Korridor auf Eis gelegt, stattdessen Verfassungsänderung gefordert – was steckt dahinter?

Elf Monate sind vergangen, seit Aserbaidschan die De Facto-Republik Arzach am 19. September 2023 angriff, nachdem es die schätzungsweise 120.000 Einwohner des Ministaates neun Monate abgeriegelt und ausgehungert hatte. Eine Massenvertreibung und -flucht binnen weniger Tage folgte. Armenien registrierte 100.800 Vertriebene, Russland 6.400. 

Arzach und umgebende Staaten von 1994 bis 2020  von Arzach beherrscht, ehem. autonomes Bergkarabach  von Arzach beherrscht, außerhalb des früher autonomen Bergkarabach  von Aserbaidschan beherrscht, aber von Arzach beansprucht

Von Sivizius - Eigenes Werk, Arzach und umgebende Staaten von 1994 bis 2020  von Arzach beherrscht, ehem. autonomes Bergkarabach  von Arzach beherrscht, außerhalb des früher autonomen Bergkarabach  von Aserbaidschan beherrscht, aber von Arzach beansprucht

Von Tessa Hofmann

Es war der dritte und folgenreichste Militärangriff Aserbaidschans seit seinem ersten und damals noch erfolglosen Versuch, 1991-1994 das armenische Siedlungsgebiet Arzach (12.000 qkm) wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Aserbaidschan bezeichnet die indigene armenische Bevölkerung der Region als „Besatzer“ und „Kolonisten“ und rechtfertigt seine Kriegs- und Völkermordverbrechen als Befreiung. Seine so genannte „Anti-Terrorismusaktion“ – eine von Putins „militärischer Sonderoperation“ entlehnte Vertuschungs- und Verharmlosungsparaphrase – wäre indessen nicht erforderlich gewesen, um den über 100 Jahre alten Konflikt um den völkerrechtlichen Status von Karabach zu befrieden. Seit Oktober 2022 hat sich der Regierungschef der Republik Armenien, Nikol Paschinjan, mehrfach öffentlich dazu bekannt, dass Berg-Karabach integraler Bestandteil Aserbaidschans sei.

Doch Aserbaidschan verlangt weit mehr von seinem Nachbarland. Was im Einzelnen, scheint derzeit auch in Baku nicht genau festzustehen. Denn einer aserbaidschanischen Regierungswebseite war auch im August 2024 zu entnehmen, dass die aserbaidschanische Führung noch immer an ihrem Anspruch auf „Westaserbaidschan“, namentlich die armenische Provinz Sjunik (aserb. Sangesur) festhält. In der Erklärung hieß es: „Die Abtretung der Ländereien von West-Zangezur an Armenien war eine klare Ungerechtigkeit gegenüber Aserbaidschan und seinem Volk. Dieses Unrecht muss korrigiert werden, und das wird es auch. Präsident Ilham Aliyev hat wiederholt betont, dass wir nach Sangesur zurückkehren werden. Den Zeitpunkt und die Art und Weise dieser Rückkehr wird der Präsident selbst bestimmen, und es gibt keinen Grund für eine Einmischung von außen.“

Das am 10. November 2020 zwischen Armenien und Aserbaidschan durch russische Vermittlung geschlossene Waffenstillstandsabkommen sah in seinem letzten Punkt 9 vor:

„Alle Wirtschafts- und Verkehrsverbindungen in der Region werden freigegeben. Die Republik Armenien gewährleistet die Sicherheit der Verkehrsverbindungen zwischen den westlichen Regionen der Republik Aserbaidschan und der Autonomen Republik Nachitschewan, um den ungehinderten Verkehr von Personen, Fahrzeugen und Gütern in beiden Richtungen zu ermöglichen. Der Grenzschutzdienst des russischen Föderalen Sicherheitsdienstes ist für die Überwachung der Verkehrsverbindungen zuständig.

Wie von den Parteien vereinbart, werden neue Verkehrsverbindungen gebaut, um die Autonome Republik Nachitschewan und die westlichen Regionen Aserbaidschans zu verbinden.“

Hieraus leitet Aserbaidschan seinen Anspruch auf einen „Sangesur“-Korridor ab, den es nicht nur befahren, sondern auch kontrollieren will, im Widerspruch zum Waffenstillstandsabkommen; letzteres ist ohnehin durch die rasanten Entwicklungen in Bergkarabach  obsolet geworden.

Umso mehr überraschte die Erklärung des aserbaidschanischen Sondergesandten Eltschin Amirbekow am 7. August 2024, wonach Aserbaidschan die Korridor-Frage in den laufenden Verhandlungen mit Armenien auf Eis legen wolle: „Der Artikel über die regionalen Kommunikationspflichten wurde aus dem Entwurf des Friedensvertrags gestrichen“, erklärte Amirbekow: „Wir wollen den Prozess des Abschlusses eines Friedensabkommens nicht erschweren“. Er fuhr fort, dass Aserbaidschan in erster Linie das Kernproblem der vermeintlich illegalen Gebietsansprüche Armeniens ansprechen wolle, das es als zentral für den Konflikt ansieht. „Aserbaidschan ist entschlossen, die Erwartungen der internationalen Gemeinschaft zu erfüllen und die Frage der armenischen Gebietsansprüche ein für alle Mal zu klären. Wir hoffen, dass wir die verbleibenden Hindernisse schnell überwinden kön-nen, um einen dauerhaften und unumkehrbaren Frieden zu erreichen“, fügte Amirbekow hinzu.

