30-11-2024
Die Illusion der Gleichheit – Warum Gerechtigkeit mehr braucht
Gleiche Behandlung ungleicher Gruppen ist nicht gerecht, meint Kolumnist Jan Diedrichsen. Im Gegenteil. Das Beispiel der Idee, die Māori in Neuseeland gesetzlich gleichzustellen, verdeutlicht das. Eine Gleichbehandlung strukturell benachteiligter Bevölkerungsgruppen verschärft die Ungleichheit nur.
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Erschienen als Kolumne VOICES – MINDERHEITEN WELTWEIT im „Der Nordschleswiger“
Von Jan Diedrichsen
Neuseelands Parlament bebte kürzlich vor einer unmissverständlichen Botschaft: Mit einem Haka – dem traditionellen Tanz der Māori – protestierte die Abgeordnete Hana-Rāwhiti Maipi-Clarke gegen ein Gesetz, das die Rechte der indigenen Bevölkerung neu definieren soll. Es war nicht nur ein Auftritt, es war ein Weckruf. Denn hinter der Debatte um Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit steht die Frage: Was ist eigentlich gerecht?
Das geplante Gesetz der rechtsliberalen Partei ACT bezieht sich auf den Vertrag von Waitangi, das Gründungsdokument Neuseelands von 1840, das die Beziehungen zwischen der britischen Krone und den Māori regelt und den Staat verpflichtet, die Rechte und Interessen der indigenen Bevölkerung zu respektieren und zu schützen. Doch diese Auslegung habe zu „ethnischen Spaltungen“ geführt, so ACT. Ihr Vorschlag: eine gesetzlich verankerte „Gleichheit“ für alle Bürger – ohne Sonderrechte für die Māori.
Doch diese Gleichheit ist eine Illusion. Sie ignoriert die historische Realität: Jahrzehntelanger Landraub, strukturelle Diskriminierung und soziale Ungleichheit haben die Māori in vielerlei Hinsicht benachteiligt. „Gleichbehandlung“ verschärft diese Probleme, weil sie so tut, als gäbe es keine ungleichen Ausgangsbedingungen. Wer Gleichbehandlung fordert, schützt letztlich den Status quo – und begünstigt diejenigen, die von Kolonialismus und Privilegien profitiert haben.
Der Protest gegen das Gesetz ist unübersehbar. Tausende Menschen ziehen in einem „Hīkoi“ – einem Protestmarsch – quer durch Neuseeland, von den nördlichsten Regionen bis nach Wellington. Auf ihrem Weg vereinen sie Māori, Nicht-Māori, Familien, Aktivistinnen und Aktivisten sowie Stammesälteste. Die Botschaft ist klar: Der Vertrag von Waitangi ist kein Relikt der Vergangenheit, sondern eine lebendige Verpflichtung. „Unsere Rechte sind kein Privileg“, sagt eine Teilnehmerin, „sondern die Grundlage für eine gerechte Gesellschaft“.
Auch im Parlament spitzt sich die Kontroverse zu. Hana-Rāwhiti Maipi-Clarke, die jüngste Abgeordnete in der Geschichte Neuseelands, wurde wegen ihres Hakas des Saales verwiesen. Die regierenden Koalitionsparteien, darunter ACT, verteidigen das Gesetz als notwendigen Schritt zur nationalen Einheit. Doch selbst Premierminister Christopher Luxon, der das Gesetz ablehnt, bezeichnete es als „spaltend“ und „brandgefährlich“.
Die Zahlen sprechen für sich: Māori machen 18 Prozent der Bevölkerung Neuseelands aus, aber sie leben im Durchschnitt sieben Jahre kürzer, verdienen weniger und ihre Kinder haben schlechtere Bildungschancen. Diese Ungleichheiten sind das Erbe kolonialer Gewalt. Der Vertrag von Waitangi wurde geschaffen, um diese Missstände auszugleichen. Doch das neue Gesetz würde diese historische Verantwortung abschütteln – zugunsten einer Gleichheit, die Ungerechtigkeit ignoriert.
Neuseeland galt lange als Vorbild im Umgang mit indigenen Rechten. Doch die aktuelle Debatte zeigt, wie schnell der Ruf nach Gleichheit in eine Waffe gegen Gerechtigkeit umgedeutet werden kann. Die Māori machen deutlich: Gerechtigkeit bedeutet, Unterschiede anzuerkennen und auf dieser Basis einen echten Ausgleich zu schaffen. Alles andere ist kein Fortschritt, sondern Rückschritt – und eine Lehre, die weit über Neuseeland hinausgeht.
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