19-12-2022
„Erhebliche Genozidgefahr“ für die Armenier:innen im Südkaukasus
Das Lemkin-Institut für Völkermordverhütung warnt in einem "Red Flag Alert" vor einem möglichen Völkermord der Regierungen Aserbaidschans und der Türkei an der armenischen Bevölkerung.
Von Tessa Hofmann
Bereits am 17. August 2022 warnte das Lemkin-Institut für Völkermordverhütung in einem „Red Flag Alert“ vor einem möglichen Völkermord der Regierungen Aserbaidschans und der Türkei an der armenischen Bevölkerung. Die Erklärung erfolgte, nachdem Aserbaidschan die Evakuierung der armenischen Bevölkerung aus den Städten Berdsor und Arawno in Berg-Karabach (Arzach) bis zum 25. August 2022 angeordnet hatte.
„Wir rufen alle internationalen und staatlichen Gremien auf, die Türkei und Aserbaidschan auf völkermörderische Ideologie und Praktiken hin zu überwachen, Druck auf die Türkei und Aserbaidschan auszuüben, damit sie ihre völkermörderischen Drohungen gegen das armenische Volk einstellen und die Sicherheit der Armenier und die armenische Identität in der Republik Armenien, der Republik Artsakh und in den Diasporagemeinden weltweit stärken.“
Zu den Entwicklungen, die das Lemkin-Institut zu dieser Erklärung veranlassten, gehörte ein „Telegram“-Video, das in den sozialen Medien Aserbaidschans kursierte. Das Video zeigt einen aserbaidschanischen Soldaten, der einen angeblich armenischen Schädel, der auf einem nahegelegenen armenischen Friedhof ausgegraben wurde, auf die Ladefläche eines Militärlasters bindet, während seine Kameraden ihm zujubeln.
Im Oktober 2022, nach einem neuerlichen Militärangriff Aserbaidschans auf die Republik Armenien mit 200 Todesopfern warnte auch die International Association of Genocide Scholars (IAGS) vor einer „erheblichen Genozidgefahr“ für die „indigenen Armenier im Südkaukasus und speziell in Arzach (Karabach) sowie in der Republik Armenien. IAGS ist die größte Berufsvereinigung von GenozidwissenschaftlerInnen weltweit.
Der Hintergrund der aktuellen Warnungen ist der seit über einhundert Jahren ungelöste und deshalb anhaltend prekäre Status der Region Arzach. In seiner Resolution „zur Lage in Sowjetarmenien“ vom 7. Juli 1988 unterstützte das Europäische Parlament die Forderung der Karabach-Armenier nach Anschluss an (Sowjet-)Armenien. Diese wurde allerdings von Baku und Moskau verhindert. In einer Volksabstimmung im damaligen Autonomen Gebiet Berg-Karabach (AGBK) votierte am 10.12.1991 die Mehrheit für die Unabhängigkeit von Aserbaidschan. Aserbaidschans Versuch, daraufhin die Region militärisch unter seine Kontrolle zu bringen, hatte bis Mai 1994 insgesamt 40.000 Kriegstote, darunter 23.000 Karabach-Armenier (die meisten zivilen Opfer starben bei Luftangriffen), gefordert; ca. 80.000 armenische sowie 30.000 aserische Kriegsflüchtlinge stammten aus Berg-Karabach. Seit dem Waffenstillstand von 1994 bis Ende 2019 waren an die 3.500 weitere Opfer zu beklagen.
