Nach der Massenvertreibung aus Arzach: Neuanfang in der Republik Armenien?

Interview mit Siranush Sargsyan, Journalistin aus Arzach/Bergkarabach

Die Vertriebene Warja Awanesjan nahm eine typische Arzacher Churdschin-Tasche mit. (Foto: Siranush Sargsyan)

Die Vertriebene Warja Awanesjan nahm eine typische Arzacher Churdschin-Tasche mit. (Foto: Siranush Sargsyan)

Von Tessa Hofmann

Siranush Sargsyan ist eine freiberufliche Journalistin aus Stepanakert, der Hauptstadt der einstigen De Facto-Republik Arzach. Sie berichtet über Menschenrechte, Politik, Konflikte und Post-Konflikt-Umgebungen. Sie veröffentlicht regelmäßig in regionalen und internationalen Medien, darunter Newsweek, The Armenian Weekly und Institute for War and Peace Reporting (IWPR). Zurzeit absolviert sie ein Praktikum bei der „Tageszeitung“ (taz) in Berlin. 

        • Am 19. September 2023 begann die vollständige Vertreibung und der Massenexodus aus der De-facto-Republik Arzach. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

Obwohl wir fast zehn Monate lang ausgehungert und belagert wurden und die Hoffnung schwand, konnten wir uns immer noch nicht vorstellen, dass es einen groß angelegten Angriff Aserbaidschans geben würde. Man will sich nie vorstellen, dass morgen ein Krieg beginnt. Obwohl er nur einen Tag dauerte, kam er uns wie eine Ewigkeit vor. In diesen vierundzwanzig Stunden waren alle zwei Minuten Explosionen zu hören. Bei der ersten Explosion wurde sogar das Kraftwerk mit begrenzter Leistung angegriffen, und die anschließend fehlende Kommunikation machte die Situation noch unerträglicher. Eltern rannten unter Explosionen zu den Schulen, um ihre Kinder zu finden, während die Kinder versuchten, nach Hause zu rennen. Auf dem Weg dorthin blieb das Herz des zehnjährigen Gor vor Angst stehen. Einige Stunden später erreichten Tausende von Bürgern, die nur knapp aus den Dörfern durch die Wälder entkommen waren, Stepanakert, aber die Stadt war bereits nicht mehr in der Lage, ihnen zu helfen, da es an Lebensmitteln und Medikamenten mangelte. Ehefrauen und Mütter hatten keine Informationen über ihre Angehörigen in den Militärstellungen. Selbst nach dem Ende der Militäroperationen waren Tausende von Soldaten noch immer umzingelt und konnten erst einige Tage später ihre Verwandten erreichen. Ihre Familien warteten mehrere Tage lang in Ungewissheit.

  • Flucht, Vertreibung oder beides? Wie verlief die Massenflucht?

Als nach der Kapitulation beschlossen wurde, dass alle armenischen Soldaten ihre Waffen abgeben sollten, fühlte sich niemand mehr sicher. Zuerst die Dorfbewohner und dann auch die Bewohner der Hauptstadt, die bereits Aserbaidschaner in den Außenbezirken der Stadt entdeckten, erkannten, dass sie nicht bleiben konnten. Nach Monaten des Leidens und der Entbehrungen beschlossen sie, zu fliehen, um zumindest ihre Familien zu retten. Die Zwangsumsiedlung war die Hölle auf Erden. Für die Strecke von Stepanakert zur armenischen Grenze, die normalerweise zwei Stunden dauert, brauchten wir zwei bis drei Tage. In mancher Hinsicht erinnerte es an Der Sor.¹ Hungrig, ausgemergelt, verängstigt – einige hatten Angehörige verloren und konnten sie nicht begraben – mussten sie diese unerträgliche Reise über sich ergehen lassen. 64 Menschen starben auf dieser höllischen Strecke, weil sie den unerträglichen Bedingungen nicht standhalten konnten. Unterwegs wurden auch Kinder geboren. Fast alle Männer waren der Meinung, dass Aserbaidschaner sie an der Grenze gefangen nehmen würden, weil Aserbaidschaner monatelang Gerüchte verbreitet hatten, dass sie alle Männer verhaften würden, die an einem Krieg teilgenommen hatten.²

  • Was bedeutet Arzach/Bergkarabach für Sie persönlich? Was vermissen Sie am meisten?

Arzach ist mein Wesen, meine Identität, meine Vergangenheit. Ohne Arzach fühle ich mich, als wäre ich aus der Erde herausgerissen. Vielleicht ist es seltsam, aber ich fühlte mich dort sicherer, selbst nachdem ich vier Kriege durchgemacht hatte. Jetzt fühle ich mich nirgendwo mehr sicher. Sehnsucht ist ein unerklärliches Gefühl. Manchmal vermisse ich insgesamt Arzach als Heimatland, das uns genommen wurde, aber manchmal vermisse ich auch Einzelheiten – das Haus, in dem ich meine Kindheit verbracht habe, unsere Kirchen, unsere Berge, die endlos schienen, manchmal sogar die kleinsten zurückgelassenen Dinge, die ich jetzt endlos versuche, in ähnlicher Form auf der ganzen Welt wieder zu finden und zu vergleichen. Es fällt furchtbar schwer, von den Gräbern seiner Angehörigen getrennt zu sein. Neben der Sehnsucht besteht ein Gefühl der Schuld, sie dort allein gelassen zu haben.

