03-10-2021
HINTERGRUND von Thomas Benedikter: Ein Staat bietet Autonomie – Marokko und die Westsahara (Teil 2)
Alternative Territorial-Autonomie
Der Bozner Sozialwissenschaftler Thomas Benedikter hat in seinem Buch „100 Jahre Territorialautonomie – Autonomie weltweit“ auf den Kolonialstatus der Westsahara hingewiesen.
Hier lesen sie den ersten Teil seiner Analyse: HINTERGRUND von Thomas Benedikter: Ein Staat bietet Autonomie – Marokko und die Westsahara (Teil 1)
Bis 1975 war die Westsahara eine spanische Kolonie. Marokko annektierte das Land. Gegen die Annektion wehrt sich seitdem die Befreiungsfront Polisario. Im Zuge des Krieges floh der Großteil der Bevölkerung in die algerische Wüste. Für sie gibt es kaum eine arabische Solidarität. Marokko bietet der Polisario Autonomie, im Gegenzug soll die Befreiungsfront auf die Selbstbestimmung verzichten. Was ist vom Autonomie-Angebot zu halten?
Thomas Benedikter
Im April 2007 legte das Königreich Marokko dem UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon einen offiziellen Vorschlag zur Einrichtung einer Autonomen Region Sahara vor, mit dem Titel „Marokkanische Initiative zur Aushandlung eines Autonomiestatuts für die Sahara-Region“. Mit einem derartigen Kompromiss sollte der Konflikt zwischen Marokko und dem Volk der Sahraui gelöst werden. Die Westsahara sollte Territorialautonomie erhalten, und im Gegenzug sollten die legitimen Vertreter des sahrauischen Volks die Souveränität des marokkanischen Staats anerkennen. Damit stellen sich zwei grundsätzliche Fragen: zum ersten, sind die Sahraui bereit, im Gegenzug auf ein Referendum zur Selbstbestimmung zu verzichten und sich als autonomer Teil Marokkos zu identifizieren? Zum zweiten: ist dieses Autonomieangebot überhaupt geeignet, Frieden, Stabilität, Selbstregierung und den Schutz der Rechte der Bevölkerung der Westsahara zu sichern? In der Tat kann eine echte Territorialautonomie im heutigen politischen System Marokkos nicht so einfach eingerichtet werden, wie etwa in einem demokratischen Rechtsstaat Europas. Während Frankreich, die USA und einige andere Staaten der EU den Autonomievorschlag Marokkos begrüßten, lehnte ihn die POLISARIO in Vertretung der Sahraui rundweg ab.
Damit zur zweiten Frage: bietet der marokkanische Staat überhaupt die erforderlichen Rahmenbedingungen für eine funktionierende Territorialautonomie? Wie im Eingangskapitel erläutert wären dafür ein voll funktionierenden Rechtsstaat mit unabhängiger Justiz, eine Demokratie mit Schutz aller bürgerlichen Freiheiten und politischen Grundrechte und die Abschaffung des klientelistischen Machtapparats im Staat und in der Westsahara Voraussetzung. Nun hat das Königreich Marokko seit der Thronbesteigung von Mohammed IV. zwar wesentliche Fortschritte in Richtung parlamentarische Demokratie und Rechtsstaat auf allen Ebenen gemacht, doch echte Demokratie in vollem Umfang ist damit noch nicht eingekehrt. Von Freedomhouse wird Marokko als „teilweise freier Staat“ geführt. Moderne Territorialautonomie erfordert aber ein demokratisches System mit Rechtsstaat sowohl im Gesamtstaat wie in der autonomen Region. Autonomierechte, die nicht in vollem Umfang vor marokkanischen Gerichten eingeklagt werden können, würden von vornherein eine Territorialautonomie fragwürdig werden lassen. Die marokkanische Autonomieinitiative für die Westsahara könnte durchaus dazu dienen, einen Friedensprozess einzuleiten, der nach einer Übergangsphase zu einer stabilen und von allen Konfliktpartnern mehrheitlich akzeptierten Ordnung führt. Doch wie sollte eine solche Territorialautonomie beschaffen sein, um diesen Anspruch zu erfüllen?
