Mit dem Rücken an der Wand

Armenien nach dem jüngsten Militärangriff Aserbaidschans

Von Tessa Hofmann

Aserbaidschan hat nicht nur im Herbst 2020 die Republik Arzach (Berg-Karabach) angegriffen, sondern 2016, 2021 und 2022 auch Grenzregionen der Republik Armenien. Beim jüngsten aserbaidschanischen Angriff – auf armenische Stellungen nahe der Städte Goris, Idschewan und Sotk am 13. Und 14. September 2022 – sollen insgesamt 600 Soldaten ums Leben gekommen und ebenso viele verwundet worden sein. 7.600 Zivilisten mussten evakuiert werden. Zahllose zivile Gebäude, darunter Schulen und das medizinische Zentrum des Dorfes Sotk, wurden zerstört.

Allein aus den Grenzsiedlungen der Gemeinde Wardenis in der Provinz Gerarkunik mussten 539 Familien (2.121 Personen) evakuiert werden, wie der Gouverneur Karen Sargsyan gegenüber  der Nachrichtenagentur Armenpress erklärte. Nach vorläufigen Angaben wurden dort 73 Wohnungen durch die aserbaidschanischen Angriffe beschädigt. Sieben dieser Häuser in dem Dorf Sotk sind nicht mehr bewohnbar.

„Die Gesamtzahl der Schüler, die am Fernunterricht teilnehmen, beträgt 1245. Ich möchte darauf hinweisen, dass 7072 Schüler von 36 Bildungseinrichtungen in Wardenis infolge der massiven aserbaidschanischen Aggression eine Woche lang ihres Rechts auf Bildung beraubt wurden. 500 Kindern wurde das Recht auf den Besuch eines Kindergartens verwehrt. Natürlich ist das Lernen aus der Ferne mit Schwierigkeiten verbunden, was die Ausstattung angeht.“

Während des jüngsten Angriffs auf Armenien besetzten aserbaidschanische Truppen am 13. September 2022 zehn Quadratkilometer armenischen Territoriums, zusätzlich zu den vierzig, die es bereits im Mai 2021 besetzt hatte. Nur zwei Wochen nach dem prekären Waffenstillstand vom 16. September 2022 erfolgte am 28. September 2022 eine weitere, vierstündige Verletzung der Waffenruhe durch Aserbaidschan, bei der drei armenische Soldaten starben.

Die aserbaidschanischen Streitkräfte haben ihre haarsträubenden Kriegsverbrechen gefilmt und triumphierend im sozialen Mediennetz „Telegram“ verbreitet. Dazu gehören ein Video von der willkürlichen Erschießung armenischer Gefangener sowie ein weiteres Video, das minutiös die Vergewaltigung, Folterung, Tötung und Verstümmelung der 36jährigen armenischen Soldatin Anusch Apetjan zeigt, die in der Stadt Dschermuk gefangengenommen wurde. Ihre Peiniger steckten ihr die abgetrennten Finger in den Mund und stachen ihr die Augen aus. Die Soldatin Apetyan lässt drei Kinder im Alter von 16, 15 und 4 Jahren zurück.

Der in Aserbaidschan staatlicherseits geschürte Hass auf Armenier und dessen Auswirkungen auf das Verhalten ihnen gegenüber festigen in Armenien das Gefühl, weiterhin existentiell von „den Türken“ bedroht zu sein. Dieses Gefühl wird noch durch die militärische Unterlegenheit Armeniens gegenüber Aserbaidschan verstärkt.

Nach Angaben  des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) übertraf die Einfuhr von Waffen in Aserbaidschan 2012 bis 2016 jene Armeniens um das Zwanzigfache. Baku hat Armenien damit jahrelang in einen Rüstungswettlauf getrieben; Jerewan verdreifachte zwar seinen Militärhaushalt im selben Zeitraum (2005: 136 Mio. USD, 2015: 447 Mio. USD; 2017: 437 Mio. USD), bleibt Aserbaidschan aber weiterhin militärisch deutlich unterlegen.  Aserbaidschan erscheint im jüngsten Global Militarization Index 2021 an dritter Stelle (nach Israel und Oman), Armenien an fünfter Stelle. Im Staatshaushalt 2022 bedeuten die Ausgaben für Verteidigung eine Steigerung um 10,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Für 2023 sieht der Militärhaushalt sogar eine Steigerung um 47 Prozent vor, denn die armenische Staats- und Militärführung rechnet mit weiteren Angriffen Aserbaidschans auf armenisches Staatsgebiet.

