Flucht aus Süd-Kurdistan

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Von Wolfgang Mayr

Viele der Flüchtlinge an der EU-Außengrenze zu Belarus stammen aus dem südlichen Kurdistan im Irak. Bisher galt diese autonome kurdische Region als Modell. Warum verlassen KurdInnen ihr Land?

Der südkurdische Politiker Musa Çiftçi hält sich mit Kritik nicht zurück. Für ihn ist die Politik der Regierungspartei PDK mit eine der Fluchtursachen. Seit Jahren arbeitet die PDK eng mit dem türkischen Präsidenten Erdogan zusammen, lässt seine Sicherheitskräfte in der autonomen Region angebliche kurdische Terroristen jagen, wirft Çiftçi der PDK vor. Die PDK verfolge ihrerseits die innerkurdische Opposition und schaffe gemeinsam mit dem Erdogan-Staat KurdInnen außer Landes.

Zwei Clans herrschen in Südkurdistan

Laut Çiftçi steckt die autonome Region in einer tiefen Krise. So erschütterte der Terrorkrieg des „Islamischen Staat“ das Land, das nicht anerkannte Unabhängigkeitsreferendumhinterließ ein Vakuum, die eingebrochene Wirtschaft verschärfte die Krise. Statt die Bodenschätze für den Aufbau einer Industrie zu nutzen, kontrollieren die Regierungsparteien den Abbau dieser Rohstoffe, in Zusammenspiel mit der Türkei. Çiftçi sagt: „Der gesamte Reichtum Südkurdistans wird von zwei Clans kontrolliert.“

Die zwei Clans sind die Barzanis und die Talabanis, bestätigt der Südtiroler Journalist Robert Asam. Er war mit taz-Auslandsreise in Kurdistan unterwegs. Die beiden Clans teilen sich die Pfründe auf, bestätigt Asam den Vorwurf von Çiftçi, sie verscherbeln die Rohstoffe an die Türkei, die die Region mit lebensnotwendigen Gütern versorgt. Das autonome Kurdistan eine Art Kolonie, an der kurzen Leine von Ankara.

Wegen mangelnder Versorgung mit Lebensmitteln, wegen der Verarmung und Verelendung kam es zu Protesten, die die PDK – dem Beispiel Türkei folgend – niederschlug. „Es gibt keine demokratische Institution und das Parlament ist dysfunktional,“ kritisiert Çiftçi.

Viele verlassen das Land“

Bei den letzten Wahlen beteiligten sich deshalb nur mehr bis zu 30 Prozent der BürgerInnnen. Die Hoffnungslosigkeit fördert die „Ab- oder Auswanderung“. „Mit der Flucht derer, die gegen das Regime protestiert haben und der Regierung kritisch gegenüberstehen, wird Südkurdistan entvölkert und der PDK Korruption und Pakteleien mit der Türkei erleichtert,“ analysiert Çiftçi.

Über Fluchtursachen sprechen

Der HDP-Parlamentsabgeordnete Habip Eksik sieht im Krieg und in der Verfolgung von Kritikern und Oppositionellen eine der Fluchtursachen. Eksik wirft den internationalen Mächten vor, „die Tyrannei der Regionalregierung zu unterstützen, die die Menschen vertreibt“. Nicht über Fluchtrouten soll gesprochen, sondern die Ursachen der Flucht sollen beseitigt werden.

Eksik kritisiert aber auch die am Grenzkonflikt EU-Belarus beteiligten Staaten. Diese setzen sich über die UN-Flüchtlingskonvention hinweg, diese gilt offenbar nicht für die an der belarusisch-polnischen Grenze Gestrandeten: „Diese Menschen werden dem Tod überlassen. Die Menschen riskieren den Tod, um zu leben, sie verlassen ihre Heimat mit ihren Kindern und suchen Asyl in der EU.“

Zur Abwanderung gedrängt

Der kurdische Autor Hasan Cudi sieht in der von oben orchestrierten Auswanderung den Versuch, die demografische Struktur der autonomen Region Kurdistan gezielt zu verändern. Wie Çiftçi macht Cudi die Regionalregierung der Clans für die Lage verantwortlich. Die Region steckt in einer tiefen Existenzkrise. „Die Menschen reagieren darauf mit Emigration, auch das ist Ausdruck einer politischen Haltung. Die Regierung hat die Verwaltung und das Wirtschaftssystem in den letzten drei Jahren auf einen Schlingerkurs geführt, sie hat ihren kurdischen Charakter und den Kontakt zur Gesellschaft verloren,“ sagt Cudi im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Firatnews Agency anf. Die in Amsterdam operiende Agentur gilt laut den deutschen Sicherheitsbehörden als PKK nah.

