Neukaledonien-Frankreich: Über ein “historisch” zweideutiges Abkommen

Die katalanische NGO Ciemen analysiert den jüngsten französisch-neukaledonischen Vertrag

Die korsischen Autonomisten solidarisieren sich mit der kanakischen Befreiungsfront FLNKS und deren Forderung nach Eigenstaatlichkeit. Foto: Unità Naziunale

Die korsischen Autonomisten solidarisieren sich mit der kanakischen Befreiungsfront FLNKS und deren Forderung nach Eigenstaatlichkeit. Foto: Unità Naziunale

Von Wolfgang Mayr

 

In dem als historisch hochgelobten Abkommen liegen Hoffnungen und Zweifel eng beieinander, findet Ciemen. Das zeigen auch die Reaktionen der neukaledonischen Verhandlungspartner, der Loyalisten und der Unabhängigkeitsbefürworter. Unterschiedliche können die Bewertungen wohl nicht ausfallen.

Laut der französischen Regierung wird aus der “kollektiven Entität” mit Sonderstatut ein Staat. Der Pakt sieht mehr Selbstverwaltung und die internationale Anerkennung vor. Neukaledonien bleibt aber ein Staat im Staat, also Teil Frankreichs.

Das “Bougival-Abkommen” unterzeichneten Minister Manuel für Frankreich, für Neukaledonien die gesamte politische Konstellation von den Loyalisten bis zu den Unabhängigkeitsparteien, darunter auch die kanakische Befreiungsfront FLNKS. Doch ein Zeichen der allgemeinen Unterstützung, kommentiert das Ciemen die vielen Unterschriften.

Aber, ergänzt Ciemen, die Unterschreibenden haben sich “nur” verpflichtet, das Abkommen in ihren Parteien “weiterzubringen”. Das Abkommen soll im Februar 2026 einem Bürgervotum unterzogen werden.

Alle Beteiligten hoffen aber, dass das Abkommen Neukaledonien eine friedliche Zukunft ermöglicht. Im vergangenen Jahr eskalierte eine Wahlrechtsreform zugunsten der zugezogenen französischen Staatsbürger in gewaltsamen Protesten zwischen kanakischen Aktivist:innen sowie loyalistischen Milizen und der französischen Armee. Die Folgen waren vierzehn Tote und ein Sachschaden von zwei Millionen Euro.

 

Auch FLNKS für das Abkommen

Die FLNKS-Verhandlungsdelegation begrüßt das Abkommen als ”großen Fortschritt in Richtung Souveränität”. Immerhin werde ein Staat geschaffen, betont die Unabhängigkeitsformation FLNKS, der international anerkannt werden kann.

Das Abkommen lässt aber offen, merkt Ciemen an, was die internationale Anerkennung bedeutet, wenn der Staat Neukaledonien weiterhin Teil des französischen Staats bleibt. Das Abkommen sieht neben der Schaffung des Staates und seiner internationalen Anerkennung auch eine eigene Außenpolitik vor, eine neukaledonische Staatsangehörigkeit und eine eigene Verfassung. Zudem sollen weitere dem französischen Staat vorbehaltenen Zuständigkeiten an Neukaledonien übertragen werden können. Aufrecht bleibt, unterstreichen die FLNKS-Verhandlungsteilnehmer, das Recht auf Selbstbestimmung.

 

Begeisterte Loyalisten

Die Unionisten und Loyalisten interpretieren das Abkommen völlig gegensätzlich. So bleibt laut ihrer Ansicht die neukaledonische Staatsangehörigkeit weiterhin an die französische Staatsangehörigkeit gebunden und der Staat Neukaledonien unter der “Herrschaft” Frankreichs.

