29-12-2021
Reservate in den USA: Ein sicherer „Lebensraum“?
Von Wolfgang Mayr
Diese Grenzländer in der USA sind oft Regionen von Nachfahren indigener Völker, die sich noch immer kulturell von ihrem Umland und vom Staatszentrum unterscheiden. Trotz ihrer geographischen Abgelegenheit in den Weiten der Vereinigten Staaten rücken sie immer wieder in den Focus, stellt Nieshner-Bruckner für den Arbeitskreis Indianer Nordamerikas (AKIN) fest.
Auf Reservaten wird Öl gefördert, Kohle und Uran abgebaut, Industriemüll gelagert, Staudämme hochgezogen oder es werden umstrittene Großprojekte umgesetzt, wie die Dakota Access Pipeline quer durch das Land der Lakota oder Enbridge Line 3 vom kanadischen Alberta bis in den US-Bundesstaat Wisconsin. Die Interessen der davon betroffenen Reservate wurden nicht zur Kenntnis genommen.
„Heute können die aktuell bestehenden Reservate, die nach der großen Siedlerbewegung im 18. Jahrhundert entstanden, als versteckte Grenzräume betrachtet werden. Hier gibt es eine klare Verbindung zwischen Ethnizität und Territorialität obschon aktuelle Reservatsgrenzen nicht immer mit den ursprünglichen Siedlungsräumen übereinstimmen,“ erklärt Niehsner-Bruckner. Sie bezeichnet Reservate als Rückzugsorte für die Nachkommen der Ureinwohner und als Trostpreis für das gestohlene Land.
In diesen Grenzgebieten ist laut Nieshner-Bruckner die Staatsmacht abwesend, auch deshalb, weil sie nur über eingeschränkte gesetzliche Gewalt verfügt. Trotzdem ist der föderale Staat Eigentümer des Landes, „das er zur freien Verfügung verwaltet. Die ungleiche Machtverteilung zeigt sich deutlich,“ macht die Geografin auf die fehlende Balance zwischen Reservats-Verwaltungen und der US-Regierung aufmerksam.
Mit einigen Abweichungen trifft auf die Reservate die geographische Grenzland-Theorie zu, „wonach es sich um Landstriche handelt, die der Definition nach zum Staatsgebiet gehören, jedoch kaum verbunden sind mit dem administrativen Zentrum des Landes,“ erläutert Nieshner-Bruckner.
Laut Nieshner-Bruckner ist noch immer der Siedlerkolonialismus die vorherrschende US-Ideologie gegenüber indigenen Bevölkerungsgruppen. „Das Konzept verbindet die Aspekte der Landnahme im Zuge der kolonialistischen Ausbeutung Nordamerikas mit der Idee einer langfristigen Ansiedelung auf annektiertem Grund. Siedler-Kolonialismus wird daher heute als andauernder Prozess beschrieben, der Akkumulation von Kapital und Ressourcen, welcher zum Nachteil nicht-weißer Bevölkerung strukturiert ist (Launius/Boyce 2021:157),“ umschreibt die Geografin den kolonialen Status der Reservate. Diese Struktur der Kolonialisierung lebt dadurch weiter und kontrolliert Territorien und Ressourcen zum Nachteil indigener Völker, führt Nieshner-Bruckner aus.
Die Siedler aus Europa und ihre Nachfahren sind in die Gebiete der Ureinwohner vorgedrungen, um zu bleiben. Sie eigneten sich fremdes Land an, unterwarfen oder vertrieben die alteingesessenen Bevölkerungen und plündern das Land. In den Randgebieten wird auch heute noch teilweise viel Land nicht genutzt, das weckt die Gelüste auf Nutzung, auf das Plündern.
Nutzen um zu plündern, dieser Raubbau wird als Entwicklung beschrieben, als Argument gegen die indigene Landnutzung, die als rückständig und unproduktiv verunglimpft wird. Ein typisches Beispiel dafür ist das Großprojekt der riesigen Öl-Pipeline von Nord-Dakota nach Illinois, die Dakota Access Pipeline (DAPL). Die betroffenen Sioux-Nationen verklagten die Behörden. Sie begründeten ihre gerichtliche Eingabe mit dem Hinweis, dass die Pipeline die Trinkwasserversorgung bedrohen könnte. Ein schwieriges Unterfangen, weil das US Army Corps of Engineers den Pipeline-Bau genehmigt hatte.
„Rein rechtlich, hatte das Volk der Sioux keine Möglichkeit gegen die Pipeline vorzugehen. Dennoch organisierten sie Proteste. Im Endeffekt überarbeitete die bescheiderlassende Behörde ihre Entscheidung und eine alternative Route wurde gefunden,“ ein Erfolg der Sioux, kommentiert Nieshner-Bruckner für AKIN.