Friedensverhandlungen trotz fortgesetzter Angriffe?

Die armenischen Behörden und Parteien kündigten nach dem Zweiten Karabachkrieg (Herbst 2020) und während des Wahlkampfes 2021 eine Agenda des Friedens an. Viele Einwohner fassen dies als Defätismus auf. Schon vor der jüngsten Eskalation hatte Regierungschef Nikol Paschinjan eingeschränkt, es gebe keine Fortschritte im Normalisierungsprozess mit der Türkei und Aserbaidschan, „weil sie zu viel von uns verlangen oder glauben, dass wir zu viel von ihnen verlangen“.

In seiner Rede vor der Nationalversammlung wertete N. Paschinjan am 14. September 2022 den laufenden Angriff Aserbaidschans als Versuch, die Bestimmungen des Waffenstillstandsabkommens von 2020 aufzuheben, die sich auf Bergkarabach, die Rolle der dortigen russischen Friedenstruppen und den Latschin-Korridor beziehen. Zuvor hatte Paschinjan  angekündigt, er wolle ein Dokument unterzeichnen, das Armenien auf einer Fläche von 29 800 Quadratkilometern dauerhaften Frieden und Sicherheit garantiere, auch wenn man ihn dafür als Verräter bezeichne oder seines Amtes enthebe. Im Widerspruch dazu schrieb er am selben Tag auf Facebook, dass bisher kein derartiges Dokument unterzeichnet sei und auch nicht unterzeichnet werde.

Der von der OSZE initiierte Friedensprozess innerhalb der sogenannten Minsker Gruppe, die von den drei Ko-Vorsitzenden aus Russland, den USA und Frankreich geführt wird, muss nach knapp drei Jahrzehnten als gescheitert gelten. Die aktuellen armenisch-türkischen sowie die armenisch-aserbaidschanischen Normalisierungs- und Friedensgespräche werden durch die Angriffe Aserbaidschans erheblich belastet. Gespräche zwischen Baku und Jerewan kamen seit April 2022 unter Vermittlung der EU und seit September 2022 der USA zustande.

Nach Aserbaidschans Vorstellung soll es dabei keine Verhandlungen mehr über den Status von Berg-Karabach geben; dieser Konflikt sei beigelegt und existiere nicht mehr. Jedwede Einmischung der  Minsker Gruppe wird von Aserbaidschan abgelehnt. Die Situation der in Berg-Karabach lebenden Armenier sei einzig eine innenpolitische Angelegenheit Aserbaidschans, die bei Bedarf auf der Grundlage der aserbaidschanischen Verfassung gelöst werde. Zwischen Armenien und Aserbaidschan soll zügig ein „Friedensabkommen“ geschlossen werden, basierend auf einem im März 2022 von Baku vorgelegten und aus fünf Grundsätzen bestehenden Papier. Der aserbaidschanische Präsident Alijew beharrt außerdem auf einem so genannten „Sangesur-Korridor“, der das Kernland Aserbaidschan mit der Exklave Nachitschewan und der Türkei verbindet. Dabei drohte er wiederholt damit, diesen Korridor auch mit Gewalt durchzusetzen, sollte Armenien sich dagegen wehren. Aserbaidschan verlangt außerdem die Kontrolle über den Korridor, was wiederum Russland als dritter Unterzeichnerstaat des Waffenstillstandsabkommens von 2020 ablehnt.

Nach Vorstellung des armenischen Außenministers Ararat Mirsojan wird die Unterzeichnung eines armenisch-aserbaidschanischen Friedensvertrages allein nicht ausreichen; es seien zusätzliche Garantien erforderlich, wie etwa ein internationaler Überwachungs- oder Beobachtungsmechanismus. „Dies ist eines der Instrumente, über die derzeit diskutiert wird, neben anderen Instrumenten. Ich kann auf ein anderes Instrument hinweisen, zum Beispiel den Rückzug der Streitkräfte von der armenisch-aserbaidschanischen Grenze. Es gibt verschiedene Instrumente, auch einen internationalen Überwachungsmechanismus, der sehr aktiv diskutiert wird“, sagte der Außenminister.

