“Ich will mir Gehör verschaffen” – VOICES-Interview mit der kurdischen Filmemacherin Lisa Calan

Am 5. Juni 2015 wurde die kurdische Filmemacherin Lisa Çalan bei einem Bombenanschlag des Islamischen Staates in Amed (türkisch Diyarbakır, Hauptstadt Nordkurdistans, Türkei) schwer verletzt. Die Bomben explodierten während einer Kundgebung der HDP (Demokratische Volkspartei), einer Koalition aus Linken, Umweltschützern und Feministinnen zum Schutz von Minderheiten.

Bei den Anschlägen gab es zwei Tote und hundert Verletzte; ein Verdächtiger mit Verbindungen zum ISIS wurde festgenommen. Lisa Çalan wurde schwer verletzt und ihre beiden Beine mussten amputiert werden. Damit begann ihr langer Kampf als „benachteiligte“ Person – diesen Begriff wählt Lisa Calan anstelle von „behindert“.

Dieser 5. Juni hat Ihr Leben auf dramatische Weise geprägt. Wie war Lisa vor diesem Tag?

Ich wurde in Diyarbakır in eine große Familie hineingeboren: Wir sind 11 Brüder und Schwestern. Meine Familie war immer sehr politisch. Meine Familie hätte es gerne gesehen, wenn ich zur Universität gegangen wäre, aber ich habe mich aus Protest dagegen entschieden.

Warum?

Weil es nicht möglich war, in meiner Muttersprache, dem Kurdischen, zu studieren. 2011 eröffnete die Aram-Tigram-Akademie dank der Bemühungen der Gemeinde der damaligen BDP (Partei für Frieden und Demokratie), der Nachfolgerin der DTP (Partei der Demokratischen Gesellschaft), die 2009 die Kommunalwahlen in Diyarbakir mit 65,5 % der Stimmen gewonnen hatte, und ich studierte zwei Jahre lang Film.

Da gab es aber auch Schwierigkeiten?

Ich war in mehreren Projekten sehr aktiv und drehte meinen eigenen Kurzfilm Zimanê çiyê (Die Sprache der Berge) über die Assimilierungspolitik, über die Unterdrückung der kurdischen Sprache. 2015 wurde die Akademie, wie alle von der Gemeinde eröffneten Einrichtungen, nach der Ernennung des Kommissars durch die AKP-Regierung, die die rechtmäßig gewählten Bürgermeister absetzte, nacheinander geschlossen.

Seitdem arbeitete ich in der Filmbranche, aber ich setzte auch mein kulturelles und politisches Engagement fort, und wir arbeiteten alle für die Wahlen im Juni 2015.

Es waren wichtige Wahlen. Auf dem Newroz-Fest am 21. März in Diyarbakir wurde ein Brief des inhaftierten PKK-Politikers Abdullah Öcalan verlesen. Er forderte zum Dialog auf. Statt eines Dialogs kam es zum Anschlag in Diyarbakir. Mit dem Anschlag am 5. Juni hat sich Ihr Leben jedoch drastisch verändert. Möchten Sie über diesen Tag sprechen?

An diesem Tag waren wir voller Hoffnung. Die Wahlen im Juni wären für das kurdische Volk und für die Türkei wichtig gewesen. Am selben Tag heiratete die Tochter meines Cousins, der seit 22 Jahren im Gefängnis saß, so dass ich die Wahlversammlung früher verlassen wollte. Wir tanzten ein wenig, und dann sagte ich meinen Freunden, dass ich gehen müsse. Wenn ich an diesen Tag denke, denke ich, dass alles in unserem Leben letztlich politisch ist.

Politisch?

