Flucht aus dem Urwald

Die Matis verlassen ihre Dörfer am Itui-Fluss

Von Wolfgang Mayr

Es ist gar nicht so lange her, erst 1976 kam es zu den ersten Kontakten zwischen den Angehörigen der Matis und Vertretern des brasilianischen Staates. Eine staatliche Expedition drang bis an den Itui-Fluss im westlichen Amazonas vor, zu den Mati. Sie erhielten von den Eindringlingen Macheten und Seifen.

47 Jahre später gibt es kaum noch Matis in den Dörfern am Fluss. Die jüngeren Angehörigen verlassen ihre Dschungel-Heimat, sie ziehen in die verschiedenen Zentren ihrer Nachbarschaft. Zurück bleiben alte Menschen, sie werden sich selbst überlassen.

Indian Country Today schaute sich diesen Exodus genauer an. ICT zitierte Tumi Tuku, dessen Vater Binan 1976 der brasilianischen Expedition misstrauisch begegnet war. „Im Dorf ist die Bildung nicht so gut wie in der Stadt“, erzählte der 24-jährige Tumi ICT, der Medizin oder Journalismus studieren möchte. „Ich möchte mich mit nicht-indigenen Menschen treffen, von den Herausforderungen lernen, mit denen ich konfrontiert bin und vielleicht eines Tages in mein Dorf zurückkehren, um meine Erfahrungen mit dem Leben in der Stadt mit den Ältesten zu teilen.“

Der Anfang vom Ende?

Der Anfang vom Ende der indigenen Welt im Amazonas? Bereits die Hälfte der 6.200 Indigenen im Javari-Tal lebt laut dem Anthropologen Almério Alves Wadick in urbanen Zentren. Das trifft auch auf die Matis zu, 300 ihrer 600 Angehörigen sind bereits abgewandert. Tukus Sohn Tumi lebt und arbeitet inzwischen in der verarmten Stadt Atalaia do Norte als Aushilfsbäcker. 

Diese Zahl wird wahrscheinlich noch steigen, befürchtet die Vereinigung Matis, einhergehend mit dem Verlust der Sprache und einer ständig wachsenden Drogenabhängigkeit.

„Im Dorf gibt es nur wenige Menschen, es sind die Älteren. Die Jugendlichen sind in der Stadt“, führte der Matis-Sprecher aus. „Kein junger Matis weiß, wie man ein Blasrohr, einen Pfeil herstellt. Wenn die Schülerinnen und Schüler in den Ferien ins Dorf kommen, wollen sie nicht von den Ältesten lernen. Sie wollen Fußball spielen, Spaß haben und Dinge des weißen Mannes tun.“

Bushe Matis vom Univaja-Verband der indigenen Völker im Javari-Tal befürchtet, dass die Abwanderung zu Kürzungen der gesundheits- und Bildungsprogramme führen wird. Noch schlimmer, der Staat wird sich die indigenen Territorien aneignen und sie Bergbau- und Ölfirmen öffnen.

Die Wächter verlassen den Wald

Tausende von Indigenen wie Tumi Tuku wandern inzwischen in Städte wie Atalaia do Norte ab, auf der Suche nach einer besseren Bildung, mehr staatlicher Sozialhilfe. Die meisten Abgewanderten enden in der städtischen Armut.  verwickeln kann. Ihr Exodus lässt Dörfer sterben. Dem größten tropischen Regenwald der Welt, ein Damm gegen den Klimawandel, gehen seine traditionellen Wächter verloren.

Die Nachfahren der Kolonialisten, Großgrundbesitzer wie auch Landlose, plündern seit der Erschließung den Regenwald. Regelrecht unter Druck kam der Amazonas in der Ära der rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro.  Der Trump-Freund erleichterte das breit angelegte Plündern, die Wälder wurden großflächig gerodet, mit gelegtem Feuer nachgeholfen, der Staat ging nicht mehr gegen den illegalen Bergbau vor.

