26-05-2024
Eine Sendung der GfbV-Regionalgruppe München
Diese Sendung beschreibt das Problem der Fremden- und Migrant*innenfeindlichkeit in Russland. Zu Wort kommen Maria Vyushkova, Nandezhda Nizovkina und Arshak Makichyan.
RG München: Herzlich Willkommen zur Sendung der Regionalgruppe München der Gesellschaft für bedrohte Völker. Wir senden auf Radio Lora München, 92.4, jeweils am fünften Dienstag im Monat. Begrüssung: Tanja, Tjan, Felix.
In unserer heutigen Sendung wollen wir auf das Problem der Fremden- und Migrantenfeindlichkeit aufmerksam machen.
Russland ist ein Vielvölkerstaat mit ca 200 ethnischen Gruppen.
Schätzungen zufolge arbeiten im Land ca 3 millionen Migrant*innen aus Zentral Asien und Kaukasus. Die Zahl könnte höher sein, da es auch illegale Gastarbeiter*innen gibt.
Im März 2024 wurde in Moskau ein Terroranschlag verübt. Gleich wurde vier Männer tadzhikischer Nationalität verhaftet. Die Untersuchungen laufen an.
Zwei Frauen äußern sich zu dem Thema:
Maria Vyushkova, Forscherin von Beruf, burjatische Staatsangehörige, Antikriegs- und Dekolonial-Aktivistin. Sie lebt in den USA
und Nadezhda Nizovkina, Rechtsanwältin, Menschenrechtsverteidigerin, Antikriegs- und Dekolonialaktivistin. Lebt in Burjatien.
Beide geben uns einen Blick in die Situation Russland danach.
(O-Ton: Vyushova und Nizovkina auf Russisch)
Vyushkova: Wir nehmen an, viele haben vom Terroranschlag gehört, der in der Konzerthalle Crocus City Hall in Moskau verübt wurde.
Bei dem Terroranschlag wurden 144 Menschen getötet und mehr als 500 Menschen verletzt.
Wir möchten über die Folgen dieses Terroranschlags und die Merkwürdigkeiten seiner Untersuchung sprechen. Auch über die Folgen, die wir in Form der endgültigen Faschisierung des Putin-Regimes sehen werden, in Form von wachsender Fremdenfeindlichkeit, Migrantenfeindlichkeit und nicht nur gegenüber Menschen, die aus Zentralasien stammen.
Was waren Ihre ersten Gedanken, Nadezhda, Ihre ersten Befürchtungen im Zusammenhang mit diesem Ereignis?
Nizovkina: Ich fürchte auch um mein eigenes Leben. Ich sehe Terroranschläge als eine der bequemsten Möglichkeiten für politische Attentate an. Deshalb sehe ich jetzt Risiken auch für mich persönlich, wenn es zum Beispiel während einer Massen- oder auch nicht so großen Veranstaltung, wie in irgendeinem Gericht, eine Explosion gibt, zu dem die Zuschauer*innen kommen werden.
Das stärkste Gefühl, das ich empfinde, ist der Groll gegenüber den Mitgliedern der Sonderdienste, die an der Inhaftierung und Folterung der Gefangenen beteiligt waren. Denn für mich reicht es nicht aus, jemanden zu Terroristen zu erklären. Für mich muss es Beweise geben. Selbst wenn es sich bei dem Festgenommenen um einen Vertreter von Tadschiken, Migranten, denen gegenüber unsere Gesellschaft traditionell starke fremdenfeindliche Gefühle handelt -, ist das für mich kein Grund, den Tod und das Leiden unschuldiger Crokusbesucher*innen sofort mit ihnen in Verbindung zu bringen.
Die umfassende Unterdrückung von Migrantenvierteln hat bereits begonnen. Diese wird sich natürlich nicht nur auf Tadschiken und Migranten beschränken, sondern auch russländische Bürger*innen treffen, die das Pech haben, aus dem Kaukasus zu stammen.