Wäre mein Cousin nicht im Gefängnis gewesen, hätte er an der Hochzeit seiner Tochter teilnehmen können, und ich hätte nicht hingehen müssen, denn schließlich ging ich im Namen meines Cousins. Alles ist sehr eng miteinander verbunden. Es waren viele Leute da, und ich bahnte mir langsam einen Weg durch die Menge. Ich traf meine Schwester, die zu mir sagte: Warte, lass uns zusammen gehen. Aber ich wollte mich umziehen, weil ich schließlich meine Cousine vertreten sollte, und ich wollte etwas tragen, das mehr nach Hochzeit aussah.

Auf dem Newroz-Fest in Diyarbakir war viel los …

Man konnte kaum laufen, so viele Menschen waren da. Ich war vielleicht zwei Minuten lang mitten in dieser Menge, die sich drängte und schubste, und plötzlich ein Geräusch… und die nächste Erinnerung ist die, dass ich die Augen öffnete und auf die Leute über mir schauten … ich verstand nicht, was passiert war, ich weiß nur, dass ich Menschen schreien und weinen hörte, ich schaute mich um und sah Leichen, überall Blut… es waren nur ein paar Sekunden, aber ich könnte stundenlang darüber reden, was ich um mich herum sah… mein Körper war heiß, alles brannte, ich schaute auf meine Hände und sie waren schwarz, aber ich hatte immer noch nicht verstanden, was passiert war. Ich sagte mir, es sei ein Traum, aus dem ich bald aufwachen würde…

Kriegsbilder?

Ich dachte, es sei der Krieg, aber ich sagte mir, nein, das könne nicht sein… Ich war mir sicher, es sei ein Traum. Dann spürte ich einen leichten Schmerz in den Beinen und dachte, ich hätte mir die Beine gebrochen… Ich hätte nie gedacht, dass sie weg sind… aber dann merkte ich, dass die Leute, die kamen und gingen und wie Geister umherwanderten, mich seltsam ansahen… Ich sah dann zum ersten Mal meine Beine an… meine Beine waren nicht mehr da… aber sie waren auch nicht mehr in der Nähe meines Körpers… ich verlor viel Blut, mir wurde übel… ich hörte Stimmen, aber ich verstand nicht, was sie sagten… meine Augen fingen an, die Dunkelheit zu sehen, man denkt in diesem Moment an eine Million Dinge… ich dachte, dass ich in ein paar Minuten sterben würde und dass ich allein sterben würde… ich dachte an meine Schwester, die ich nur ein paar Minuten zuvor gesehen hatte, und ich dachte, dass ich jetzt allein war.

Wann realisierten Sie, Opfer eines Anschlags geworden zu sein?

Sherko sang, und ich begann zu entziffern, was die Leute sagten, diese Geräusche, eine Bombe ist explodiert… und Sherkos Stimme war eine Stimme, die ich kannte, die einzige Stimme, die ich kannte, und ich dachte, ich wäre nicht allein gestorben… in diesem Moment dachte ich, ich müsste eine Entscheidung treffen, entweder ich lasse mich gehen oder ich entscheide mich fürs Leben. Und ich beschloss zu leben… Ich begann wieder zu sehen und sie waren bereits gekommen, um mir zu helfen… sie deckten mich zu und wollten mich ins Krankenhaus bringen, aber ich sagte, ich wolle nicht ohne meine Beine gehen… schließlich überzeugten sie mich, dass ich akzeptieren müsse, dass meine Beine weg waren, und sie brachten mich ins Krankenhaus.

Und dann begann Ihr anderes Leben. Sechs Jahre des Kampfes an vielen Fronten.

Ja, es ist sechs Jahre her und ich habe akzeptiert, dass ich so leben werde. Ich dachte auch, dass es Menschen gibt, die sowieso mehr leiden als ich. Und das gab mir irgendwie die Kraft zu reagieren. Ich habe mir gesagt, dass wir uns nicht den Luxus leisten können, über unser Leiden zu weinen, denn es gibt immer welche, die mehr leiden, und so muss unser Leiden irgendwie zu einem Kampf und einer Anklage werden.