Univaja versucht inzwischen Land und Leute mit einem Überwachungsteam vor illegalen Fischern, Bergleuten und Holzfällern zu schützen, die vor Vergewaltigungen und Mord nicht zurückschrecken. Das Team sorgt für eine Vernetzung der Dörfer, schützt isolierte Indigene, die durch von „Invasoren“ eingeschleppte Grippe gefährdet sind.

Es scheint sich erhärten, dass die erwähnten Invasoren für die Ermordung des Indigenen-Experten Bruno Pereira und des britischen Journalisten Dom Phillips im vergangenen Jahr verantwortlich sind. Pereira unterstützte Univaja im Javari-Tal bei der Gründung des erwähnten Überwachungssystems. Vier Fischer und ein Geschäftsmann sind gelten als die mutmaßlichen Mörder.

Der linke Lula, der Retter?

Bolsonaro-Nachfolger, der Linke Luiz Inácio Lula da Silva, versprach, das Erschließen und Plündern des Amazonas einzuschränken. Das von ihm eingerichtete Ministerium für indigene Angelegenheiten soll die indigenen Gemeinschaften schützen. Das Ministerium und die indigenen Organisationen drängen auf eine bessere Schule in ihren Territorien. 

Die illegal in die Territorien eingedrungen nicht indigenen Fischer, Bergleute und Holzfäller lehnen die alteingesessenen indigenen Familien ab, feinden sie an, bedrohen sie. Sie werden als Konkurrenten empfunden. Die Eingedrungenen werfen den Indigenen vor, ihnen Fische zu stehlen. Misshandlungen verteidigen die Invasoren als Notwehr.

Die größer werdende Abwanderung ist die Folge eines Bundesprogramms, das vor 20 Jahren in Lulas erster Amtszeit verabschiedet wurde. Das sogenannte Bolsa Familia-Programm zahlte indigenen Familien Geld, wenn sie ihre Kinder impfen und in die Schule schicken. Zehntausende indigener Familien zogen in die Städte, um bei den Banken das versprochene Geld abzuheben.

Bootskapitäne, die die Indigenen wieder zurück in ihre Territorien brachten und Händler kassierten mit überteuerten Preisen das Indigenen-Geld, die sich auch hoch verschuldeten. Die in den Zentren hängen gebliebenen Indigenen leben dort in bitterer Armut, krank und alkoholabhängig. Das Bolsa-Programm wirkte sich zerstörend auf die indigenen Gemeinden aus.

Gleichzeitig vernachlässigte der Staat seine Verantwortung und Pflicht in den Territorien. In den indigenen Dörfern gibt es kaum mehr Grundschulen. Die Gebäude sind meist nur mehr Ruinen, die indigenen Lehrer haben ihre Schulen verlassen. Das Bolsa-Programm, wahrscheinlich gut gemeint, aber schlecht getroffen.

Außerdem reicht das ausgezahlte Geld nicht für das Leben in der Stadt. Die Mindestzahlung beträgt 125 US-Dollar monatlich, zuzüglich kleiner Zuschläge für schwangere Frauen und Klein-Kinder. Indigene Völker konkurrieren um schlecht bezahlte Jobs wie Müllsammeln oder Straßenkehren. Viele leiden Hunger.

Traurige, menschenleere Dörfer

Das Ministerium für indigene Völker drängt auf eine gründliche Überarbeitung des Bolsa-Programms, auf eine neue Form der Auszahlung der Familien-Gelder. Das Ministerium plant zudem den Wiederaufbau der Schulen in den indigenen Territorien. Damit soll der Anreiz zur Abwanderung verringert werden. Nelly Marubo, eine indigene Anthropologin, wirbt für bi-kulturelle Dorfschulen, in denen die Schüler Zugang zu indigenem und nicht-indigenem Wissen erhalten.

Präsident Lula ist gefragt. War es doch auch sein Programm, das zur Auflösung indigener Dorfgemeinschaften geführt hat. 

Erstmals nach fünf Jahren besuchte Marubo ihre Heimatregion im Javari-Tal. Sie war schockiert darüber, was sie vorfand. „Ich denke immer an viele Kinder und Jugendliche, aber leider war der Besuch dieses Mal sehr traurig“, sagte sie. „Ich fand ein verlassenes Dorf vor mit nur vier älteren Frauen.“

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