Demokratie mit Hürden (Teil 1)

Mit vielfältigen Tricks wurde und wird in den USA das Recht auf Mitbestimmung drastisch eingeschränkt.

Von Wolfgang Mayr

Mit der Verleihung der Staatsbürgerschaft vor 100 Jahren erhielten die indianischen US-Bürger:innen das Recht auf Mitsprache. Ein Recht, das aber immer wieder ausgehebelt wird, recherchierte Pauly Denetclaw auf IndianCountry-Today:

Ronnie Jo Horse zählt zur zweiten Generation von Oglala Lakota und Northern Cheyenne, die uneingeschränkt an Wahlen teilnehmen kann.

Ihr Großvater wurde 1910 geboren, bevor die Ureinwohner überhaupt als amerikanische Staatsbürger galten. Ihre Mutter ist die erste Generation, die wählen durfte.

Horse ließ sich einen Monat nach ihrem 18. Geburtstag 2010 in die Wählerliste eintragen. Horse ist jetzt 31 Jahre alt und Geschäftsführerin von Western Native Voice in Montana. 

Vor 100 Jahren, am 2. Juni 1924, unterzeichnete Präsident Calvin Coolidge den Indian Citizenship Act. Damit wurden die Ureinwohner zu Staatsbürgern der Vereinigten Staaten. Das Gesetz wird oft mit dem Wahlrecht in Verbindung gebracht. Fakt aber ist, daß das Wahlrecht für Angehörige indigener Völker erst 1962 in den Bundesstaaten in Kraft trat. Das Gesetz bestätigte die Staatsbürgerschaft, gewährte aber nicht die gleichen Rechte, die für weiße, männliche, amerikanische Staatsbürger galten.

Hundert Jahre danach?

Selbst heute, wo das 100-jährige Jubiläum des Indian Citizenship Act gefeiert wird, haben indigene Wähler immer noch Schwierigkeiten, ihre Stimme abzugeben, also zu wählen. Es gibt immer wieder Versuche, wie die Zusammenlegung von weißen und indianischen Wahlbezirken, Gerrymandering, indigene Stimmen zu “verwässern”, sie zu neutralisieren. Trotzdem schafft es eine wachsende Zahl von indigenen Kandidat:innen gewählt zu werden.

„Es hat Jahrzehnte gedauert hat, bis unser Volk ein vollständiges Wahlrecht erhielt“, findet Larry Wright vom National Congress of American Indians: „Wir haben noch einen langen Weg vor uns, weil wir heute noch offene Fragen mit dem Stimmrecht haben.“

Der Indian Citizenship Act ist ein kurzer Akt. Aufbewahrt wird er im Archiv des US-Kongresses, in der Dokumentensammlung „Original House Bills 6146 – 6499“ vom 68. Kongress, der erste Entwurf ist betitelt mit HR 6355, „Ein Gesetzentwurf: um den Innenminister zu ermächtigen, Staatsbürgerschaftszertifikate für Indianer auszustellen“.

Interessant der Zusatz, dass die Verleihung der Staatsbürgerschaft in keiner Weise das Recht eines Indianers auf Stammes- oder anderes Eigentum beeinträchtigten darf.

Staatsbürgerschaft ohne Vorbedingung

Laut Matthew Fletcher, Professor für indianisches Recht an der University of Michigan, trug der Act immerhin dazu bei, die Staatsbürgerschaft zu standardisieren, sie von Vorbedingungen zu entkoppeln.

Vor dem Indian Citizenship Act konnten indigene Personen die US-Staatsbürgerschaft nur dann erhalten, wenn sie sich taufen ließen und ihre individuellen Vertragsrechte aufgaben (siehe Dawes Act, die Blaupause für die Terminationspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg). Indigene Frauen konnten durch die Heirat mit weißen Männern Staatsbürgerinnen werden, ihre Kinder erhielten ebenfalls die Staatsbürgerschaft.

„Vor dem Bürgerkrieg verliehen die einzelnen Bundesstaaten die Staatsbürgerschaft“, erklärt Professor Fletcher von der Grand Traverse Band. „In den 1850er Jahren konnten in Michigan und Minnesota Indianer Staatsbürger ihrer `Heimatstaaten´ werden, nicht aber Bundesbürger.“

1868 gewährte der 14. Verfassungszusatz jeder Person, die in den USA geboren oder eingebürgert wurde, die Staatsbürgerschaft. Doch auch danach wurden die Ureinwohner immer noch unterschiedlich behandelt. Der 14. Verfassungszusatz galt nämlich nicht für Angehörige indigener Völker.

1870 erfolgte die Ratifizierung des 15. Verfassungszusatzes, der allen männlichen Bürgern, unabhängig von ihrer “Rasse”, das Wahlrecht einräumte. 1876 kam der Oberste Gerichtshofs zum Schluss, dass Ureinwohner US-Bürger sind. Der Gerichtshof folgte der sogenannten Marshall-Entscheidung der 1830er Jahre, wonach indigene Nationen inländisch abhängige Nationen sind. Das wiederum bedeutet, dass sich diese Nationen innerhalb der Grenzen der Vereinigten Staaten befinden und der Bundesregierung unterliegen. Nicht den einzelnen Bundesstaaten.