Das Schrecklichste an dieser Nachricht ist für mich: 144 tote russländische Zivilisten sind in Wirklichkeit Opfer des Krieges gegen die Ukraine, während sie keine Opfer der Ukrainer sind. Mir ist klar, dass die Folgen schwerwiegender sein werden, dass sie weitreichender sein werden.
Putin kam vor 25 Jahren auf einer Welle von Terroranschlägen an die Macht, auf einer Anti-Terror-Rhetorik, auf der Einschüchterung seiner eigenen Bevölkerung, seiner eigenen Bürger*innen.
Aus der jüngsten Vergangenheit: 2020 – Abschaffung der Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten, bevorstehende Verfassungsänderungen. Wieder die selbe Situation: Verbot von öffentlichen Massenveranstaltungen, Zugangsverbot für Zuhörer*innen zu Gerichtsverhandlungen usw. Ein ähnliches Szenario wiederholt sich wieder. … Es ist ein Grund zu der Annahme, dass es höchstwahrscheinlich derselbe Mechanismus ist, der von denselben Kräften in Gang gesetzt wird.
Vyushkova: Ich teile Ihnen eine sehr wichtige und ernste Bemerkung von einem Zuhörer mit:
Ist es wert, Nadezhda, ein solches Risiko einzugehen, denn es ist das Thema, das nach sich Konsequenzen ziehen wird?
Es wurden bereits Personen zur Rechenschaft gezogen, weil sie sich in irgendeiner Weise unangemessen zu dem Ereignis geäußert haben.
Nizovkina: Ja, die Risiken sind für mich jetzt größer geworden. Und ich betone noch einmal, dass ich mehr Angst davor habe, getötet zu werden, als vor irgendeiner Art von Strafverfolgung. Dennoch glaube ich, dass wir darüber reden müssen. Wenn wir nicht darüber reden, werden wir das Blut derjenigen vergießen, die gefoltert werden, und all derer, die in Crocus gestorben sind, denn ich betone noch einmal, dass auch sie Geiseln des Systems sind. Um dies zu verhindern, und nicht nur eine Reihe künftiger Terroranschläge, sondern auch einen zügellosen Faschismus, müssen wir darüber sprechen. Ich befürchte ernsthaft, dass man in Russland dabei ist, eine ethnische Säuberung zu starten, indem Nicht-Russ*innen und Nicht-Europäer*innen einfach auf der Straße umgebracht werden können.
Wir haben es bereits erlebt: Wenn es einen Krieg gibt, sind die Burjaten schuld. Wenn es Terrorismus gibt, dann sind entweder Tschetschenen oder Tadschiken schuld.
Vyushkova: Ich frage Sie als Juristin. In Fernsehen wurden die verhafteten Männer mit Spuren von Foltern gezeigt. Man spricht jetzt laut über die Wiedereinführung der Todesstrafe. Es waren sogar ein paar Beispiele in sozialen Medien zu sehen, wo Menschen bereits Unterschriften dafür sammelten.
Nizovkina: Wir müssen darüber reden, um dieses Massenblutvergießen und ein weiteres ernstes Problem zu verhindern – die Entmenschlichung unserer Gesetzgebung und unserer Strafverfolgungspraxis, d.h. die Legalisierung der Folter. Wenn es möglich ist, mutmaßliche Terroristen zu foltern (weil die Nerven derjenigen, die sie festgenommen haben, es nicht ertragen konnten . … sie könnten ihre „Hände“ nicht davon abhalten, jemandem das Ohr abzuschneiden), dann wird diese Praxis auf alle gewöhnlichen Polizeidienststellen, auf alle gewöhnlichen Straf- und sogar Verwaltungsfälle Anwendung finden. Darüber hinaus werden sie auch für politische Gefangene gelten. Die Hauptsache ist, die Gesellschaft daran zu gewöhnen (gewöhnen zu lassen).
Erinnern wir uns, dass Putin 2023 ein Gesetz erlassen hat, das die Europäische Menschenrechtskonvention aufkündigt. Danach schlug man in Russland Alarm wegen der Wiedereinführung der Todesstrafe.
