11-12-2024
Die Mär von der Wagenburg
Was hat Südtirols Kampf um Autonomie mit Ethnozentrismus zu tun?
Von Wolfang Mayr
Minderheiten-Regionen, “danger zones“, Gefahrenzonen? Ja, doch. Im Baskenland explodierten bis noch vor weniger Jahren Bomben der ETA-Attentäter, in Nordirland wollte die im irischen Unabhängigkeitskrieg entstandene IRA die britische Armee rausbomben.
Auch auf Korsika zündeten Attentäter ihre Bomben, gegen Hotels, Zweitwohnungen, staatliche Einrichtungen. Korsika galt als „Banditen-Insel“.
In diesen drei Regionen sind die Parteien der Attentäter inzwischen an der Regierung, in Nord-Irland und auf Korsika. Im Baskenland überholte die linksnationalistische EH Bildu die bisher stimmenstärkste Baskische Nationalpartei PNV.
Ja, Gefahrenzonen, es starben auch viele Unschuldige.
Südtirol und Jura
Am 8. Dezember erinnerten Schützen und Heimatbündler auf dem Friedhof von St. Pauls an Sepp Kerschbaumer, Gründer des Befreiungsausschusses BAS und mitverantwortlich für die „Feuernacht“ 1961. Historiker können ausschweifend über die Auswirkungen der Terroranschläge des BAS auf die Autonomieverhandlungen referieren. Der langjährige SVP-Obmann und Landeshauptmann Silvius Magnago befand, als Autonomie-Vater wird er es wohl wissen, dass die Anschläge die Verhandlungen regelrecht befeuerten.
Südtirol war Ende der 1950er und in den 1960er Jahren eine Gefahrenzone. Der italienische Staat stationierte in seinem Kampf gegen die Attentäter tausende Soldaten und Carabinieri in Südtirol. Einige der eingesetzten Methoden gegen die Attentäter waren glatte Verstöße gegen den Rechtsstaat. Die einstige Gefahrenzone zählt heute zur Gruppe der wohlhabenden Regionen in der EU.
Sogar in der Schweiz explodierten Bomben, im Jura. Die französischen Jurassier wollten weg aus der Deutsch-Berner Bevormundung, die Radikalen bombten für den eigenen Kanton Jura. So wie 1984, als Urheber galten Mitglieder der Jugendbewegung „Beliers“, die 1951 entstandene Sezessionsbewegung strengte politisch die Lösung des Juras von Bern an. In den 1970er Jahren stimmten die Bürger:innen gleich zweimal für die Schaffung eines eigenen Kantons. Der dann auch Realität wurde. Der Jura ist der jüngste Kanton der Schweiz und trägt den amtlichen Titel „Republik und Kanton Jura“.
Eine Geschichte des sich Wehrens gegen das ethnische Plattmachen, eine Geschichte des Widerstandes gegen die ethnische Einvernahme durch den Nationalstaat.
Danger Zones. A Study of National Minorities
Lange ist es her. Viele der Gründe für ethnische Konflikte in Europa liegen aber noch weiter zurück. Mehr als 100 Jahre. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zerbrachen multinationale Imperien, einstige Staatsvölker wurden in den neu entstandenen Nationalstaaten über Nacht zu Minderheiten. Diese organisierten sich im „Europäischen Nationalitätenkongress“, anfangs eine Zusammenschau deutscher und jüdischer Minderheiten im östlichen Mitteleuropa. Der Kongress forderte die Selbstbestimmung, wie von US-Präsident Wilson als Friedenslösung ausgegeben.
Die Reaktion vieler Staaten darauf, ethnische Säuberungen. Die Nationalstaaten Ausdruck von tatsächlichen danger zones.
Der von den Alliierten gegründete Völkerbund versuchte dagegen zu halten, mit der Formulierung von Minderheitenrechten. Damit beschäftigt war eine eigene Minderheitenkommission. Mitarbeiter John S. Stephens schrieb seine Erfahrungen nieder: „Danger Zones. A Study of National Minorities“.
Die beiden Eurac-Forschenden Hannes Obermair und Josef Prackwieser veröffentlichten das fast 100 Jahre alt Buch und aktualisierten es mit ihren Kommentaren: “Gefahrenzonen Europas. Eine Untersuchung zu nationalen Minderheiten“ (Verlag Raetia/alfabeta). Auch Südtirol kommt vor, damals schon unter faschistische Herrschaft, der Südtiroler Parlamentarier Baron Paul von Sternbach vom “Deutschen Verband” war einer der Informanten für Stephens.
Obermair und Prackwieser ergänzten mit ihren Analysen den gar nicht altbacken wirkenden Text, im Gegenteil. Manches von Stephens gilt auch heute noch. Rechte für Minderheiten, Instrumente der Entspannung. Beide setzen sich mit dem Begriff “Minderheiten” auseinander.