Indianer in der US-Politik

Es gab damals die ersten Versuche indigener Personen, sich in die Politik einzubringen. 1914 schaffte der Republikaner Charles Curtis von der Kaw Nation in Kansas den “Sprung” in den Senat. 1925 wählte die republikanische Fraktion Curtis zu ihrem Mehrheitsführer. 1929 wurde Curtis zum US-Vizepräsidenten gewählt, er war der Stellvertreter von Präsident Herbert Hoover.

Philipp Deloria von den Standing Rock Sioux und Geschichtsprofessor an der Harvard University wirft Curtis vor, kein Befürworter der Stammes-Souveränität gewesen zu sein. Ein “nationaler “Politiker vertritt Mainstream-Positionen, zweifelsohne nicht indianische Anliegen, ist Deloria überzeugt: “Seine Politik war assimilatorisch, er war kein Verfechter der Souveränität der Stämme war, was nicht heißen soll, dass er kein Fürsprecher der Ureinwohner war.“

Vielleicht sorgte die Präsenz von Curtis in der “nationalen” Politik für den notwendigen Anstoß, die rechtliche Lage der Überlebenden der Invasion zu sanieren. Am 29. Januar 1924 präsentierte der New Yorker republikanische Abgeordnete Homer P. Snyder erstmals seinen Entwurf für den Indian Citizenship Act, der am 18. März von Repräsentantenhaus verabschiedet wurde. Das Gesetz trat am 2. Juni 1924 in Kraft. 

Viele offene Fragen

Trotzdem, die “Lösung” der offenen rechtlichen Lage der indianischen US-Bürger:innen war nicht vollständig. Die Ureinwohner sahen sich mit den gleichen Wahlbeschränkungen konfrontiert wie die ehemaligen Sklaven und ihre Nachfahren. Denn, der Snyder Act erklärte die Indianer:innen “nur” zu Bürger:innen. Das Recht auf Teilnahme an den Wahlen schränkten die Bundesstaaten ein, mit der Begründung, Reservats-Indianer zahlen keine Steuern, sprechen nicht Englisch sowie jede Menge andere Vorwände, um das Wahlrecht trotz Staatsbürgerschaft kurzerhand auszusetzen.

Reichlich absurd. Im Ersten Weltkrieg kämpften viele indianische Soldaten in Europa, obwohl sie keine Staatsbürger waren, kein Englisch sprachen und keine Steuern zahlten. Sie kämpften und starben für einen Staat, der ihnen grundlegende demokratische Rechte verweigerte. 

Gleichzeitig versuchten die USA die Einwanderung aus dem südlichen und östlichen Europa drastisch einzuschränken. Bevorzugt wurden westeuropäische Migranten.

“Es ist kein Zufall, dass das indianische Staatsbürgerschaftsgesetz und das Einwanderungsgesetz 1924 verabschiedet wurden“, verknüpft Deloria inhaltlich die beiden Gesetze. Er ist überzeugt, dass die beiden Gesetze die Assimilierung der indianischen Rest-Bevölkerung und der Zuwanderer beschleunigen sollten. Die Behörden drängten laut Deloria auch die Zuwanderer, ihre Sprachen nicht mehr zu sprechen, ihre Bräuche aufzugeben und sich zu assimilieren.

Ausgesetztes Wahlrecht

Das Wahlrecht, die tatsächliche Teilhabe am politische Leben, kam für die indianischen US-Bürger:innen erst Jahrzehnte später. In der Zwischenzeit verloren sie viel Reservats-Land, gewollt von der anti-indianischen Politik, die auf die vollständige Assimilierung der First Nations setzte. Reservats-Bewohner wurden in die Städte ausgesiedelt, die besten Böden auf den Reservaten besetzen seitdem weiße Farmer, Bergbau-Gesellschaft plündern ungeniert die Rohstoffe der Reservate.

Die weiße Mehrheitsgesellschaft gemeindete die Indianer einfach ein. So wurden sie ab 1940 vom Census Bureau  zur allgemeinen amerikanischen Bevölkerung gezählt. Der Druck auf Stammesangehörige wuchs, sich von ihren Stämmen loszulösen. 

Indigene Skepsis

Die indigene Zustimmung zur verliehenen Staatsbürgerschaft war nicht von ungefähr divers, sehr geteilt. Aber auch in der Mehrheitsgesellschaft kristallisierte sich vier verschiedene Positionen heraus, kam Professor Deloria zum Schluß: 

Eine Position sprach sich aus praktischen Gründen für die Staatsbürgerschaft aus. Sie würde zu Wahlrecht, Zugang zu Gerichten und zu Gleichberechtigung führen. 

Die zweite Position glaubte, dass Angehörige indigener Völker Staatsbürger sein sollten, weil sie im Krieg gedient hatten.