Und nach dem Terroranschlag in Crokus wird nun wieder über die Todesstrafe gesprochen. Wenn sie eingeführt wird, dann unter dem Vorwand, dass sie gegen Terroristen verhängt werden soll. Aber die Todestrafe wird nicht nur für Terroristen gelten, sondern für alle. Wenn die Konvention gekündigt wird, wird eine ganze Reihe von Paragraphen freigestellt. Es wird sich nicht nur um terroristische Paragraphen handeln. Es wird viele Paragraphen geben, z. B. den des Versuchten Anschlags auf das Leben eines Vertreters der Macht, für den Evgeny Surikov im März 2024 in Ulan-Ude verurteilt wurde. Er hätte die Todesstrafe erhalten können, wenn das Moratorium bereits aufgehoben worden wäre.
Ein Terroranschlag wird sehr gefährliche Folgen haben, deshalb bestehe ich darauf, dass wir prüfen müssen, wer davon profitiert. Und wir sollen von dieser Version als erste Priorität ausgehen.
Vyushkova: Sehr beänstigend ist derzeit das Anwachsen von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in der Gesellschaft. Wohin wird das führen? – Das ist der erste Punkt.
Zweitens: Wohin wird die Legalisierung von Foltern und Todesstrafe führen? Wie Sie sehen, haben oppositionelle Publikationen bereits festgestellt, dass auf der Liste des so genannten Rosfinmonitoring (zu Deutsch: Föderaler Finanzüberwachungsdienst der Russischen Föderation) viele Oppositionelle stehen, Menschen, die gegen Putin sind, Menschen, die gegen den Krieg sind. Die Folter kann gegen Oppositionelle legalisiert werden, weil sie in der Regel auf den Listen der Terroristen und Extremisten stehen.
Ich möchte sagen, dass wir, die Vertreter*innen der indigenen Völker, einen gemeinsamen Brief geschrieben haben (https://gfbv-voices.org/offener-brief-warum-es-wichtig-ist-sich-gegen-migrantenfeindlichkeit-und-rassismus-auszusprechen/).
Ich stimme mit den Parallelen überein, Nadezhda, die Sie ziehen. In gewisser Weise ähnelt dies der Explosion der Burjatophobie nach Bucha (Ukraine). Damals war die Rede von Horden monoethnischer Burjaten. Obwohl es sich um Pskower Fallschirmjäger der 76. Division aus Pskow handelte. Das wird von allen Quellen bestätigt … Außerdem wurden etliche Pskower Fallschirmjäger gefangen genommen, sie gaben Geständnisse ab. Auf dem Video waren nicht-asiatische, nicht-burjatische Gesichter zu sehen. Natürlich konnte ich nicht anders, als Parallelen zu diesem Ereignis zu ziehen: Damals wurden alle Burjaten schuldig, und jetzt sind alle Tadschiken schuldig.
Nizovkina: Es ist auffällig, dass Burjaten und Tadschiken als reine Bettler dargestellt werden, die gierig und bereit sind, für ein paar Münzen Verbrechen zu begehen.
… Es wird gesagt, alle nationalen Minderheiten seien Kriminelle, die nicht einmal viel Geld brauchen, um Gräueltaten zu begehen.
Vyushkova: Hier muss ich auf eine traurige Tatsache hinweisen, und das sage ich schon seit geraumer Zeit. Im September 2023 habe ich auf der Dekolonialen Konferenz das Thema aufgeworfen, dass Fremdenfeindlichkeit und Migrantenfeindlichkeit nicht nur für Vertreter*innen der ethnischen Mehrheit in Russland charakteristisch sind. Auch wir selbst, die Vertreter*innen der indigenen Völker, können davon geprägt sein. Das ist eine sehr traurige Tatsache. … Ich denke, dass auch die Islamophobie eine große Rolle spielen wird.
Die nächste Welle der Fremdenfeindlichkeit wird keinen Unterschied machen, ob man Muslim oder Nicht-Muslim ist, denn viele Menschen sind sich dessen gar nicht bewusst.
Nizovkina: Die multiethnische Konsolidierung ist in unserer Gesellschaft noch nicht populär. Daher kann es passieren, dass einige Burjaten die Muslime nicht mögen, aber auch das Gegenteil ist möglich. (übrigens: Burjaten sind überwiegend Buddhisten.)
