Frankreich-Elsass: Trotz Zentralismus behauptet sich das “Lokalrecht”

Die Departements kennen keine Autonomie, wohl aber traditionelle Regionalrechte

Die Elsässerinnen und Elsässer wehrten sich seit Beginn gegen die Makroregion, in die das Elsass hineingezwängt wurde. Foto: C. Truong-Ngoc Wikimedia

Die Elsässerinnen und Elsässer wehrten sich seit Beginn gegen die Makroregion, in die das Elsass hineingezwängt wurde. Foto: C. Truong-Ngoc Wikimedia

Von Simon Constantini

 

Zur Überwindung der Wirtschafts- und Schuldenkrise wird derzeit in Frankreich unter anderem über die Abschaffung von Feiertagen diskutiert. Aus dem Elsass regt sich Widerstand gegen die angedachte Streichung des 8.-Mai-Feiertags (Befreiungstag) und insbesondere gegen die im Raum stehende Abschaffung der Regionalfeiertage von Elsass und Mosel (einem Teil Lothringens).

Richtig gelesen: Das Elsass und das Moseldépartement haben — im Rahmen des sogenannten »Lokalrechts« – eigene gesetzliche Feiertage, den Karfreitag und Stefani am 26. Dezember.

Zum Vergleich: Südtirol hat trotz Autonomie keine eigenen Feiertage und (im Unterschied zu deutschen Bundesländern oder autonomen Gemeinschaften in Spanien) auch keine Zuständigkeit, welche einzurichten. Seit Jahren wird vergeblich versucht, Josefi wieder einzuführen.

Durch den aktuellen Elsässer Protest gegen die drohende Abschaffung der Regionalfeiertage bin ich erst auf deren Existenz sowie auf das »Lokalrecht« aufmerksam geworden. Es erinnert mich ein wenig an die historischen Rechte (derechos forales) von autonomen Gemeinschaften in Spanien — wiewohl sich daraus in Elsass-Lothringen zwar gesetzliche Besonderheiten, aber keine wesentlichen Zuständigkeiten ergeben.

Dass so ein »Lokalrecht« im zentralistisch organisierten Frankreich — seit über 100 Jahren! — überhaupt existiert, finde ich jedenfalls höchst spannend.

 

Ein Blick zurück

Große Teile von Elsass und Lothringen gehörten von 1871 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum deutschen Kaiserreich. Nach der Abtrennung von Frankreich kam es sogar zu einer Option. Als diese Gebiete nach dem Ersten Weltkrieg wieder Frankreich angegliedert wurden, gab es dagegen nur geringen Widerstand aus der Bevölkerung. Allerdings wünschten sich erhebliche Teile der Einwohnerschaft und insbesondere auch die Eliten die Beibehaltung inzwischen entstandener Rechte, wenn nicht gar eine Autonomie. So wurde 1918 beschlossen, dass die rückgegliederten Départements – wenigstens zeitweise – Bestandteile des dort bereits geltenden Rechts beibehalten durften, auch um zu verhindern, dass der Ruf nach Selbstbestimmung lauter wird.

Die damaligen Reformen im Deutschen Reich waren ihrer Zeit — und auch der Gesetzgebung in Frankreich — nach einhelliger Meinung weit voraus. Wichtige sozialpolitische Errungenschaften wurden im Rest der französischen Republik teils erst Jahrzehnte später eingeführt.

Zum »Lokalrecht« von Elsass-Lothringen (bzw. jener Teile, die mehrere Jahrzehnte »deutsch« gewesen waren) gehören Gesetze und Normen

  • aus der napoleonischen Zeit, die in Frankreich abgeschafft worden waren, während diese Gebiete unter deutscher Herrschaft waren;
  • des Deutschen Kaiserreichs aus jener Zeit;
  • die der Landtag von Elsass-Lothringen in »deutscher Zeit« erlassen hatte.

Erheblichenteils sind diese Gesetze (mit oder ohne Anpassungen, die in der Zwischenzeit nötig wurden) mit einer Unterbrechung in der Nazizeit bis heute in Kraft. Ein Teil davon liegt angeblich immer noch ausschließlich in deutscher Sprache vor. Im französischen Gesetzesanzeiger sind sie nie erschienen.

Wenn wir daran denken, dass es in Südtirol bis heute nicht nur undenkbar ist, dass irgendwelche Gesetzestexte nur auf Deutsch verfasst werden, sondern auch bei zweisprachigen Gesetzen im Zweifelsfall noch immer nur der italienische Wortlaut maßgebend ist, ist die Situation in Elsass und Lothringen (Mosel) umso verwunderlicher.

Ist es nicht beachtlich, dass ein so zentralistisches Land wie Frankreich die Toleranz und die Resilienz aufbringt, sogar Gesetze eines anderen Landes unverändert zu übernehmen, in einer Fremdsprache beizubehalten — und sie über Jahrzehnte in Kraft zu lassen? Unorthodoxe, unwahrscheinliche bzw. »unrealistische« Lösungen sind in der Realität eben doch möglich.

Die 1924 bestätigte Entscheidung Frankreichs, das »Lokalrecht« unverändert beizubehalten, ist auch dann erstaunlich, wenn man bedenkt, wie in Südtirol in genau jenen Jahren versucht wurde, alles Deutsche beziehungsweise Österreichische wegzufegen und auszumerzen. Diese unterschiedliche Herangehensweise offenbart sich auch bei den Ortsnamen, die in Elsass-Lothringen bis heute ausschließlich in ihrer deutschen (alemannischen) Form amtlich sind. Lediglich die Schreibweise wurde in vielen Fällen (was natürlich ebenfalls zu hinterfragen ist) so angepasst, dass die Bezeichnungen auf Französisch »korrekt« ausgesprochen werden.

