hohe Zahl an Todesopfern, die die indigene Bevölkerung zu beklagen hat, und der Versuch, die indigene Bevölkerung zu den Hauptverantwortlichen für die russischen Kriegsverbrechen zu machen, haben dazu geführt, dass die „kritische Masse“ erreicht wurde und eine Kettenreaktion von dekolonialem Aktivismus, Organisationen und Bewegungen ausgelöst hat.“
1 https://pace.coe.int/en/files/33511/html
2 https://www.boell.de/de/2023/11/29/11-europaeisches-geschichtsforum-dekolonisiert-euch
3 Vgl. Alexander Etkind „Internal Colonisation“
4 https://meduza.io/en/feature/2024/03/01/not-russians-little-brother-anymore
6 Vgl. https://zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2024/1-3/kolonisiert/
Sergey Lukashevsky (c) Masha Kushnir
Maria Vyushkova (c) Herve Philippe
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