In der Tat kann es zu Pogromen gegen Menschen mit asiatischem oder nahöstlichem Aussehen kommen. Wir erinnern uns, dass in Moskau während des 2. Tschetschenienkriegs auch Burjaten ermordet wurden, auch wenn es schien, dass sich der ganze Hass gegen Menschen mit kaukasischem Aussehen richtete. Jetzt erwarten wir ihn in größerem Ausmaß als früher, weil die Gesellschaft immer mehr degeneriert ist und sich an die diktatorischen Methoden unseres Regimes gewöhnt hat. Und immer mehr Menschen haben Angst vor gewaltsamen Bestrafungen für jede andere Meinung. Ich denke, dass sogar diejenigen, die sich für die Opfer dieser fremdenfeindlichen Haltungen einsetzen, darunter leiden könnten.
Warum erkennen wir nicht die guten Eigenschaften an, die der Mentalität der Tadschiken innewohnen? Ihren Fleiß? Warum erkennen wir nicht ihre Bescheidenheit und die Tatsache an, dass sie unsere Wirtschaft unterstützen? Warum wird dies vergessen und nur einzelne Verbrechen aus ihrem Umfeld als ethnische Verbrechen bezeichnet?
Vyushkova: In der Tat werden die positiven Aspekte der Anwesenheit von Migrant*innen in Russland nicht erwähnt. Ich fühle eine gewisse Solidarität mit den Wanderarbeiter*innen, weil ich selbst eine war. Es ist nicht wichtig, dass ich einen Abschluss hatte. Ich erinnere mich an den Weg, den ich zurückgelegt habe, wer ich war.
Offiziellen Statistiken zufolge sind ein Drittel der Landarbeiter*nnen in den USA Migrant*innen. Amerika liegt bei der Zahl der Migrant*innen an erster Stelle, Russland an der zweiten Stelle – eine sehr ähnliche Situation.
Ich bin sicher, dass ohne Tadschiken und andere Gast-Arbeiter*nnen aus Zentralasien viele Industrien in Russland nicht funktionieren könnten. Wir müssen begreifen, dass wir ihnen viel zu verdanken haben.
Nizovkina:
Das Problem ist, dass wir nicht zu schätzen wissen, was uns billig gegeben wird. In Russland werden sie für ihre Arbeit wenig bezahlt, und deshalb werden sie verachtet: Sie arbeiten für ein paar Groschen, sind also Menschen zweiter Klasse, fast Sklaven. Eine perverse Logik.
(Pause mit Vogelzwitschen)
RG München: Nach dem Terroranschlag im „Crokus-City-Haus“ sind die Xenophoben in Russland aktiver geworden. Das berichten Menschenrechtsorganisationen. Unter den Opfern von hassmotivierten Angriffen waren gleich danach vor allem Menschen aus dem Kaukasus, Zentralasien und Menschen mit „nicht-slawischem“ Aussehen.
Einige Überfälle wurden von den Angreifern ausdrücklich als „Rache für den Terroranschlag“ bezeichnet.
Arshak Makichyan veranstaltete Anfang April eine Solidaritätskundgebung gegen Migrantenfeindlichkeit und Rassismus vor der russischen Botschaft in Berlin.
Makichyan: „Die Ausbeutung der ungeschützten Migrant*innenklasse in Russland erlaubt es Putin, ein Bild von russländischer Größe und Verschönerung zu schaffen, hinter dem sich die Sklavenarbeit von Millionen von Menschen verbirgt, deren Rechte in keiner Weise geschützt sind“
RG München: Arshak wuchs in Moskau auf, wohin seine Eltern aus Armenien kamen. In Russland hielt der Klimaaktivist jeden Freitag eine Ein-Mensch-Mahnwache, denn fast nur solch eine Art von Protest ist legal möglich. Als er nach der Teilnahme an der Klimakonferenz in Paris 2019 nach Moskau zürück kam, wurde er für sechs Tage inhaftiert.