Mit anderen Worten: Aserbaidschan verlangt in erster Linie, dass die Republik Armenien die Präambel ihrer Verfassung ändert oder streicht. Dem Verlust von 12.000 qkm armenischen Siedlungsraums soll noch die Demütigung des Diktatfriedens hinzugefügt werden. Die Präambel bezieht  sich auf die territoriale Integrität Armeniens sowie die gemeinsame Erklärung des Obersten Sowjets (Rats) der Sowjet-Republik Armenien und des Nationalrats von Arzach „Wiedervereinigung der Sowjetrepublik Armenien mit der Bergregion von Karabach“ (1. Dezember 1989), die auch der Unabhängigkeitserklärung der Sowjetrepublik Armenien vom 23. August 1990 zugrunde liegt. Obwohl weder die Sowjetrepublik Armenien, noch der Nationalrat von Arzach existieren und die postsowjetische Republik Armenien auch in ferner Zukunft nicht in der Lage sein dürfte, Arzach unter seine Kontrolle zu bringen, behaupten Aserbaidschan und die Türkei, dass die Beibehaltung der Präambel eine Grundlage für armenische Gebietsansprüche darstelle und somit das Haupthindernis für ein Friedensabkommen. Die Türkei fordert zudem die Aufhebung von Artikel 11 der armenischen Unabhängigkeitserklärung, der Armeniens Unterstützung für die „internationale Bestätigung des Genozids von 1915“ zum Verfassungsziel erhebt. 

Nikol Paschinjan und seine Mannschaft scheinen einer Streichung der Verfassungspräambel im Grundsatz nicht abgeneigt. Aber eine Streichung kann auch beim besten Willen Paschinjans nicht so schnell erfolgen, wie von Aserbaidschan und der Türkei erwünscht. Ein Rat für Verfassungsreformen wurde bereits damit beauftragt, bis Januar 2027 eine neue Verfassung auszuarbeiten, obwohl es Anzeichen dafür gibt, dass die Arbeit an Verfassungsänderungen bereits im Gange sein könnte. Regierungschef Nikol Paschinjan muss sich zudem absichern: Er hat angedeutet, dass alle neuen Verfassungsbestimmungen wahrscheinlich Gegenstand eines öffentlichen Referendums sein würden. Der Zeitpunkt und die Einzelheiten eines solchen Referendums bleiben jedoch ungewiss und politisch heikel. Wie es ausgehen würde, ist noch ungewisser.

Das muss auch der aserbaidschanischen Führung zumindest teilweise bewusst geworden sein. Falls das von ihren Forderungen angestoßene Referendum die ohnehin angespannte, polarisierte Lage in Armenien weiter zuspitzt, könnte es sein, dass sie ihren Ansprechpartner Paschinjan in Jerewan verliert.

Regierungsnahe Analysten in Armenien argumentieren, dass jede Erwähnung einer Wiedervereinigung mit Arzach eine territoriale Bedrohung darstelle und internationalen Normen widerspreche. Sie teilen Paschinjans Meinung, dass Arzach als Teil Aserbaidschans anerkannt werden sollte und lehnen die historischen Ansprüche Armeniens ab. Kritiker dieser Sichtweise verweisen auf historische Karten und Dokumente, die Bergkarabach als Teil Armeniens ausweisen wie der Wilson-Entscheid (1920). Außerdem sei der Vertrag von Kars (1921), mit dem Arzach an das sowjetische Aserbaidschan übergeben wurde, zwischen Entitäten geschlossen, die international nicht mehr anerkannt bzw. existent sind, und entspreche zudem nicht den internationalen Rechtsstandards.

Die Forderungen Aserbaidschans, dass Armenien Verweise auf Arzach aus seinen Rechtsdokumenten entfernt und die Minsk-Gruppe der OSZE auflöst, könnten als Teil einer Strategie gesehen werden, Armenien in eine Position zu zwingen, aus der heraus Verhandlungen über eine Lösung des Arzach-Konflikts zu seinen Gunsten bzw. zugunsten der geschädigten und vertriebenen Bevölkerung immer schwieriger werden.

Aserbaidschans Gründe für die strategische Verschiebung der Korridor-Frage bzw. seine derzeitige Fokussierung auf die armenische Verfassungsänderung dürften vielfältig sein. Die Entscheidung erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem Aserbaidschan versucht, sein angeschlagenes internationales Image zu verbessern. Angesichts der für September 2024 angesetzten Parlamentswahlen und der bevorstehenden Weltklimakonferenz will Baku weitere Kontroversen vermeiden.  Aserbaidschans starke Abhängigkeit von Öl und Gas sowie sein Eintreten für verstärkte Investitionen in fossile Brennstoffe stehen in krassem Gegensatz zu den klimazentrierten Zielen der COP-Treffen. Diese Diskrepanz hat zu Bedenken hinsichtlich der Qualifikation Aserbaidschans als Gastgeber einer Konferenz mit Schwerpunkt auf Klimafragen und zur Zurückhaltung einiger Unternehmen bei der Teilnahme geführt.

Die Entscheidung, die Diskussionen über den „Sangesur-Korridor“ vorübergehend auf Eis zu legen, kann als Strategie angesehen werden, um die Kritik abzuschwächen und in dieser entscheidenden Phase ein positives internationales Image zu fördern. 

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