„Die Last der Vergangenheit: Kolonialismus und die Verantwortung der Gegenwart“

Mit der symbolischen Rückgabe von Schädeln oder Kunstwerken aus der Zeit des Kolonialismus ist es nicht getan. Wir müssen uns der Vergangenheit stellen und die Gegenwart aktiv gestalten – im Bewusstsein der Wunden, die koloniale Gewalt hinterlassen hat, meint unser Kolumnist Jan Diedrichsen.

Erschienen als Kolumne VOICES – MINDERHEITEN WELTWEIT im „Der Nordschleswiger“

Von Jan Diedrichsen

Geschichte hinterlässt Spuren – oft tief verborgen in den Fundamenten unserer Museen, manchmal sichtbar, wenn sie unerwartet wieder auftauchen. Ein Beispiel dafür ist der Schädel von Hoshkó, einem Mann der indigenen Gemeinschaft der Selk’nam aus Feuerland, der vor über 100 Jahren dem Lübecker Museum geschenkt wurde. Im Jahr 2024 fand die symbolische Rückgabe statt. Doch Hoshkó bleibt in Lübeck.

Das Problem sind die chilenischen Gesetze. Diese stufen den Schädel als „archäologisches Erbe“ ein. Eine Rückgabe nach Chile würde ihn zu Staatseigentum machen – und genau das wollen die Selk’nam verhindern. Sie befürchten eine erneute Missachtung ihrer Rechte. Die Entscheidung, den Schädel in Lübeck zu belassen, schützt ihn vor weiterer staatlicher Aneignung.

Die Geschichte zeigt, wie komplex der Umgang mit der kolonialen Vergangenheit ist. Es geht nicht nur um die Rückgabe von Artefakten und menschlichen Überresten, sondern auch um den Respekt gegenüber den Völkern, deren Geschichte von Kolonialismus und Verfolgung geprägt ist. Die Verwandten kehrten ohne Hoshkó zurück – doch der Kampf um ihr kulturelles Erbe geht weiter.

Die Rückgabe von Kulturgütern ist keine einfache Geste. Sie erfordert ein tiefes Verständnis der Machtstrukturen des Kolonialismus. Für indigene Gemeinschaften sind die Überreste ihrer Vorfahren keine Objekte, sondern heilige Bestandteile ihrer Identität. Die Restitutionsdebatte ist daher eine aktuelle Herausforderung.

Auch in Deutschland wächst der Druck, sich mit der kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Eine Anhörung im Bundestag zeigte vor einigen Tagen, dass koloniale Gewalt und die daraus resultierenden Traumata bis heute nachwirken. In Namibia ist die Erinnerung an den Völkermord an den Herero und Nama ein schmerzhaftes Thema, das Debatten um Entschädigung und Gedenken befeuert.

Die Aufarbeitung ist nicht nur eine historische, sondern auch eine politische Herausforderung. Manche Länder wie Russland und China nutzen die koloniale Vergangenheit Europas, um geopolitische Vorteile zu erlangen. Eine reflektierte Erinnerungspolitik ist notwendig, um die Beziehungen nicht zu belasten.

Die Verantwortung Europas – und Deutschlands – geht weit über symbolische Restitutionen hinaus. Die wirtschaftlichen Ungleichheiten, die ihre Wurzeln im Kolonialismus haben, bestehen bis heute fort.

Angehörige von Minderheiten haben ein tiefes Verständnis von kultureller Vielfalt. Dieses Bewusstsein sollte uns motivieren, uns stärker für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung einzusetzen. Mit der Rückgabe von Schädeln oder Kunstwerken ist es nicht getan. Diese Geste muss über die Symbolik hinausgehen und die Rechte der betroffenen Völker wahren.

Die Geschichte von Hoshkó ist ein Symbol für eine tiefere Verantwortung. Wir müssen uns der Vergangenheit stellen und die Gegenwart aktiv gestalten – im Bewusstsein der Wunden, die der Kolonialismus hinterlassen hat.

Die Selk’nam

Geschichte und Lebensweise

  • Die Selk’nam waren ursprünglich eine indigene Ethnie, die auf Feuerland, im südlichen Teil Südamerikas, beheimatet war.
  • Sie lebten nomadisch und zogen in kleinen Gruppen über die Isla Grande, wo sie sich hauptsächlich von Guanakos (Stammform des domestizierten Lamas, Anm. d. Red.) und Kleintieren ernährten.
  • Mitte des 19. Jahrhunderts lebten schätzungsweise 3.000 bis 4.000 Selk’nam auf Feuerland.

Kontakt mit Europäern und Genozid

  • Ab etwa 1850 begann die dauerhafte Besiedelung Feuerlands durch europäische Einwandernde.
  • Goldsucher und Schafzüchter verdrängten die Selk’nam von ihren Jagdgründen.
  • In den folgenden Jahrzehnten kam es zu einem Genozid: Viele Selk’nam wurden ermordet oder starben an eingeschleppten Krankheiten.
  • 1919 wurden nur noch 279 Selk’nam gezählt.

Aktuelle Situation

  • Lange galten die Selk’nam als ausgestorben, doch heute gibt es Nachfahren, die ihre Herkunft anerkennen.
  • Laut argentinischem Zensus von 2010 leben 294 Selk’nam auf Feuerland.
  • In Chile kämpft eine Gemeinschaft von etwa 200 Personen um die Anerkennung als indigenes Volk.
  • Trotz der tragischen Vergangenheit bemühen sich die Nachfahren der Selk’nam, ihre Existenz als Volk fortzuführen und ihre kulturelle Identität zu bewahren.

Weitere Quellen:

https://www.blickpunkt-lateinamerika.de/artikel/volk-der-selknam-wir-ex…

https://www.sueddeutsche.de/politik/gemeinschaft-der-selk-nam-nach-110-…

https://www.derstandard.de/story/2000144493039/die-verschwundene-voelke…

https://smb.museum-digital.de/?id=56497&t=people_to_people

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