Arshak protestierte gegen den russischen Angriff auf die Ukraine. Aus diesem Grund wurde ihm und seiner Familie die russische Staatsbürgerschaft entzogen. Seit 2022 lebt er in Berlin.
Mit freundlicher Genehmigung senden wir heute Teile aus dem Interview, das er dem Radio Liberty gegeben hat. Arshak versucht, die Aufmerksamkeit auf die Probleme von Migrant*innen zu lenken, deren Situation in Russland sich in den letzten Jahren verschlechtert hat.
Makichyan: Nach dem Terroranschlag im Krokus erleben wir in Russland einen Anstieg von Migrantenfeindlichkeit und Rassismus. Diesem Problem wird jedoch nicht die Aufmerksamkeit zuteil, das es verdient. Im besten Fall schreiben die Leute: „Wir sollten den Migranten doch nicht die Ohren abschneiden“.
Nationalisten haben begonnen, sich noch aktiver zu verhalten. Es gibt ständig Berichte über Angriffe von Nationalisten auf Migranten. Kürzlich bedrohten rechtsextreme Aktivisten einer Studentin aus Jakutien in der Moskauer Metro mit einem Schlagstock. Sie verhöhnten sie und beleidigten sie. Was wir von Menschenrechtsaktivist*innen und Polizeiberichten erfahren, ist nur ein kleiner Teil des wahren Bildes der Gewalt gegen Migrant*innen. Die meisten Fälle tauchen in den Polizeistatistik gar nicht auf. Migrant*innen haben Angst, sich an die Strafverfolgungsbehörden zu wenden. Ich verstehe, wie verängstigt die sind, die sich in Russland schon immer in einer schwachen Position befanden.
Svoboda: – Sie sind als kleines Kind mit Ihren Eltern nach Moskau gekommen. Haben Sie in Russland Diskriminierung aufgrund Ihrer Nationalität erlebt?
Makichyan: Meine Familie zog nach Russland, als ich ein Jahr alt war. Ich spreche besser Russisch als Armenisch. Wie jedes Kind wollte ich mit anderen Kindern spielen. Doch ich habe seit dem Kindergarten mit Fremdenfeindlichkeit zu kämpfen. Die Nachbarskinder beschimpften mich und erfanden einige beleidigende Ausrufe. Der Sportlehrer der Schule nannte mich „khach“ (“хач”) – ein Schimpfwort, aber wir wissen nicht die genaue Bedeutung. Ich konnte nicht verstehen, warum sie sich so verhielten. Und meine ganze Kindheit über war ich eine Zielscheibe für Fremdenhasser*innen. Mein Bruder versuchte, mich zu beschützen. Meine Eltern hatten Angst, mich auf die Straße gehen zu lassen. Ich selbst habe lange Zeit nicht über die Fremdenfeindlichkeit gesprochen, die ich immer wieder erlebt habe. Ich hatte Angst, zur Polizei zu gehen.
Svoboda: Wir wissen, dass Sie als Klimaaktivist jeden Freitag Mahnwache im Herz von Moskau gehalten haben. Was passierte im Jahr 2019, als Sie wieder auf Ihrem gewöhnlichen Platz waren?
Makichyan: Ich wurde bei der Mahnwache für das Klima mit körperlicher Gewalt bedroht. Wir hatten ein Video von diesen Drohungen, aber ich erinnere mich, dass es für mich damals seltsam war, zur Polizei zu gehen. Ich war damals Staatsbürger Russlands, aber mir war klar, dass die Polizei Menschen wie mir nicht helfen würde.
Ich gab meine Karriere als Geiger auf und beschloss, Umweltaktivist zu werden. Auch in dieser Funktion war ich ständig mit Fremdenfeindlichkeit konfrontiert. Bei Mahnwachen wurde mir hin und wieder gesagt:
„Geh in dein eigenes Land und tritt dort auf“. Unter jedes meiner Interviews schrieben sie Beleidigungen aus ethnischen Gründen. Ich achtete nicht auf solche Worte, ich war mir sicher, dass ich in Russland wichtige Dinge tat – sprach über die Klimakrise, verhielt mich wie ein verantwortlicher Bürger. Es war doch unmöglich, über Ökologie zu sprechen, ohne die Politik zu berühren.
