14-12-2024
Einer der letzten Kereken: Das Verschwinden eines Volkes im Schatten des Krieges
Iwan Lymnejewitsch Taymagyr, einer der letzten Angehörigen des indigenen Volkes der Kereken, fiel im Krieg gegen die Ukraine. Mit seinem Tod schwindet nicht nur eine bedrohte Sprache, sondern auch ein einzigartiges kulturelles Erbe. Die Geschichte der Kereken, einst tief verwurzelt in den Weiten des russischen Nordens, ist eine Mahnung an die Zerbrechlichkeit kultureller Vielfalt – und an die unsichtbaren Opfer eines Krieges, der weit über die Schlachtfelder hinaus Zerstörung hinterlässt.
Von Tjan Zaotschnaja
Am 13. September 2024 wurde die Geschichte eines Volkes, das seit Jahrtausenden in den entlegenen Weiten des russischen Nordens existierte, ein weiteres Stück ausgelöscht. Iwan Lymnejewitsch Taymagyr, einer der letzten Kereken, fiel im Krieg gegen die Ukraine in der Region Kursk. Er diente in der 810. unabhängigen Marinebrigade. Taymagyr, 56 Jahre alt, gehörte einem Volk an, das bereits seit Jahrzehnten am Rande des Verschwindens steht. Laut der Volkszählung von 2021 zählten sich nur noch 23 Menschen zu den Kereken, von denen vier angaben, ihre Sprache zu sprechen. Mit Taymagyrs Tod könnte einer dieser Sprachträger verloren gegangen sein.
Wer sind die Kereken?
Die Kereken (Selbstbezeichnung: Ankalaakku) sind ein indigenes Volk des Hohen Nordens, dessen Ursprünge laut Ethnographen wie Vladimir Bogoraz in einer Mischung aus Koryaken, Tschuktschen und Eskimos liegen. Archäologische Forschungen deuten darauf hin, dass ihre Kultur bis in das erste Jahrtausend vor Christus zurückreicht.
Traditionell lebten die Kereken von der Jagd, Fischerei, dem Vogelfang und dem Pelzhandel. Ihre Mythen, wie die Geschichten über Kuki den Raben (Kutkh), ähneln denen anderer indigener Völker der Region. Doch trotz dieser kulturellen Vielfalt war ihr Fortbestand immer fragil – bedroht durch Kriege, Epidemien und Assimilationsprozesse.
Der langsame Untergang eines Volkes
Bereits im 18. Jahrhundert brachten gewaltsame Auseinandersetzungen mit den benachbarten Tschuktschen und Koryaken das kleine Volk an den Rand des Verschwindens. Häuser wurden niedergebrannt, Männer getötet, Frauen entführt. Zeitgleich wüteten Epidemien, die die ohnehin kleine Population drastisch dezimierten. Im 20. Jahrhundert setzte die Assimilation mit den Tschuktschen der kerekischen Identität ein Ende. Die letzten kulturellen Überreste, wie die Sprache, wurden vor allem von älteren Generationen bewahrt.
Die Volkszählung von 2002 erfasste lediglich acht Menschen, die sich als Kereken bezeichneten. Überraschenderweise stieg diese Zahl bis 2021 auf 23 an – ein Anstieg, der jedoch wenig Hoffnung auf ein echtes kulturelles Überleben bietet. Mit dem Tod von Taymagyr rückt das endgültige Aussterben der Kereken ein Stück näher.
Der Krieg und die indigenen Völker Russlands
Taymagyrs Schicksal ist kein Einzelfall. Laut der Plattform „Indigenous Russia“ starben bereits rund 500 Angehörige indigener Völker Russlands im Krieg gegen die Ukraine. Viele von ihnen wurden, wie auch Taymagyr, in Eliteeinheiten eingesetzt, die oft an vorderster Front kämpfen.
Der Verlust von Taymagyr ist nicht nur ein persönlicher, sondern ein kultureller: Ein Stück Geschichte, eine Sprache und eine Lebensweise gehen mit ihm verloren. Er hinterlässt eine Mahnung, über die oft unsichtbaren Opfer des Krieges nachzudenken – die Menschen und Kulturen, die für immer verschwinden.
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Mit jedem Verlust stirbt nicht nur ein Mensch, sondern auch ein unersetzliches Stück kultureller Vielfalt. Die Welt wird ärmer, wenn solche Geschichten nicht mehr erzählt werden können.
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