Wer spricht in Südtirol heute von Minderheiten? Die Ladiner sind es zweifelsohne, italienische Parteien und Südtiroler Linksliberale beschreiben die italienische Bevölkerungsgruppe als die neue Minderheit in Südtirol. Also jetzt auch ein Paket für die Italiener? Weg mit dem Proporz, der Zweisprachigkeit und der Ansässigkeitsklausel?
Danger Zone Südtirol
Der Historiker Hannes Obermair, blitzgescheit und kreativ querdenkend zog aus dem Buch von Stephens auch seine Schlußfolgerungen für Südtirol. Sehr kritische, negative. Doch der Reihe nach.
Minderheitenregionen, “Danger Zone?” Nein, wenn die Nationalstaaten statt ethnisch zu mauern mit ihren sprachlichen oder nationalen Minderheiten emanzipatorisch umgehen, wird es zu keinen wie auch immer gearteten Gefahren kommen. Zentralen, die ausgrenzen, gängeln und/oder diskriminieren, drängen Minderheitenregionen in “danger zones”.
Bei der Präsentation des Buches Ende November in der Tessmann-Bibliothek in Bozen zeichnete Obermair ein äußerst unsympathisches Bild von Südtirol. Ethnozentristisch mit Wagenburg-Mentalität, deutsch abgeschottet, zutiefst provinziell, kurzum kleinkariert.
Manches mag ja zutreffen. Aber wie hätten die deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler:innen nach 1918 auf die italienische Annexion reagieren sollen? Freudig, weil endlich raus aus dem konservativen österreichischen Mief, weil endlich divers?
Entnationalisierung der Fremdstämmigen
Die faschistische Diktatur von 1922 bis 1943 und ihre radikale Entnationalisierungspolitik – die gebürtige Brixner Forscherin Roberta Pergher spricht von einem extremen italienischen Siedlerkolonialismus in Südtirol – drückten Südtirol an die Wand. Vieles war verboten, Südtirol beispielsweise hieß alto adige, die Südtiroler erhielten den Stempel “Fremdstämmige”, “allogeni” aufgedrückt. Auch eine Art Untermenschen, weil angebliche Eindringlinge, Invasoren. Der Faschismus und die erlebten Erfahrungen wirkten lange nach.
So stimmte 1939 eine übergroße Mehrheit der Südtiroler bei der Option für die Auswanderung nach Nazi-Deutschland. Waren diese, die Optanten, allesamt Nazis? Viele schon.
Südtiroler versuchten in jener Zeit ein Auskommen mit dem Faschismus zu finden oder wurden zu überzeugten Faschisten wie Anton Spechtenhauser und manch anderer. Wer hat aber das Recht, dieses Anbiedern in einer Zeit der Diktatur zu brandmarken? Die Anbiederer als Verräter zu verunglimpfen?
NS-Täter und Kollaborateure
Dies gilt doch auch für die grauenhaften Ereignisse nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1943 in Italien. Viele Südtiroler:innen empfingen die Soldaten mit Blumensträußen und Applaus, empfanden die Besetzung als Befreiung. Die Wehrmacht, die SS andere Nazi-Organisationen konnten sich auf die “Mitarbeit” vieler Südtiroler verlassen. Es gab viele Aktive, Mitmacher und Mitläufer. Südtiroler beteiligten sich an der Verfolgung der Juden in Meran, “arbeiteten” im sogenannten Durchgangslager in der Bozner Reschenstraße. Aus Opfern des Faschismus wurden Nazi-Täter.
Halber Neustart
Nach der Befreiung 1945 wurden die kompromittierten Südtiroler vom antifaschistischen Italien kollektiv bestraft. Keine Rückkehr nach Österreich, auch keine Landesautonomie, obwohl im italienisch-österreichischen Pariser Vertrag 1946 entsprechend – wenn auch nur dünn – formuliert, stattdessen 1948 eine Regionalautonomie gemeinsam mit dem Trentino. Die Autonomie für die beiden Provinzen war knapp und dürftig, für die Region hingegen potent, die ein zentralistisches Abbild des Zentralstaates war.
Das Absurde daran, die Regionalautonomie wurde auch nur stückweise umgesetzt, wie es Martha Stocker in “Die Pakt-Schlacht” beschreibt. Die Antifaschisten als Hüter des italienischen Zentralismus. Während Sizilien bereits 1945 eine gut ausgestattete Autonomie erhielt, musste Südtirol bis 1972 warten, bis zum Zweiten Autonomiestatut.