Nachbesserung am Autonomievorschlag unvermeidlich
Bei bilateralen Verhandlungen müsste es zwischen den Konfliktparteien zunächst zu einer Übereinkunft zum Verfahren bei der Ausarbeitung eines Statuts und der Schaffung der autonomen Region kommen. Die Regelung der Autonomie der Region Sahara müssten in diesen Verhandlungen im Detail geklärt und das Verhandlungsergebnis der gesamten Bevölkerung der Region in einer freien Volksabstimmung vorgelegt werden. Gemäss der Resolutionen der UN-Vollversammlung und des UN-Sicherheitsrats zum Westsahara-Konflikt sollen sich die legitimen Bewohner der Westsahara frei entscheiden können, ob Autonomie in der ausverhandelten Form akzeptiert wird oder nicht. Doch wie bei der von der POLISARIO seit 45 Jahren geforderten Volksabstimmung zur Souveränität der Westsahara läge der Stolperstein auch hier in der Festlegung der Abstimmungsberechtigten: sollen alle heute in der Westsahara ansässigen marokkanischen Staatsbürger wahlberechtigt sein oder nur jene, die eine Mindestdauer an Ansässigkeit vorweisen können, oder gar nur jene, die vor der Annexion des Gebiets durch Marokko 1976 legal ansässig waren? Wie sollen die sahrauischen Flüchtlinge in Algerien an der Abstimmung teilnehmen? Wären alle heute Ansässigen wahlberechtigt, würden die indigenen Sahraui, falls sie die Autonomielösung ablehnten, überstimmt, weil sie nur mehr die Minderheit der Wahlberechtigten bilden.
Einen weiteren Kernpunkt einer Territorialautonomie bilden die der Region übertragenen Zuständigkeiten. Im Fall der Westsahara wäre Marokko bereit, einen im Vergleich mit anderen arabischen Staaten beträchtlichen Teil staatlicher Befugnisse an diese Region abzutreten. Dennoch fehlen im Angebot von 2007 wichtige Politikfelder wie etwa die für die Westsahara enorm wichtige Kontrolle der Fischgründe und der Ausbeutung mineralischer Rohstoffe (vor allem der reichen Phosphatvorkommen), die Energieversorgung, die selbstverantwortliche Organisation der Regionalverwaltung und des öffentlichen Dienstes insgesamt, die Kommunikationsinfrastruktur etwa in Form eines regionalen Radio-TV-Senders. Auch die Zuständigkeit für die innere Sicherheit und regionale Polizei wird im Autonomievorschlag von 2007 nicht erwähnt. Angesichts der in den letzten Jahrzehnten seitens Marokko forcierten Einwanderung fehlt eine weitere Zuständigkeit von entscheidender Bedeutung: die Kontrolle der Zuwanderung. Eine autonome Region Westsahara müsste den Zustrom neuer Siedler aus Marokko mitregulieren dürfen.
Die Rolle der Sahrauis in einer autonomen Region
Welche Stellung hätte die autochthone Stammesbevölkerung der Sahrauis in der autonomen Region? Der marokkanische Autonomievorschlag sichert ihr innerhalb und außerhalb des Territoriums eine „privilegierte Position“ und eine führende Rolle in den Institutionen und Körperschaften zu, die nicht näher definiert wird. Welche Kontrolle könnte eine autonome Westsahara über ihre natürlichen Ressourcen ausüben? Marokkos Autonomievorschlag räumt der zukünftigen autonomen Region zwar einen Teil der Einnahmen der Nutzung seiner wirtschaftlichen Ressourcen ein, bleibt aber bewusst vage. Derartig wichtige Grundrechte müssen in einem Autonomiestatut präzise geregelt sein, um zukünftigen Konflikten vorzubeugen: Wer ist rechtmäßiger Eigentümer der natürlichen Ressourcen der Region? Wer vergibt welche Nutzungskonzessionen? Wie hoch ist der Anteil der autonomen Region am Gesamterlös? Solche Fragen müssen in einem Autonomieabkommen im Detail geregelt werden.
Was darf Marokko in der autonomen Westsahara?