Im zweiten Karabachkrieg, dem 44-tägigen Herbstkrieg von 2020, verlor Arzach nicht nur die Kontrolle über die sieben Bezirke, die an das einstige sowjetische AGBK angrenzten bzw. das historische Karabach ausmachen, sondern auch Schuschi, seine historische Hauptstadt, den Bezirk Hadrut sowie die Osthälfte des Bezirks Martuni, die sämtlich unmittelbarer Bestand des einstigen AGBK waren. Zwei Drittel der karabach-armenischen Bevölkerung flüchteten zumindest zeitweilig, über 6.600 Menschen verloren ihr Leben. Hunderte Armenier, darunter Zivilisten bzw. Frauen, fielen in aserbaidschanische Gefangenschaft und waren schwersten Menschenrechtsverletzungen einschließlich Folterungen ausgesetzt; in Verletzung des Waffenstillstandsabkommens vom November 2020 hält Aserbaidschan nach armenischen Angaben mit Stand November 2022 noch immer 59 Armenier in Gefangenschaft (nach aserbaidschanischen Angaben: 35 Kriegsgefangene, drei Zivilisten), von denen die meisten inzwischen zu hohen Haftstrafen von bis zu 19 Jahren verurteilt wurden. 160 gefangene Armenierinnen und Armenier wurden seit November 2020 freigelassen, v.a. dank russischer, zuletzt auch amerikanischer Vermittlung.
Seit April 2016 hat Aserbaidschan seine Angriffe auf das Staatsgebiet der Republik Armenien ausgedehnt, zuletzt Mitte September 2022. Besonders betroffen sind grenznahe Ortschaften in den südlichen bzw. östlichen Provinzen Sjunik und Gegharkunik Armeniens. In Arzach kommt es immer wieder zum Beschuss armenischer Ortschaften und einzelner Personen, meist Bauern, die auf ihren Feldern und Weiden arbeiten müssen.
Die Angriffe Aserbaidschans sind von Akten unsäglicher Barbarei begleitet. Zuletzt wurden im September 2022 vor laufender Kamera Kriegsverbrechen an armenischen Soldatinnen und Soldaten verübt und die Videos erneut in aserbaidschanischen Telegram-Kanälen verbreitet. Sie zeigen die Erschießung kriegsgefangener Armenier sowie die Vergewaltigung, Folter, Verstümmelung und Ermordung der armenischen Militärkrankenschwester Anusch Apetjan, einer dreifachen Mutter.
Ein besonders schwerwiegendes Hindernis für einen Friedensprozess ist die in der aserbaidschanischen Gesellschaft stark ausgeprägte und vom Regime in Baku geschürte Armenophobie. Bereits 2005 sagte der ehemalige Stellvertretende Ministerpräsident und damalige Bakuer Bürgermeister Hacıbali Abutalıbov bei einem Treffen mit einer Delegation aus Bayern: „Unser Ziel ist die vollständige Auslöschung der Armenier. Ihr Nazis habt doch die Juden in den 1930er und 1940er Jahren ausgelöscht, oder? Ihr solltet also in der Lage sein, uns zu verstehen.“
2016 hatte die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) des Europarats in einem Bericht festgehalten, dass politische Entscheidungsträger, Erziehungseinrichtungen und Medien in Aserbaidschan daran Schuld tragen, dass eine ganze Generation von Aserbaidschanerinnen und Aserbaidschanern mit antiarmenischer Hassrhetorik aufgewachsen ist. In einer Ansprache an die Nation entmenschlichte Präsident Alijew 2020 die Armenierinnen und Armenier zu „Hunden, die man aus Berg-Karabach verjagen” müsse.
Rassistische antiarmenische Stereotypen bestimmten auch den auf Initiative Alijews in Baku 2021 eröffneten „Trophäenpark“, dessen Exponate allerdings nach starkem internationalem Protest und einem von der armenischen Regierung beim Internationalen Gerichtshof (IGH) angestrengten Verfahren entfernt wurden. Wer sich als prominenter Aserbaidschaner mit der armenischen Tragödie auseinandersetzt wie der Schriftsteller und ehemalige Abgeordnete Akram Aylisli in seinem Roman Steinträume (2012), dessen Bücher werden dort öffentlich verbrannt. Die regierungsnahe Partei Müasir Müsavat Partiyası verkündete, dass sie jedem, der dem Schriftsteller die Ohren abschneide, zehntausend Manat (etwa 12.000 USD) zahlen werde. Es war nur dem Eingreifen der internationalen Gemeinschaft – u. a. Human Rights Watch, dem Helsinki Bürger Forum, dem russischen PEN Zentrum und dem amerikanischen Außenministerium – zu verdanken, dass sich die Behörden Aserbaidschans gezwungen sahen, die Extremisten in die Schranken zu weisen.