Damit nahm die französische Regierung, stellen Unionisten und Loylalisten fest, die Nein-Ergebnisse der drei Unabhängigkeitsreferenden 2018, 2020 und 2021 zur Kenntnis. Wie wird der neukaledonische Staat dann aussehen, fragt sich das Ciemen: Wird er in einer direkten Beziehung zu Frankreich stehen? Wird Neukaledonien UN-Mitglied? Oder handelt es sich letztendlich nur um eine erweiterte Autonomie?

Eine Frage ist auch, wer sich in der Befreiungsfront FLNKS durchsetzen wird. Die Front ist eine Parteien-Koalition. Manche unterstützen das Abkommen, andere wiederum wollen an der bisherigen Linie der Entkolonialisierung und Unabhängigkeit festhalten.

 

Auf dem Weg zu einem unabhängigen Neukaledonien?

Frankreich hält weiterhin wesentliche Befugnisse in “seiner Hand”: Währung, Verteidigung, Sicherheit, öffentliche Ordnung und Justiz. Laut dem Abkommen können diese aber an den neukaledonischen Staat übertragen werden. Vorgesetzt, 60 Prozent der Abgeordneten des neukaledonischen Kongresses stimmen der Übertragung zu.

Anschließend soll ein französisch-neukaledonischer Ausschuss über “die Modalitäten und die finanziellen, rechtlichen und technischen Auswirkungen” verhandeln. Das Ergebnis kann dann als “gemeinsames Projekt“ einem Referendum unterworfen werden.

Ciemen fand auch hier einen Schwachpunkt im Abkommen. Es bleibt nämlich offen, ob Frankreich die erwähnten Transfers der Kompetenzen einschränken könnte. Eine Handhabe hat Frankreich in dem Abkommen festgeschrieben. Bei den Kongresswahlen im nächsten Jahr dürfen alle Bürger:innen Neukaledoniens wählen. Die bisherigen Beschränkungen – neukaledonischer Geburtsort und/oder zehnjährige Ansässigkeit – fallen weg.

Auf diese Wählenden setzen die Unionisten und Loyalisten, die sich nicht von Frankreich lösen wollen. Sie hoffen, künftig 60 Prozent der Kongressabgeordneten zu stellen.

Und noch eine weitere Hürde sieht das Abkommen vor. So wurde die Mandatsverteilung im Kongress neu geregelt. Die fünf südlichen Provinzen, in denen die Loyalisten stärkste Kraft sind, wurden gestärkt, geschwächt hingegen der Norden und die Loyalitätsinsel mit “kanakischer Mehrheit”.

Erwähnenswert findet das Ciemen im Bougival-Abkommen die “Integrationsbedingungen“ für die Erlangung der neukaledonischen Staatsangehörigkeit. Wohl auch eine Konzession an die Unabhängigkeitsbefürworter, im künftigen Grundgesetz die Einbürgerung zu definieren, auch mit entsprechenden Einschränkungen.

Die weitere Entwicklung wird auch davon abhängen, wie der Artikel über den Staat Neukaledonien in der französischen Verfassung formuliert wird. Einigkeit besteht darüber, dass Titel XIII der Verfassung, der den derzeitigen besonderen Charakter Neukaledoniens berücksichtigt, geändert wird: Er muss den neukaledonischen Staat und seine institutionelle Organisation widerzuspiegeln. Für diese Abänderung reicht im ersten Wahlgang eine einfache Mehrheit, im zweiten Wahlgang müssen drei Fünfteln der beiden Kammern des Kongresses zustimmen. Das Rassemblement National kündigte bereits Widerstand an. Marine Le Pen steht der Idee eines Staates und einer Nationalität Neukaledonien skeptisch gegenüber.

Offen ist, wie der französische Verfassungsrat reagieren wird. Die Verfassungsrichter werden prüfen, ob das Abkommen überhaupt verfassungskonform ist. Und sie werden sich auch mit der im Abkommen vorgesehenen möglichen Übertragung bisheriger staatlicher Kompetenzen auf Neukaledonien beschäftigen. Die Verfassungsrichter könnten das Abkommen ablehnen, weil es die französische Verfassung verletzt.

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