23-07-2024
“Der Schuss traf uns alle”
Über die Ermordung von Iryna Farion
Von Wolfgang Mayr
Die Wissenschaftlerin Iryna Farion war in der Ukraine umstritten, galt als strikte ukrainische Nationalistin, wandte sich vehement gegen die russische Sprache, kritisierte ukrainische Soldaten, die im Krieg gegen die russische Armee weiterhin in ihrer Muttersprache redeten. Russisch. Trotzdem, findet Iryna Panchenko, im Exil in Südtirol, war Iryna Farion eine große Frau.
Am 19. Juli 2024 starb Iryna Farion. Die engagierte Ukrainerin, Professorin an der Nationalen Universität „Lwiw Polytechnische Universität“, Wissenschaftlerin, öffentliche Aktivistin und Politikerin, wurde mit einem Schuss in die Schläfe vor ihrem Haus ermordet.
Iryna Farion war Autorin von sieben Monographien, 150 wissenschaftlichen Artikeln, Mutter, Großmutter, Abgeordnete des ukrainischen Parlaments der 7. Legislaturperiode.
Sie rief uns auf, stark zu sein, sie erinnerte uns an unsere Helden, unsere Geschichte und unsere Würde. Sie zögerte nicht, persönlich ein Rücktrittsgesuch für den pro-russischen Bildungsminister der Janukowytsch-Regierung einzureichen, selbst als ihre männlichen Parteikollegen zögerten. Nach Beginn der “Revolution der Würde” 2014 flohen sowohl Janukowytsch als auch sein Bildungsminister Tabatschnyk nach Moskau.
„Das Gebiet unserer Sprache ist die Linie unserer Grenze“, rief Iryna Farion leidenschaftlich von der Universitätskanzel und der Parlamentstribüne. Dank ihrer Reden wachte die postkoloniale Ukraine allmählich auf, erinnerte sich an ihre Vergangenheit und fand ihre nationale Identität wieder.
Wahrscheinlich hat niemand so viel zur Aufklärung der Ukrainer beigetragen wie sie. Ich höre immer noch ihre Vorlesungsreihe „Die Größe der Persönlichkeit“, ein Projekt, das Iryna Farion viele Jahre lang gestaltete, um die Geschichte der Ukraine zu popularisieren. Die wahre Geschichte, nicht die von den Besatzern aus Moskau geschriebene, die versuchten, sie aus unserem Gedächtnis zu löschen.
Wir haben oft in privaten Diskussionen und in sozialen Netzwerken gestritten, ich war liberaler. Aber ich bin jünger und mit dem Alter verstehe ich, dass eine Person, die weiß, was uns in der Zukunft erwartet, manchmal einfach keine Zeit und Geduld hat.
Iryna Farion wurde am Abend des 19. Juli vor ihrem Haus von einem unbekannten jungen Mann erschossen. Ihr Mord ist ein Schock für mich und viele Ukrainer.
Wenn Sie anfangen, über sie zu googeln und viel Negatives lesen, dann wissen Sie, dass der Moskauer FSB Ihnen seine Version zugespielt hat. Farion stand im Visier des FSB. Weil sie unbequem, unbestechlich und furchtlos war.
Am 19. Juli hat die Ukraine eine weitere bedeutende und große Persönlichkeit, eine Intellektuelle und Patriotin, verloren. Der Schuss auf Iryna Farion ist ein Schuss gegen uns alle zusammen und auf jeden Einzelnen, der sein Land liebt und sich dem Bösen und der moralischen Degradation widersetzt. Dieser Schuss zeigt uns, wie zerbrechlich und verletzlich unsere Welt ist.
Die Frontlinie der Kampfhandlungen verläuft im Osten der Ukraine. Iryna Farion wurde im Westen getötet. Unsere Gesellschaft war lange Zeit gespalten und diskutierte über die zukünftige politische Richtung und sogar über die historische Vergangenheit. Aber ich habe noch nie so viele Ukrainer zusammen gesehen wie heute bei ihrer Beerdigung in Lwiw.
Ich habe den Livestream gesehen. Es scheint, dass die Millionenstadt ihre Geschäfte aufgegeben hat und auf die Straße gegangen ist, um „Ehre, Ehre, Ehre Iryna Farion“ zu skandieren. „Ich habe keine Angst vor dem Tod und denke nicht an den Tod, weil solche wie ich sterben nicht eines natürlichen Todes“, sagte Frau Iryna in einem Interview und hatte recht. Jetzt ist sie für immer bei uns und jedes ihrer Worte, jeder Satz ist bereits in Zitaten zerlegt.
Ihr Mörder hat sie für uns unsterblich gemacht. „Ein freier Mensch dient niemandem. Er kann nur der Idee dienen“ – das sind auch ihre Worte. Danke für den Dienst an der Idee der Freiheit der Ukraine, Frau Iryna.
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