Dazwischen lag eine unendlich lange anhaltende Bewährungsprobe. Der Staat förderte die italienische Migration mit der Zuweisung von staatlichen Jobs und Sozialwohnungen an Italiener, gleichzeitig verließen wegen fehlender Perspektiven tausende junge Südtiroler das Land in Richtung Österreich, BRD und Schweiz. Die Zeit zwischen dem Referendum für die Republik 1946 (die Südtiroler durften nicht mitstimmen wegen fehlender italienischer Staatsbürgerschaft) und der parlamentarischen Genehmigung der neuen Autonomie ist kein Ruhmesblatt für die italienische Republik.
Die Antwort der Mehrheitspartei, der SVP, war ihr kompaktes Auftreten. Die Zustimmung zur SVP war fast grenzenlos, heute unvorstellbar. Zusammenhalten war die Parole, die SVP und Südtirol präsentierten sich wie eine Wagenburg. Eine Ethno-Politik, davon ist Hannes Obermair überzeugt, die dem Land schadete. Der Demokratie, dem Pluralismus, dem Zusammenleben.
In dieser grauen Zeit dazwischen manifestierte der italienische Staat seine grenzenlose Macht in der Provinz Bozen. Die folgenden Attentate, das österreichische Zerren Italiens vor die UNO, die dann – wohl als Reaktion – einsetzenden Verhandlungen zwischen Bozen und Rom auf Augenhöhe entspannten die Lage, führten über die ausgehandelten Paket-Maßnahmen zwischen der SVP und der italienischen Regierung zur Landesautonomie, zum Zweiten Autonomiestatut. Historiker Hans Heiss nennt die Autonomie eine Zäsur, ein Liberalisierungs- und Modernisierungsschub folgte.
Wagenburg als Widerstand
Das war nur möglich und machbar, weil die SVP und ihr Wählervolk geschlossen auftraten. Ja, ethnozentristisch in einer Wagenburg. Mag ja sein, dass manches in der Südtirol-Politik verquer lief, dass das Ethnische lange die Politik dominierte, wie eine Glasur den großen Rest zudeckte. Aber das war eine erzwungene Notwehr der Südtiroler. Erzwungen von der nationalstaatlichen Arroganz.
Der Staat Italien blieb trotz seiner progressiven Verfassung dem eigenen Ethnozentrismus verpflichtet. Verfassungs-Artikel 6 von 1948 sieht den Schutz und die Förderung der sprachlichen Minderheiten vor. Das entsprechende Gesetz wurde erst 1999 verabschiedet. Der Artikel 1 dieses Gesetzes stellt unmissverständlich klar, dass die Amtssprache der Republik italienisch ist. Was soll das in einem Minderheitengesetz?
Ähnlich, aber deutlich schneller, wurde Italien – ebenso in der Verfassung festgeschrieben – in einen Regionalstaat umgebaut. 1970. Weitere Regionalisierungsgesetze folgten 1975 und 1998. Mit der Verfassungsreform 2001 sollte die Regionalisierung auf Verfassungsbasis gestellt werden. Ein weiterer Versuch des Ausbaus der Regionalautonomie der rechtsrechten Regierung Meloni scheiterte letzthin – nach Anrufen durch die linke Opposition – am Verfassungsgericht.
In der Zwischenzeit holte sich der Staat auch wieder Kompetenzen aus Südtirol zurück. Die Studie von Innsbrucker Rechtsprofessoren Esther Happacher und Walter Obwexer spricht eine klare Sprache. Die Autonomie verlor an Gewicht und an Kompetenzen, der Staat schränkte sie in wesentlichen Bereichen spürbar bis drastisch ein. Muss einem solchen Staat nicht ethnozentristisch samt Wagenburg entgegengetreten werden?
Beispiel Süd-Kärnten
Dort, wo die von Hannes Obermair kritisierte ethnisch-politische Kompaktheit fehlt, verliert die Minderheit. Ein Beispiel dafür sind die Kärntner Slowenen. Die kleine Minderheit leistet sich den Luxus von drei ideologisch unterschiedlichen Organisationen, Slowenischsprachige sind in den großen Parteien aktiv und wählen sie auch, mit einer faktischen zehn Prozent-Hürde wird der Einzug der autonomen Kärntner Einheitsliste KEL in den Kärntner Landtag erfolgreich verhindert.
Vor hundert Jahren sollen im südlichen Kärnten noch mehr als 100.000 Personen slowenisch gesprochen haben. Heute – so die Vermutung – sind es nur mehr spärliche 10.000. Ob deshalb in Kärnten der Pluralismus größer ist als in Südtirol, weil der Minderheit der Ethnozentrismus abgeht?
Warum soll die Zentrale nicht auf Augenhöhe mit der minoritären ethnischen Peripherie verhandend zu gemeinsamen Lösungen kommen?
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