30-11-2024
Der blinde Fleck – wie der Globale Süden aus den Nachrichten verschwindet
Die Ignoranz gegenüber dem Globalen Süden ist kein Unfall, sondern ein Systemfehler, schreibt Kolumnist Jan Diedrichsen in seiner Kolumne „Voices – Minderheiten weltweit“.
Erschienen als Kolumne VOICES – MINDERHEITEN WELTWEIT im „Der Nordschleswiger“
Von Jan Diedrichsen
Bilder gehen um die Welt: Kinder in den Ruinen von Gaza, Menschen in der Ukraine, die sich vor Kälte und Bomben schützen. Diese Bilder stehen für Leid und Zerstörung – und sie finden ihren Weg in unsere Medien. Sie berühren uns, weil sie zeigen, wie nah das Unvorstellbare sein kann. Doch während wir mit berechtigter Anteilnahme auf diese Konflikte blicken, bleibt ein großer Teil der Welt unsichtbar: der Globale Süden, wo Menschen nicht nur unter Krisen, sondern auch unter Katastrophen und systematischer Vernachlässigung leiden.
Ein Beispiel für diese Ignoranz ist der Sudan. Seit April 2023 tobt dort ein Bürgerkrieg, der Millionen Menschen in die Flucht treibt, ganze Landstriche aushungert und die ohnehin fragile Gesellschaft zerstört. Laut Jan Egeland, Generalsekretär des Norwegischen Flüchtlingsrats, ist das Leid im Sudan „größer als in der Ukraine, Gaza und Somalia zusammen“. 24 Millionen Menschen sind vom Hungertod bedroht. 730.000 Kinder sind akut unterernährt und kämpfen täglich ums Überleben. Hunger wird hier als Waffe eingesetzt – mit systematischer Brutalität. Doch das weltweite Interesse bleibt marginal, die Berichterstattung sporadisch, die Empörung kaum vorhanden.
Das ist kein Zufall. Die Medien, auch in Deutschland, berichten nach bestimmten Prioritäten. Wie selektiv die Themenauswahl ist, zeigt eineLangzeitstudie des Kulturwissenschaftlers Ladislaus Ludescher: Die „Tagesschau“ widmete im Jahr 2022 dem Sport mehr Sendezeit als allen Ländern des globalen Südens zusammen. In den letzten Jahren wurden durchschnittlich nur zehn Prozent der Berichterstattung über Themen aus dem Globalen Süden gemacht – obwohl dort 85 Prozent der Weltbevölkerung leben.
Die Gründe? Konflikte im Süden gelten als „zu weit weg“, „zu komplex“ oder – schlimmer noch – als „normal“. Der Hunger von Millionen Menschen in Afrika scheint weniger berichtenswert als die Sorge um die Energiepreise in Europa. Diese selektive Wahrnehmung verstärkt das Schweigen der Politik: Ohne medialen Druck fehlt der politische Wille zum Handeln. So hat der Sudan keine milliardenschweren Hilfszusagen erhalten.
Aber es geht nicht nur um den Sudan. Denken wir an die äthiopische Region Tigray, wo bis zu 600.000 Menschen in einem der tödlichsten Konflikte des 21. Jahrhunderts ums Leben kamen. Oder an Myanmar, wo die brutale Militärjunta systematisch gegen die Zivilbevölkerung vorgeht. Diese Katastrophen scheinen weit weg, doch ihre Auswirkungen – Fluchtbewegungen, Hunger, der Zusammenbruch ganzer Regionen – erreichen uns längst.
Die Verantwortung der Medien ist groß. Ihre Entscheidung, was berichtenswert ist, prägt nicht nur unsere Wahrnehmung, sondern auch unser Handeln. Was nicht gezeigt wird, ist nicht in unserem Bewusstsein. Und das Schweigen hat Folgen: für die Menschen vor Ort, für die humanitäre Hilfe, für die politische Aufmerksamkeit.
Die Ignoranz gegenüber dem Globalen Süden ist kein Unfall, sondern ein Systemfehler. Es geht nicht darum, weniger über Gaza oder die Ukraine zu berichten – es geht darum, den gleichen Maßstab an den Rest der Welt anzulegen.
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