Laut der dritten Position führt die Staatsbürgerschaft zur Assimilation in die Mehrheitsgesellschaft und zur Auflösung der indigenen Nationen. 

Viele indigene Völker, die vierte Position, wandten sich gegen die Staatsbürgerschaft und somit gegen den Indian Citizenship Act.

“Viele Ureinwohner sahen die Staatsbürgerschaft als den letzten Akt der Kolonialisierung an“, begründet David Silverman, Professor für Geschichte an der George Washington University die ablehnende Haltung mancher Indigener. Viele Wahlmöglichkeiten hatten die Angehörigen der indigenen Völker aber nicht, beschreibt Professor Silverman die Lage damals. Sie konnten nicht entscheiden, Angehörige ihrer Stämme bleiben zu können oder aber die US-Staatsbürgerschaft anzunehmen. “Tatsächlich hatten sie nur die Wahl zwischen der bitteren Armut auf den Reservaten, verursacht durch die Gesetzgebung und das Versagen der Bundespolitik oder der Assimilation in den weißen Mainstream.“

Staatsbürgerschaft, ein Instrument der Assimilierung?

In vielen Reservaten herrschte extreme Armut. Die Bewegungsfreiheit war eingeschränkt und streng überwacht worden. Die indianischen Familien hatten wenig Souveränität über sich selbst, ihre Kinder, ihr Land oder ihr Wasser. Mehr als zwei Drittel der Kinder im schulpflichtigen Alter wurden gewaltsam aus ihren Familien gerissen und in Internate gesteckt. Die Lehrinhalte dieser Internate: strikte Assimilierung, gewollte Vernachlässigung, tägliche – auch sexuelle – Gewalt und sogar Tod.

Indianisches Leben wurde vollständig von BIA-Agenten im Reservat kontrolliert, die Stammes-Angehörigen benötigten die Erlaubnis des Agenten, um das Reservat zu verlassen, um ihr eigenes Geld auszugeben. Deshalb war die verliehene Staatsbürgerschaft ein Schritt zur Wiederherstellung der individuellen Handlungsfähigkeit über das eigene Leben und auch Stammesautorität. Die Staatsbürgerschaft stärkte letztendlich auch die indigenen Gemeinden.

„Niemand hat je gefragt“

Vor einigen Jahren war Ronnie Jo Horse in Fort Peck im Nordosten von Montana bei einer Gemeindeversammlung. Sie informierte die Gemeinde über die Legislaturperiode des Bundesstaates. 

Sie fragte einige ältere Personen, ob sie für die Wahl registriert seien. Keine der Frauen hatte jemals an einer Wahl teilgenommen und keine war als Wählerin registriert. Horse fragte sie nach dem Warum: „Sie sagten: ‚Niemand hat mich jemals darum gebeten.'“

Horse hatte das Wählen schon immer ernst genommen. Als Teenager wurde sie Mitglied der Western Native Voice. Diese Organisation unterstützt das bürgerschaftliche Engagement, die Autonomie der sieben Stammes-Nationen in Montana sowie die Selbstorganisation in den großen indigenen städtischen Zentren.

Mit 18 Jahren begleitete Horse Stammesangehörige zu parlamentarischen Anhörungen, inzwischen leitet sie die Western Native Voice.

Jaynie Parrish, Diné, Gründerin und Geschäftsführerin von Arizona Native Vote, gab 2008 erstmals ihre Stimme ab, als sie kurz vor ihren 30ern war. Parrish erzählt, daß sie sich auch lange nicht für die Wahlen registrieren wollte. Das war nie ein Thema, weder in den Familien, den Gemeinden, an den Schule. Heute setzt sie sich dafür ein, dass die Wähler registriert und damit die Stimmen der Ureinwohner gehört werden.

Damit kann sie Leute stärken, glaubt Parrish. Wahlen sind für sie ein Weg, Veränderungen herbeizuführen. „Das bedeutet nicht, dass es der einzige Weg ist, aber es ist definitiv ein wichtiger Ort für uns, um eine Stimme zu haben”. Parrish verweist auf Peggy Flanagan, Vizepräsidentin von Minnesota. Parrish zitiert Flanagan, die sagte: “Dies ist unsere Zeit und wir kämpfen gegen Systeme, die nicht für uns geschaffen wurden. Aber wir gehen neue Wege und finden einen Weg, damit es funktioniert.“

Taylor Patterson, Paiute, hatte nie die Absicht, sich zu engagieren. Sie wurde aber aktiv, nachdem sie gesehen hatte, wie sich die Landes- und Bundespolitik auf die Menschen auswirkt.

Mit 19 Jahren wurde bei ihr eine chronische Krankheit diagnostiziert, die sie dazu zwang, zu lernen, für sich selbst einzustehen. Sie weiß jetzt, wie eine Medicaid-für-Police den Menschen für die Pflege hilft.

„Ich möchte nicht, dass eine weitere Generation entrechtet wird, weil sie keinen Platz für sich sieht,” führt Patterson aus. 

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