 

Was sind “Lokalrechte”?

Konkret umfasst das »Lokalrecht« Bereiche, die alles andere als sekundär sind. Betroffen sind zum Beispiel der Aufbau der Justiz, Teile des Arbeitsrechts, Fürsorge und Gesundheitswesen, Jagdrecht, Grundbuch und Kataster, Lehrlingswesen und Zünfte, Handel, Trennung von Staat und Kirche, Gemeindenautonomie.

Einige Beispiele:

  • Vorteilhaftere Regelung der Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall.
  • Striktere Regelung der Sonntagsruhe mit wenigen Ausnahmemöglichkeiten.
  • Zwei zusätzliche Feiertage, wie bereits erwähnt am Karfreitag und Stefani.
  • Nichtkonkurrenzklauseln für ehemalige Angestellte muss einen finanziellen Ausgleich vorsehen.
  • Eigene gesetzliche Krankenkasse mit im Vergleich zum restlichen Staatsgebiet erweiterten Leistungen.
  • Zusätzliche kommunale Sozialfürsorge, die von den Gemeinden selbst geregelt wird.
  • Privatkonkurs nach deutschem Vorbild.
  • Deutlich größere Gemeindeautonomie.
  • Eigenständiges Jagdrecht, das z.B. das Wild nicht wie in Frankreich als res nullius, sondern als gemeinschaftliches Vermögen betrachtet.
  • Spezielles Vereinsrecht und eigenes, von der Präfektur unabhängiges Vereinsregister.
  • Es gilt das Konkordat von 1801 zwischen Napoleon und Heiligem Stuhl fort, das im restlichen Frankreich 1905 abgeschafft wurde.
  • Dadurch weniger strikte Trennung von Staat und Kirche als im restlichen Frankreich, einschließlich Religionsunterricht an öffentlichen Schulen.
  • Beibehaltung eines (vom Kataster getrennten) Grundbuchs.
  • Gerichte erster Instanz haben erweiterte Zuständigkeiten (Registerführung, Ausstellung von Erbscheinen, Kontrolle von Immobilien-Zwangsvollstreckungen, freiwillige Gerichtsbarkeit, Zuständigkeiten in Zivil- und Handelssachen).

Wie viele Besonderheiten rechtlicher bzw. rechtskultureller Natur hat Südtirol aus österreichischer Zeit beibehalten? Die Zäsur von Faschismus und Nationalsozialismus hat zu vieles hinweggefegt.

 

Ein Institut für Lokalrechte

Im Jahr 1985 wurde ein öffentliches Institut (IDLAM) gegründet, das mit der Bewahrung und Erforschung, mit Empfehlungen zur Fortentwicklung und der breiteren Bekanntmachung des »Lokalrechts« betraut wurde. Es berät auch Institutionen, die es umsetzen, anwenden und entwickeln müssen.

Auf der Website des Instituts wird unter anderem darauf hingewiesen, dass es sich beim »Lokalrecht« zwar nicht um autonome Befugnisse handelt, aber doch um ein wichtiges Signal, dass regionale Sonderlösungen auch in Frankreich denk – und umsetzbar sind. Um das »Lokalrecht« anzuwenden, sei stets lokale Expertise erforderlich, die es in Paris nicht gebe. Wichtiger noch als die genauen Inhalte sei also die Tatsache, dass ein solches Recht überhaupt existiert.

Frankreich hat nach 1918 auch weitere Gesetze erlassen, die nur Elsass-Lothringen (Mosel) betreffen, was eigentlich den Grundprinzipien und dem Selbstverständnis eines so zentralistischen Staates widerspricht. Es zeigt aber, dass das historische »Lokalrecht« eine Grundlage bildet, um eine Sonderstellung zu rechtfertigen.

Aus Südtiroler Sicht interessant finde ich auch, dass das IDLAM die Übernahme von lokalem Recht auf gesamtstaatlicher Ebene sehr kritisch gesehen wird. Wenn sich der französische Staat bei Gesetzesreformenam am elsass-lothringischen »Lokalrecht« orientiert, bestehe immer auch die Gefahr, dass es in diesen Bereichen zu Zentralisierungen komme sowie die Spezifizität entfalle.

Hierzulande sind wir eine offiziell kritische Haltung einer Institution gegenüber anderen gar nicht gewohnt. Doch es stimmt: Auch wenn der italienische Staat sich Regelungen aus Südtirol zum Vorbild nimmt, was immer wieder geschieht, ist dies desöfteren der Anlass, auch die Zuständigkeit für den entsprechenden Bereich an sich zu ziehen oder zumindest in die Südtiroler Kompetenz »hineinzuregieren«.

Wie das elsässische Beispiel zeigt, können neben einer Autonomie auch regionalspezifische Regelungen ein Beitrag zur Wahrung von Besonderheiten sein. Leider beinhaltet das dortige »Lokalrecht« so gut wie keine Sonderregeln, die auch zur Bewahrung der sprachlichen Eigenheiten beitragen würden.

Für Südtirol wurden immer wieder Kohabitations- oder Kondominiummodelle zwischen Österreich und Italien angedacht. Das elsass-lothringische Modell beinhaltet zumindest Bestandteile eines solchen Ansatzes.

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