Woher hatten Sie diese Kraft?

Ich habe offene Wunden, und ich lerne ständig, sie zu heilen. Ich entdecke immer etwas Neues. Jeder Arzt sagt Ihnen etwas anderes. Und dann bin ich plötzlich allein. In der Türkei gibt es die Implantat-Technik praktisch nicht: Ich bin der einzige Patient. Die Ärzte wissen nicht, welche Lösung sie vorschlagen sollen, und die Mittel sind sehr begrenzt – und deshalb haben sie mich in der Türkei nicht operiert.

Der Anschlag in Diyarbakir machte Sie zu einer „benachteiligten“ Person, so beschreiben Sie sich. Gefesselt an Prothesen, Sie haben aber, das zu tun, was Sie tun wollten, nämlich Kino.

Ich weiß immer noch nicht, wann meine Wunden heilen werden, wann die Operationen zu Ende sind… Es treten Komplikationen auf und mein Bein entzündet sich. Die Infektionen enden nie, da es sich um offene Wunden handelt. Sie klingen nur für eine gewisse Zeit ab, dann kommen sie wieder und dann geht es von vorne los. So ist es auch mit dem Schmerz. Es setzt plötzlich ein. Und dann verschwindet sie. Aber ich beschloss, dass ich mit dem Kino weitermachen wollte, denn es ist meine Leidenschaft, mein Leben.

Film, Kino, Widerstand?

Ich glaube, dass Künstler, Intellektuelle und Filmemacher die Welt verändern können und die Möglichkeit – ja sogar die Pflicht – haben, zur Gesellschaft zu sprechen. Ich habe keine Beine, aber ich habe einen Kopf, ein Gehirn. Und mehr denn je glaube ich, dass das Kino mir die Möglichkeit bietet, mein politisches und revolutionäres Engagement fortzusetzen. Ich kann vielleicht nicht zu den Demonstrationen gehen, aber ich kann mit meiner Arbeit sagen, was ich denke.

Wie ist das zu schaffen, eine „benachteiligte“ Person zu sein und Widerstand zu leisten?

Auch als benachteiligte Person fühle ich mich verantwortlich. Wir sind in der Gesellschaft nicht sichtbar. Für mich bekommt der Film jetzt eine neue Bedeutung: Vielleicht erlaubt er mir, mich auszudrücken, diese Schwierigkeiten, meine Hindernisse, leichter und deutlicher zu zeigen. Ich möchte einige Dinge verändern, sie umgestalten… Ich meine das Kino nicht als Propagandainstrument. Jede Kunst ist wichtig, um die Welt zu verändern. Die Bücher, die wir gelesen, die Musik, die wir gehört haben, haben uns verändert. Aber im 21. Jahrhundert ist das Kino genau das Medium, das sich stark gewandelt hat. Es ermöglicht Ihnen, Ihre Ideen, Ihre Vision und Ihren Musikgeschmack umzusetzen. Als wäre es die Gesamtheit aller Künste – zumindest nehme ich es so wahr. Und vor dir ist nicht nur ein Rechteck mit einem Bild drinnen, sondern ein Gefühl, eine Idee… Deshalb ist das Kino so wichtig. Und das gilt erst recht für uns, das kurdische Volk.

Was sind Ihre nächsten Projekte?

Ich habe Ideen für Filme, aber ich weiß nicht, wann ich sie machen kann. Ich möchte unveröffentlichte Geschichten erzählen, das Zeugnis derer, die wir nie gehört haben, durch den Film hörbar machen. Ich habe ein Projekt über Frauenmorde, das 360°VR (virtuelle Realität) erfordert, eine Technik, die ich bereits bei meinem letzten Projekt über benachteiligte Menschen eingesetzt habe, das sich derzeit in der Postproduktion befindet. Ich würde auch gerne einen Dokumentarfilm über die Explosionen vom 5. Juni und die in Suruç und Ankara drehen. Was wir erlebt haben, ist nicht gut verstanden worden.