Ich wurde ein politischer Aktivist und war gezwungen, Russland zu verlassen, als der Krieg gegen die Ukraine begann. Bald wurde mir und meiner ganzen Familie die russische Staatsbürgerschaft entzogen. Fremdenfeindlichkeit ist also ein vertrauter Teil meines Lebens. Ich brauche keine Berichte von Menschenrechtsexpert*innen zu lesen – ich weiß aus eigener Erfahrung, wie stark die Fremdenfeindlichkeit in der russländischen Gesellschaft verankert ist.
Svoboda: – Sie kritisieren oft, dass die russländische Opposition Minderheiten nicht unterstützt. Migrant*innen leisten trotz niedriger Löhne einen sehr wichtigen Beitrag in der Wirtschaft Russlands.
Makichyan: – Ich sehe keine bedeutende Verurteilung von Fremdenfeindlichkeit und Migrantenfeindlichkeit in der Zivilgesellschaft. Die meisten Meinungsführer*innen (лидеры) äußern sich nicht öffentlich zu Minderheitenfragen. Ich fordere Oppositionelle, die ein großes Publikum haben, auf, sich zu Rassismus und Migrantenfeindlichkeit zu äußern. Da der Krieg gegen die Ukraine Teil der russischen Kolonialpolitik ist, ist es ein weiterer Ausdruck davon. Davor gab es den Krieg in Tschetschenien, und der Krieg in Syrien dauert an. Die russländische Opposition interessiert sich nicht dafür, denn dieser Krieg findet irgendwo weit weg in einem muslimischen Land statt und betrifft die Russländer*innen nicht direkt.
Oppositionelle Meinungsführer*innen (лидеры) antworteten mir, dass das Thema Migrantenfeindlichkeit nicht populär sei, weil es nur einen kleinen Kreis von Menschen betreffe. Die Expert*innen ziehen es vor, Themen zu behandeln, die die breite Masse betreffen, um keine Abonnent*innen zu verlieren. Sie sagen, dass auch sie unter den russländischen Behörden gelitten haben und selbst leiden. Und das stimmt auch.
Diejenigen, die es geschafft haben, Russland zu verlassen und in Europa Arbeit zu finden, verfügen über soziales Kapital, haben mehr Privilegien, öffentlich über die Diskriminierung von Migrant*innen in Russland zu sprechen.
Svoboda: Können Sie sagen, wie die rechtliche Situation von Migrant*innen in Russland aussieht?
Makichyan: Migrant*innen in Russland können sich nicht wehren, sie haben überhaupt keine Rechte. Ihre Situation wird nur noch schlimmer werden.
Es scheint, als hätten die Behörden beschlossen, den Nazis zu erlauben, Dampf gegen Migrant*innen abzulassen. Die Polizei fängt Terrorismusverdächtige und foltert sie einfach. Es ist klar, dass es sich bei diesen Verdächtigen meist um Migrant*innen handelt. Sie werden gezwungen, in der Ukraine zu kämpfen, sie werden erpresst, als Provokateure bei Protestkundgebungen zu arbeiten. Und ganz allgemein machen sie immer die Drecksarbeit. All die wunderbaren neuen Gebäude in Moskau wurden von Migrant*innen gebaut. Aber niemand kümmert sich um sie.
Svoboda: Vielleicht hat die russländische Opposition nur das Bedürfnis, sich aus ihrer Sicht auf ehrgeizigere Ziele zu konzentrieren?
Makichyan: Die Opposition spricht oft über die Befreiung Russlands. Aber wie will sie es erreichen, wenn sie die Rechte von Minderheiten ignoriert? Vor kurzem habe ich der Politikwissenschaftlerin Katherine Shulman eine Frage zu Rassismus und Migrantenfeindlichkeit gestellt. Und ihre Antwort hat mich überrascht. Sie schrieb eine lange Antwort, die kein einziges Wort von Substanz enthielt.