Wie sollte der Staat Marokko in der Autonomen Region Sahara vertreten sein? Laut marokkanischen Statutsvorschlag soll der Chef der Regionalregierung in Personalunion auch Vertreter des Staats sein. Er hätte eine Doppelfunktion zu übernehmen: demokratisch gewählter Chef der autonomen Westsahara, aber auch vom König ernannter Vertreter des Staats in der Westsahara. Eine klare Trennung von demokratisch legitimierter Regierungsverantwortung und staatlicher Aufsichtsrolle ist jedoch geboten und in den meisten autonomen Regionen üblich. Die Unabhängigkeit des von den Bürgern direkt gewählten Regionalparlaments und sein Recht, die Regionalregierung frei zu bestimmen, gehören zu den Kerninstitutionen einer modernen demokratischen Territorialautonomie. Der Staat sollte auf dem Rechtsweg über die Klagebefugnis vor den Höchstgerichten gegen Kompetenzüberschreitungen einer autonomen Region vorgehen können, nicht aber über bloße Anweisungen an einen vom König abhängigen Regionspräsidenten. Die Verantwortungsbereiche zwischen Staat und autonomen Regionen müssen in einem Rechtsstaat klar getrennt bleiben.
Im Autonomievorschlag Marokkos von 2007 fehlt zudem ein bilaterales Gremium zur Streitschlichtung und zur Durchführung der Autonomie, das von Staat und autonomer Region paritätisch zu besetzen wäre. In anderen Territorialautonomien hat sich immer wieder gezeigt, dass eine solche Schnittstelle bei Konflikten, Auslegungsproblemen, Anpassungen der Rechtsnormen von enormer Bedeutung ist. In Italien, Dänemark, Finnland, Spanien haben sich solche Staat-Region-Kommissionen sehr bewährt. Aufgaben, Zusammensetzung und Arbeitsweise müssten im Autonomiestatut genau festgelegt werden.
Klare Regelung notwendig
Gleichermaßen muss auch der Prozess der Durchführung der Autonomie genau geregelt werden, denn die Umsetzung nimmt erfahrungsgemäß viele Jahre in Anspruch. In einem seit Jahrzehnten währenden Konfliktfall mit geringem gegenseitigen Vertrauen der Konfliktparteien müsste auch dafür gesorgt werden, dass die Umsetzung des Statuts von internationalen Institutionen (z.B. UN, AU, Arabische Liga) laufend überwacht und dabei ein klarer Zeithorizont eingehalten wird.
Der internationale Kontext spielt für die dauerhafte Stabilität einer Autonomielösung eine sehr wichtige Rolle. Heute lebt der größere Teil des sahrauischen Volks als Flüchtling im Nachbarland Algerien. Derartige Faktoren haben beim Erfolg anderer Territorialautonomie eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Nicht nur in die Autonomieverhandlungen, auch in die Garantie der Territorialautonomie selbst müsste dieser Nachbarstaat als eine Art Schutzmacht einbezogen werden. Diese Rolle kann auch im Autonomiestatut verankert werden, ohne die Souveränität Marokkos zu verletzen. Algerien wäre dann Garant und Überwachungsinstanz gemäß Völkerrecht und marokkanischem Recht, was eine Bedingung für die Zustimmung der Sahrauis zur Autonomielösung und Garantie für dauerhaften Frieden sein kann.
Was kann Autonomie in Fall der umstrittenen Westsahara? Da die marokkanische Autonomieinitiative als Verhandlungsangebot zu werten ist, besteht ganz erheblicher Verhandlungsspielraum. Nun müssen sich beide Seiten bewegen. Vor allem hat Marokko das Autonomieangebot wesentlich nachzubessern, um überhaupt die POLISARIO zum Verhandlungstisch zu bewegen. Auch Algerien hat ein Interesse an einer Konfliktlösung: zu lange schon harren 170.000 Sahrauis in der algerischen Wüste aus, zu lange ist diese Wüstenregion durch einen verminten Sandwall geteilt und die Beziehungen zu Marokko belastet. Die sahrauischen Stammesvölker und die von berberischen Stämmen geprägte Bevölkerung Marokkos haben außer Sprache und Religion auch Vieles gemeinsam. Die Westsahara als autonomer Teil Marokkos kann für beide Seiten von Vorteil sein, sofern demokratische Selbstregierung und die besondere Stellung der indigenen Sahrauis gewährleistet wird. Eine Territorialautonomie mit hohem Standard kann der Schlüssel zur Konfliktlösung in der Westsahara sein.
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