  • Gibt es für die Vertriebenen eine realistische Chance, zurückzukehren? Und wenn ja, unter welchen Bedingungen?

Leider ist unsere Rückkehr nach Arzach nur ein Traum, zumindest derzeit. So sehr wir uns auch bewusst sind, dass wir dieses Recht auf Rückkehr besitzen, aber ohne ernsthafte Sicherheitsgarantien ist das nicht vorstellbar, und ich sehe heute kein Land und keine Streitkräfte, die bereit wären, uns diese Garantien zu geben.

  • Wie beurteilen Sie die Politik der derzeitigen Regierung der Republik Armenien in Bezug auf Arzach? Setzt sie sich für das Rückkehrrecht der Vertriebenen ein? Für die Wiedergutmachung ihrer materiellen Verluste?

Leider unternehmen die armenischen Behörden nichts, um unser Recht auf Rückkehr zu verwirklichen. Wir haben diesbezüglich mehr Äußerungen über unsere Rückkehr von Vertretern anderer Staaten gehört. Die armenischen Behörden rechtfertigen ihr Verhalten damit, dass sie keine Hindernisse für die Unterzeichnung eines Friedensvertrags mit Aserbaidschan schaffen wollen, aber es fällt mir schwer zu verstehen, wie sie sich diesen Friedensvertrag vorstellen, wenn Bergkarabach, die Vergangenheit und unsere Rückkehr nicht erwähnt werden. Was die Entschädigung für unser verlorenes Eigentum betrifft, habe ich auch in dieser Hinsicht keine großen Erwartungen. Obwohl einige Schritte unternommen wurden, um Ansprüche vor einem internationalen Gericht geltend zu machen, haben einige Menschenrechtsverteidiger bereits ihre Bedenken geäußert und keine Hoffnung, dass dies Realität wird.

  • Was waren Ihrer Meinung nach die Hauptgründe für das Scheitern der Verhandlungen über ein Friedensabkommen mit Aserbaidschan im Zeitraum 1994–2020?

Weder in Armenien und Bergkarabach/Arzach noch in Aserbaidschan waren die Gesellschaften auf einen solchen Frieden vorbereitet. Wir Armenier wollten ganz sicher keinen Krieg, in welcher Form auch immer, und hielten den bestehenden fragilen Frieden, der ein Status quo bzw. ein „eingefrorener Konflikt“ war, für ausreichend, solange wir nur in unserer Heimat blieben. Aserbaidschan hingegen bereitete sich auf einen Krieg vor und beschloss, das Problem durch Krieg zu lösen, da es nicht nur die Unterstützung, sondern auch die direkte Beteiligung der Türkei besaß.

  • Wie ist die Situation der aus Arzach vertriebenen Menschen nach mehr als einem Jahr? Was sind ihre dringendsten Anliegen?

Ein Jahr nach der Zwangsvertreibung und ethnischen Säuberung stehen die vertriebenen Armenier aus Arzach vor zahlreichen Herausforderungen. Am dringlichsten sind die Bereitstellung von erschwinglichem Wohnraum und Arbeitsplätzen. Die meisten von ihnen haben ihre Häuser und alles, was sie sich im Laufe der Jahre aufgebaut haben, zurückgelassen. Sie brachten fast nichts mit, nur ein paar Kleidungsstücke und die wichtigsten Dinge. Sie sind gezwungen, bei null anzufangen. Armenien selbst ist ein kleiner Staat, und jeder dreißigste Einwohner ist ein Flüchtling. Auch wenn die Regierung große Anstrengungen unternimmt, kann sie diese Bedürfnisse nicht decken. Die internationale Reaktion und Unterstützung in Form von humanitärer Hilfe ist äußerst gering. Falls diese Probleme nicht gelöst werden, werden leider viele vertriebene Arzacher in andere Länder, vor allem nach Russland, weiterreisen.

Mehr als soziale Probleme bereitet den Vertriebenen die Verwirklichung ihres Rechts auf Rückkehr in ihre Heimat Sorgen, und ein weiteres Problem ist, dass Armenien heute nicht sicher ist. Aserbaidschan droht Armenien täglich und verbreitet über staatliche und mediale Kanäle, dass Armenien ein sogenanntes westaserbaidschanisches Gebiet sei, das zurückerobert werden müsse, was immer wieder die Gefahr einer neuen Eskalation heraufbeschwört. Gleichzeitig sehen wir keine internationale Reaktion. Sowohl Russland als auch nichtwestliche Länder, die von aserbaidschanischem Gas abhängig sind, tun so, als würden sie all dies nicht sehen, und unternehmen keine konkreten Schritte, um Aserbaidschans aggressive Politik einzudämmen.

 

¹ Die nordostsyrische Hauptstadt Deir ez-Zor (armenisch: Der Sor) war 1915 Sammelpunkt und Ausgangsort der Todesmärsche armenischer Deportiert. Der Ortsname besitzt für Armenier diese selbe Bedeutung wie Auschwitz für Juden als Inbegriff genozidaler Massenvernichtung.

² Gemeint ist der Bau eines aserbaidschanischen Konzentrationslagers für 30.000 Personen nahe der Stadt Aghdam, dessen Errichtung durch Satellitenaufnahmen belegt ist.

Interview mit Siranush Sargsyan, Journalistin aus Arzach/Bergkarabach

Siranush Sargsyan, Journalistin aus Arzach/Bergkarabach

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