Die Reservatsverwaltung von Standing Rock lud zu einem Protestcamp an, das von vielen Menschen aufgesucht wurde. Die US-Medien ignorierten lange den Protest in den Weiten der Prärie.
„Der hauptbetroffene Stamm Standing Rock hatte zu Beginn der Proteste den Slogan ´Wasser ist Leben` festgelegt. Das führte dazu, dass sich bald verschiedene Umweltorganisationen und SympathisantInnen den Protesten anschlossen. Für das Recht auf Wasser zu protestieren war sicher eine eingängige Forderung, brachte aber auch Nachteile mit sich, in der die Souveränität des Stammes rasch in den Hintergrund geriet,“ erläutert Nieshner-Bruckner den Erfolg des Protestcamps. Aber, „speziell das Argument nationaler Souveränität wird entwertet, wenn ökologische Themen die Oberhand gewinnen. Indigene Völker werden dabei romantisiert und schlicht zu Wächtern der Natur stilisiert. Sie werden nicht mehr als moderne, unabhängige Nationen mit eigener Willensbildung wahrgenommen,“ wirft Nieshner-Bruckner aus den Unterstützern mangelndes Wissen vor.
Das Camp zog aber nicht nur städtische Umweltschützer an, auch Angehörige von Nachbar-Stämmen nahmen am Camp teil. Eine Art pan-indianische Allianz entstand, „die Idee von Reservaten, in denen Völker isoliert und geschwächt werden sollten, wurde durch diese Proteste kurzzeitig neutralisiert und neue Bündnisse wurden geschlossen“ Moore 2019: 173).
Das „weiße“ Umland der Reservate lehnte den Protest und den Widerstand gegen den Pipeline-Bau strikt ab. Es wiederholte sich die alte Geschichte der „Landnahme“. Staat, Konzerne, Sicherheitskräfte und die weiße Mehrheitsgesellschaft stellten sich gegen die Reservats-Bevölkerung. Die Berichterstattung strotzte vor rassistischen Vorurteilen, wie brachliegendes also nutzloses Land, gesetzeslose Protestierer, das „Naturgerede“ indianischer AktivistInnen. „Eine rassistische Berichterstattung versuchte den Protest zu delegitimieren, indem ihnen unterstellt wurde, sie wären unfähig „ordentlich“ für ihre Bedürfnisse einzustehen. Stattdessen wurde stark auf die ökonomischen Argumente fokussiert. Spirituelle Beziehungen zum Land wurden lächerlich gemacht, im Vergleich zur Möglichkeit einen monetären Marktwert zu schaffen,“ schreibt Nieshner-Bruckner.
Sie bedauert, dass im Streit um die Pipeline zwei konkurrierende Diskurse das indigene Anliegen verdrängten, also der Schutz der Umwelt in Form einer Wasserquelle und die kapitalistische Logik des Wachstums mit einer stark rassistischen Note. „Alle anderen Argumente wurden als rückständig und uneffektiv abgewertet, da sie in der Logik des Siedler-Kolonialismus von Akkumulation und Kontrolle keinen Platz haben.“
Die Ideologie des wirtschaftlichen Wachstums überlagert die Rechte der Natur genauso den Schutz indigener Lebensräume. Die weiße Siedler-Gesellschaft schert sich in ihrem Energie- und Wasserhunger wenig um die Bedürfnisse der Reservate, schon gar nicht um die unbestrittenen Reservatsgrenzen. Die Folgen, „bereits jetzt leben zwei Drittel indigener US-Amerikaner in urbanen Räumen außerhalb der Reservate. Der stetige Angriff auf indigenes Land unter Inkaufnahme sich verschlechternder Lebensumstände zeigen, dass der Siedler-Kolonialismus immer noch aktiv wirkt.“
Mag. Niehsner-Bruckner studierte an der Uni Wien im Master Geographie und beschäftigte sich mit moderner Grenztheorie. Grenztheorie wird in der Literatur meist auf Gebiete in Südamerika und Südostasien angewandt (Brasilien, usw) die tatsächlich als unerschlossen gelten. In diesem Artikel wird daher versucht die theoretischen Implikationen auf einen modernen Staat und auf die Situation einer vermeintlich abgeschlossenen Kolonialisierung anzuwenden.
Weitere Informationen:
Videos vom Protestcamp:
North Dakota Native Americans protests pipeline plans
Dakota Access Pipeline Protesters: ‚The World Needed To See What Was Going On‘ | NBC News
Das Info-Angebot von democracy now:
Dakota Access Pipeline | Democracy Now!
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