Nicht verstanden worden?

Ich glaube, ich verstehe, was die Opfer dieser Anschläge durchgemacht haben: Ich habe das Gleiche durchgemacht. Wir haben den gleichen Schmerz, das gleiche Leid erfahren. Ich fühle mich verpflichtet, der Welt von unserem Leiden und unserem Kampf zu berichten. Denn wir sind nicht nur Menschen, die leiden, wir kämpfen auch. Wir haben aus unserer Abwesenheit heraus über uns gesprochen und immer wieder die Namen derer genannt, die ihr Leben verloren haben. Aber die folgenden Phasen des Überlebens sind schwierig. Genau darüber möchte ich in meinem Dokumentarfilm sprechen. Als Überlebende leben wir weiterhin mit dieser Realität.

Der Kampf ist auch ein rechtlicher Kampf. Sie haben zwei offene Verfahren: eines für die Entschädigung als Opfer und das andere gegen den vom Innenministerium bestellten Rechnungsprüfer der Gemeinde, weil Sie auch aus Ihrem Job entlassen wurden.

Das Verfahren zur Entschädigung der Familien der Opfer des Anschlags vom 5. Juni steckt in einer Sackgasse. Der Staat fordert sogar die Rückzahlung der Entschädigungen, die an zwei Familien gezahlt wurden!

Andererseits habe ich meine Entlassung gemeldet, aber die Klage wurde abgewiesen, offenbar wegen eines Formfehlers. Wir sind also wieder am Anfang …

Sie wehren sich aber

Jetzt haben wir ein neues Verfahren. Einige Kollegen wurden von der Gemeinde wieder eingestellt, aber ich habe den Eindruck, dass sie meinen Fall anders behandeln. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die nach einer Entlassung weggehen und geduldig in einer Ecke auf das Ende des Prozesses warten. Wenn ich Opfer einer Ungerechtigkeit geworden bin, erhebe ich meine Stimme, auch wenn es mir Ärger einbringt. Ich denke, meine Konfrontation mit dem Gericht wird langwierig sein. Vielleicht wäre es einfacher, wenn ich schweigen würde. Aber so wird es nicht sein. Ich habe immer gekämpft, früher, als ich noch zwei Beine hatte, habe ich es als kurdische Frau getan, jetzt tue ich es auch als benachteiligte Person.

Ist eine solcher „Kampf“ nicht sehr mühselig?

Ich bin noch nicht müde, ich weiß nicht, ob ich jemals müde sein werde oder ob meine Stärke daher rührt, dass ich als Frau und Kurdin geboren wurde, was mir die Fähigkeit gibt, unermüdlich zu kämpfen. Ich finde immer die Energie, mir und Tausenden anderen Gehör zu verschaffen.

 

Die beiden kurdischen Filmemacherinnen Lisa Calan und Rezza Bayram aus Diyarbakir (Nord-Kurdistan, Türkei) stellten in der Südtiroler Landeshauptstadt Bozen ihre Filme  “Zimanê Çîya” (“Die Sprache der Berge”) und “Frieden” vor. Filme über das Leben kurdischer Mädchen und Frauen in der Türkei. Calan und Bayram trafen sich mit der Leitung der Bozner Filmschule „Zelig“ und der Bozner Stadträtin Chiara Rabini. Die beiden Filmemacherinnen werden von Eurimages über das Projekt „The Purple Meridians“ gefördert, das von Streeen.org (Italien), Ovni (Barcelona) und der Diyarbakir Pink Women’s Association unterstützt wird.

Interview: Orsola Casagrande, Journalistin, Filmemacherin (Venedig) und Wolfgang Mayr

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website ist durch reCAPTCHA geschützt und es gelten die Datenschutzbestimmungen und Nutzungsbedingungen von Google

Zurück zur Home-Seite