Trotz ihrer ausgesprochenen kurdenfeindlichen Politik darf die Türkei in der Region militärisch operieren. Türkische und kurdische Sicherheitskräfte gehen konsequent gegen Kritiker und Oppositionelle vor. „Die Gesellschaft reagiert auf diese Unterdrückung, das war auch an der geringen Beteiligung bei den letzten Wahlen zu erkennen,“ erklärt Cudi die geringe Wahlbeteiligung. Die Türkei diktiert der kurdischen Regionalregierung die Politik, der Eindruck von Robert Asam auf seiner TAZ-Auslandsreise ins Irakisch-Kurdistan.

Türkei hilft Auswanderungswilligen

Die Türkei und die mit ihr verbündeten Clans drängen junge Menschen zur Auswanderung, behauptet Cudi. „Die Türkei will die Jugendlichen mit Unterstützung gewisser Kräfte aus der Region vertreiben und anstelle der ausgewanderten Kurden sunnitische Araber ansiedeln,“ befürchtet Cudi. Die Türkei soll über einem Netzwerk aus Agenten und Schleppern kurdischeJugendliche gruppenweise nach Europa schleusen. Mit dem Ziel, die Demografie zuverändern, wirft Cudi der Regionalregierung Kumpanei mit der Türkei vor.

Der Westen und Kurdistan

Für Cudi sind auch die europäischen Staaten Akteure der Migrationspolitik. Seit 30 Jahren unterstützen die westlichen Staaten die autonome Regionalregierung, die Cudi als despotisch kritisiert. Schlimm findet Cudi, dass beispielsweise die EU zur ausgeübtenRepression schweigt. „Die westlichen Staaten dürfen die Rechtsverletzungen der Regierung nicht länger ignorieren“, appelliert Cudi an die Verbündeten Europäer und Amerikaner.

Auch der in Hamburg lebende südkurdische Journalist Kemal Çomanî   wirft dem Westen vor, die kurdische Flucht in die belarusischen Wälder mitverursacht zu haben. Weil er weggeschaut und geschwiegen hat.

Çomanî teilt die Analysen der Kritiker der Regionalregierung und übt noch schärfere Kritik an der regierenden kurdischen Elite. Sie teilte sich das Land auf, es gibt zweigeteilte Verwaltungen und keine Demokratisierung: „Aus anderen Ländern flüchten Menschen vor Hunger, aber aus Südkurdistan flüchten die Menschen als Reaktion darauf, dass es keine Freiheit und Gleichheit gibt und die Ressourcen des Landes geplündert werden,“ stellt Kemal Çomanî fest.

Auch Çomanî unterstellt den regierenden Clans der Barzani und Talabani grenzenlose Korruption. Die irakische Regierung überweist der kurdischen Regionalregierung monatlich 350 Milliarden Dinar, das entspricht mehr als 210 Millionen Euro. Monatlich fördert Südkurdistan 470.000 Barrel Öl, das über die Türkei verkauft wird. Dieses Geld kassieren die in der Regionalregierung vertretenen Familien,

unterstellt Çomanî den erwähnten Clans rücksichtsloses Absahnen. Die Familien bedienen sich ungeniert der öffentlichen Kassen und Unternehmen, deshalb spricht Çomanî von entgrenzter Korruption.

Südkurdistan unter einem Geheimdienstregime

Laut Çomanî befinden sich achtzig AktivistInnen in südkurdischen Gefängnissen. Allesamt keine Terroristen, ist er sich sicher, trotzdem werden sie als solche behandelt. Die regierenden Clans herrschen mit ihren Geheimdiensten und in in Absprache mit der Türkei über das autonome Südkurdistan. Die autonome Regionalregierung, einst ein Modell für den aufgewühlten Nahen Osten, ist zu einem Geheimdienstgefängnis verkommen, sagt Çomanîim Gespräch mit der   Nachrichtenagentur anf. Genügend Gründe also, die Heimat zu verlassen, bedauert der Hamburger Journalist.

Weiterführende Informationen:

Proteste in Irakisch-Kurdistan: „Wir holen uns unsere Würde zurück“ | dis:orient (disorient.de)

Gewalttätige Proteste in Irakisch-Kurdistan | dis:orient (disorient.de)

Proteste werden in Irakisch-Kurdistan gewalttätig – KURDISTAN PROTESTS (wordpress.com)

„Jahrzehntelanger anti-kurdischer Rassismus trägt Früchte“ | dis:orient (disorient.de)

Acht Tote bei Protesten in Irakisch-Kurdistan (mena-watch.com)

Kurden im Irak – Ein Kreuz für die Unabhängigkeit (deutschlandfunk.de)

Plätze der Befreiung | LeEZA

 

 

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