Meiner Meinung nach macht sie sich mitschuldig an der Gewalt, wenn sie dazu schweigt. Wenn wir Russland verändern wollen, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass alle in diesem Land lebenden Menschen, nicht nur Weiße und Russ*innen, geschützt werden müssen.
Und das ist die Aufgabe der Zivilgesellschaft, einschließlich ihrer öffentlichen Vertreter*innen. Die Öffentlichkeit ist eine große Macht, und sie sollte fair eingesetzt werden, wobei die Interessen von Minderheiten zu berücksichtigen sind. Und abnehmende Popularität beim Publikum sollte kein Hindernis auf diesem Weg sein.
Svoboda: Haben Sie versucht, Arshak, selbst politisch aktiv zu wirken?
Können Sie vorstellen, mit Oppositionellen zusammen zu arbeiten? Wenn ja, unter welchen Voraussetzungen?
Makichyan: Als ich mal für die Staatsduma kandidierte, wurde mir gesagt, dass ich weniger Stimmen bekommen würde, wenn ich die Rechte von Migrant*innen in mein Programm aufnehme. Ich dachte, in der Politik geht es nicht um Stimmen, sondern um Werte. Wenn wir auf der Jagd nach Einschaltquoten auf Kosten des Sinns gehen, werden wir der Propaganda ähneln und anfangen, nach deren Regeln zu spielen.
Auch wenn es nicht ein „Herrliches Russland der Zukunft“ ist, das wir erträumen, sondern einfach ein ganz normales Land, in jedem Fall müssen wir einen Dialog innerhalb der Zivilgesellschaft führen. Bisher gibt es für mich keine Politiker*innen in der russländischen Opposition.
Chodorkowski, die Stiftung für Korruptionsbekämpfung etc. sie alle sind für mich nur Blogger*innen, weil sie mich nicht repräsentieren. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die erwarten, dass die derzeitige russländische Regierung von selbst verschwindet, weil sie angeblich schwach ist. Ich bin sicher, dass das nicht passieren wird, denn die Macht ist stark. Und der einzige Ausweg für uns ist, ein Staat zu werden, in dem die Rechte von Minderheiten wichtig sind und geschützt werden. Ich meine, dass wir diesen Staat in unseren Köpfen selbst vorwegnehmen müssen. Aber das versteht heute fast niemand. Und alle sagen, sie sind gelähmt, sie können nichts tun.
Meiner Meinung nach ist das erlernte Hilflosigkeit. Die Oppositionellen fühlen sich als Opfer: weil sie zu Unrecht als Extremisten und ausländische Agenten angesehen werden, und einige von ihnen sind ehemalige politische Gefangene. Dennoch darf man das Leid derjenigen nicht abwerten, denen es um ein Vielfaches schlechter geht. Es gibt niemanden, der ihnen hilft: Wegen des Krieges und der Krise stellen die Organisationen, die bis her Migrant*innen geholfen haben, ihre Arbeit ein.
Svoboda: Wie hat sich der Krieg gegen die Ukraine Ihrer Beobachtungen nach auf die Situation der Migrant*innen in Russland ausgewirkt? War es eventuell vor dem Krieg anders? Denn wir wissen, dass Russland sowohl in der Sowjetzeit und als nach dem Zerfall der UdSSR ein Vielvölkerstaat ist.
Makichyan: Die Menschen in Russland haben viel Wut angestaut, weil der Krieg länger als zwei Jahre andauert. Es ist beängstigend, sich vorzustellen, wozu dieser Hass innerhalb Russlands führen wird. Und er wird sich mit Sicherheit gegen die wehrloseste Kategorie der Bevölkerung richten, zu der auch die Migrant*innen gehören. Die Lage der Migrant*innen wird sich mit der Verschlechterung der Lebensqualität der Russ*innen weiter verschlechtern.
Alle Kriege, die Russland derzeit führt, werden mit der Begründung geführt, dass es eine große Nation gibt, die angeblich das Recht hat, andere Nationen zu erobern. Man muss sich klarmachen, dass die derzeitige russländische Regierung nicht aus dem Nichts entstanden ist. Sie existiert dank der stillschweigenden Zustimmung vieler Russländer, dass die Russen eine privilegierte Stellung einnehmen sollten. Und solange wir in Menschen erster und zweiter Klasse unterteilt bleiben, werden wir keine Zukunft haben.