Schutzmächte? Russland, die Türkei, die USA und die EU

Die Ausweitung des Karabachkonflikts auf die Türkei, die u.a. zur Teilnahme türkischer Kriegsfreiwilliger in Berg-Karabach 1991-1994 sowie erneut 2016 geführt hat, bestärkt auf armenischer Seite dessen Wahrnehmung der Angriffe auf Karabach als Bestandteil pantürkischer Vernichtungspläne jenseits der türkischen Staatsgrenzen. Auch im Konflikt vom September 2022 stellte sich die Regierung in Ankara umgehend auf die Seite Aserbaidschans. Waffentransfers aus der Türkei und gemeinsame Militärübungen unmittelbar vor dem jüngsten Angriff Aserbaidschans auf Armenien zeugen davon, dass der Angriff im Vorfeld geplant und abgesprochen war. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu schrieb auf Twitter, er habe mit seinem aserbaidschanischen Kollegen Jeyhun Bayramov über die „armenischen Provokationen“ gesprochen.

Die russische Regierung dagegen vermied bisher eine Schuldzuweisung. Russland gilt in der internationalen Medienberichterstattung gemeinhin als Schutzmacht Armeniens, so wie die Türkei die selbsterklärte Schutzmacht Aserbaidschans darstellt. Ebenso wie Aserbaidschan weigert sich die Türkei seit Gründung der postsowjetischen Republik Armenien bis heute, diplomatische Beziehungen mit Jerewan aufzunehmen. Die armenisch-türkischen Beziehungen werden außerdem durch die massive türkische Unterstützung Aserbaidschans einschließlich Waffenlieferungen seitens Türkei, darunter Bayraktar-Drohnen, belastet.

Russland erscheint weiterhin als wichtiger externer Akteur bei Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen, nutzt aber den Karabachkonflikt unverhohlen für seine Eigeninteressen im Südkaukasus. Moskau war zumindest bis 2020 Hauptwaffenlieferant sowohl für Aserbaidschan, als auch Armenien, das bei Waffenbeschaffungen inzwischen auf Indien ausgewichen ist. Seine Beziehungen zu Aserbaidschan bezeichnete Wladimir Putin im November 2021 als strategische Partnerschaft. Seit November 2020 stellt Russland in Bergkarabach mit 2000 Soldaten eine Friedensmission. Ob es angesichts seines steigenden Eigenbedarfs an Militär im Ukrainekrieg diese Mission aufrechterhalten kann oder will, ist derzeit nicht absehbar. Das schon jetzt militärisch und politisch deutlich geschwächte Russland hat bereits Truppen aus der Region abgezogen, um sie in der Ukraine einzusetzen. Der Ukraine-Krieg und Russlands Rückzüge aus der Ost- und Südostukraine spielen Aserbaidschan in die Hände. Es nutzt die Schwäche Russlands für Angriffe auf Armenien aus, um es zu bedingungsloser Verhandlungsbereitschaft zu treiben.

Die USA sind dem Südkaukasus geographisch zu weit entfernt, um dort politisch eine wesentliche Rolle zu spielen. Eigentlich. Denn inzwischen fällt ihre Aktivität in der diplomatischen Vermittlung zwischen Baku und Jerewan auf. So erreichte US-Außenminister Blinken Anfang Oktober 2022 die Freilassung von 13 armenischen Kriegsgefangenen durch Aserbaidschan. Dass die betagte Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, sich unmittelbar nach Aserbaidschans Angriff nach Armenien begab und diesem ebenso wie zuvor schon Taiwan mit ihrer Präsenz amerikanische Solidarität vermittelte, wurde in Armenien mit Jubel aufgenommen.

Von der EU fühlt sich Armenien hingegen wegen deren Gas-Deal mit Aserbaidschan betrogen und im Stich gelassen. Deutschland wiederum schweigt sich gegenüber Armenien aus, sieht man von einigen beherzten Statements wie der Stellungnahme des SPD-Abgeordneten und SPD-Schatzmeisters  Dietmar Nietan ab.

Anusch Apetjan

Die aserbaidschanischen Streitkräfte haben ihre haarsträubenden Kriegsverbrechen gefilmt und triumphierend im sozialen Mediennetz „Telegram“ verbreitet. Dazu gehören ein Video von der willkürlichen Erschießung armenischer Gefangener sowie ein weiteres Video, das minutiös die Vergewaltigung, Folterung, Tötung und Verstümmelung der 36jährigen armenischen Soldatin Anusch Apetjan zeigt, die in der Stadt Dschermuk gefangengenommen wurde. Ihre Peiniger steckten ihr die abgetrennten Finger in den Mund und stachen ihr die Augen aus. Die Soldatin Apetyan lässt drei Kinder im Alter von 16, 15 und 4 Jahren zurück.

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