In seiner Entscheidung vom 7. Dezember 2021 rief der Internationale Gerichtshof (IGH) Aserbaidschan auf, Hassreden und die Diskriminierung von Personen nationaler oder ethnischer armenischer Herkunft einzustellen, einschließlich seiner Beamten und öffentlichen Einrichtungen, sowie alle erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bestrafung von Akten des Vandalismus und der Entweihung armenischer Kulturgüter einschließlich Kirchen, Denkmälern, Friedhöfen und anderen Stätten des Gottesdienstes zu ergreifen. Das Europäische Parlament verabschiedete am 10.03.2022 eine entsprechende Resolution.
Trotz aller ausländischen Appelle endet das Jahr 2022 für die etwa 120.000 noch in Arzach lebenden Armenier, wie es begann: mit einer dreitägigen Unterbrechung der Gaszufuhr seitens Aserbaidschans sowie seit dem 3. Dezember 2022 mit einer bis heute anhaltenden Blockade der einzigen Landverbindung zu Armenien, die Arzach seit Herbst 2020 noch geblieben ist. Die Blockade des so genannten Latschiner Korridors, die sich selbst gegen Krankenwagen richtet, erfolgt durch vorgebliche „unabhängige Umweltschützer“ aus Aserbaidschan, die damit gegen die auf Arzacher Gebiet gelegenen Minen von Dmbron und Kaschen protestieren.
Lilia Schuschanjan, die ehemalige stellvertretende Ministerin der Republik Armenien für territoriale Verwaltung und Entwicklung, äußerte in einem Medienkommentar, dass es in Aserbaidschan schwerlich unabhängige Umweltschützer gäbe. In Wahrheit handele es sich um eine Machtdemonstration Aserbaidschans sowie einen Präzedenzfall: Die beiden fraglichen Minen machen derzeit den Großteil des Staatshaushalts der Republik Arzach aus und garantieren wirtschaftlich „das autonome Leben der Armenier in Arzach“. Indem Aserbaidschan versuche, deren Tätigkeit seiner juristischen Kontrolle zu unterwerfen, setze es seinen Anspruch auf das Arzacher Gebiet um. Das Lemkin-Institut veröffentlichte daraufhin seinen zweiten „Red Flag Alert“.
Makabrerweise haben die vorgeblichen Ökodemonstranten und Blockierer ihre „friedlichen“ Absichten durch ein „Taubenopfer“ untermalen wollen. Dieses Opfer, das vor allem in der armenischen Christenheit sehr beliebt ist, besteht darin, Tauben in den Himmel aufsteigen zu lassen. Statt aber in die Freiheit aufzusteigen, fiel eine geopferten Tauben tot zu Boden.
Für Deutschland ergibt sich, wie bereits der Deutsche Bundestag in seiner Resolution vom 16. Juni 2005 feststellte, eine besondere historische Verantwortung gegenüber Armenien bzw. der armenischen Nation. Deutschland hat im Ersten Weltkrieg im Interesse seines Militärbündnisses den Genozid seines türkischen Bündnispartners an 1,5 Millionen osmanischen ArmenierInnen weitgehend duldend hingenommen. Auf Grund der enormen Schuld der politischen Elite des deutschen Kaiserreichs gegenüber dem armenischen Volk ist es die ethische Pflicht einer jeden deutschen Regierung, das armenische Volk in Wort und Tat vor weiterer Verfolgung und Vernichtung zu schützen. Deutsche politische EntscheidungsträgerInnen dürfen auch nicht infolge des EU-Gasdeals mit Aserbaidschan wegschauen, wenn Deutschlands hochgerüsteter Handelspartner Aserbaidschan über das militärisch unterlegene, kleinere Nachbarland Armenien sowie die armenische Bevölkerung Arzachs herfällt.
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