Svoboda: Was konkret würden Sie nicht nur der Oppositionellen sondern der ganzen Gesellschaft in dieser Situation vorschlagen?
Makichyan: Es ist notwendig, die Wahrheit auszusprechen: Der Krieg in der Ukraine ist eine Folge der endlosen Völkermorde, denen die Mehrheit der Bürger*innen Russlands zugestimmt hat. Ja, das haben sie, denn sie haben ihre Ablehnung nicht öffentlich zum Ausdruck gebracht.
Ich will nicht behaupten, dass ich selbst das Imperium in mir endgültig besiegt habe. Ich betone es, wir müssen anfangen, den schwächeren Mitgliedern der russländischen Gesellschaft zu helfen, uns mit den Migrant*innen zu solidarisieren, anstatt von den Minderheiten zu verlangen, sie sollen ihre Probleme selbst lösen.
Wir haben soziale Netzwerke, wir haben die Möglichkeit, Diskussionen zu führen. Migrant*innen haben nichts dergleichen. Die Migrant*innen, die gezwungen sind, Militärverträge zu unterschreiben, wissen meist nicht, dass sie sich zum Beispiel an Nichtregierungsorganisationen um Unterstützung wenden können. Wir müssen mit Migrant*innen in Kontakt treten und ihnen zuhören, wir dürfen sie nicht mit einem brutalen Staat allein lassen. Wir müssen die Bedeutung der Migrant*innen für die Zivilgesellschaft Russlands erkennen lassen. Und dafür sorgen, dass auch ihre Stimmen, die Stimmen derer die nicht für sich selbst eintreten können, gehört werden.
06. April 2024 https://www.svoboda.org/a/nakopilosj-mnogo-zlosti-ksenofobiya-i-zaschita-migrantov-v-rossii/32893552.html
RG München: Laut offizieller Statistik arbeiten in Russland ca 3 Millionen Migrant*innen aus Zentralasien und Kaukaus.
In der Woche nach dem Terroranschlag wurden über 400 Ausländer aus Russland ausgewiesen.
„Die Xenophobie in Russland war immer ein ernsthaftes Problem für Menschen aus Zentralasien. Nach dem 22. März verschlechterte sich die Situation“ – ein Zitat aus der Deutsche Welle.
In Tadschikistan wurde der große Abzug ihrer Landsleute aus Russland festgestellt.
Eine russische Zeitung Business Online schreibt, dass nach dem Crokus-Terroranschlag Gastarbeiter*innen Angst haben nach Russland zu reisen.
Unabhängige Journalist*innen in Russland berichten immer wieder über Überfällen auf Migrant*innen.
Das markanteste ist doch das Folgende:
Der Leiter des Sicherheitsrates Russlands, Nikolai Patruschew, sagte auf dem 12. Internationalen Treffen der Hohen Vertreter für Sicherheitsfragen in St. Petersburg, die illegale Migration sei eine Quelle großer Risiken und schaffe die Voraussetzungen für den Zusammenbruch Russlands.
Patruschew zufolge stellen die Migrationsströme eine terroristische und humanitäre Bedrohung dar.
Sie „zerstören das ethnisch-konfessionelle Gleichgewicht und bilden die Voraussetzung nicht nur für die Veränderung von Grenzen, sondern auch für den Zerfall von Ländern“.
Wir empfehlen auch https://gfbv-voices.org. Das war die Sendung der Regionalgruppe München der Gesellschaft für bedrohte Völker auf Radio Lora München 92.4
Am Mikrofon verabschieden sich Tanja, Felix, Tjan.
Wir bedanken uns recht herzlich bei unserem Techniker Carl Horlebein und bei Ihnen, liebe Zuhörer*innen für Ihre Interesse und hoffen, Sie bei unserer Sendung am Di. 30. July 2024 um 19 Uhr wieder begrüßen zu dürfen.
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