20-03-2022
Das Kulturerbe von Arzach unter Beschuss: Was tun?
Hamlet Petrosyan stellt die von ihm begründete Webseite www.monumentwatch.org vor. Sie dokumentiert die Gefährdung des armenischen Kulturguts in Berg-Karabach (Armenisch: Arzach) durch Aserbaidschan und die Methoden kultureller Aneignung durch Aserbaidschan.
Von Prof. Dr. Hamlet Petrosyan
Die Vereinnahmung des armenischen Kulturerbes bildet einen festen Bestandteil der aserbaidschanischen Staatspolitik. Diese umfasst sowohl die physische Zerstörung, als auch die Umgestaltung, Umbenennung und Verzerrung der historischen Wirklichkeit. Oberstes Ziel dieser Politik ist es, die territoriale Angliederung armenischer Siedlungsgebiete zu legitimieren und einen Mythos zu schaffen, demzufolge die Aserbaidschaner oder ihre verschiedenen angeblichen „Vorfahren“ schon seit Jahrhunderten in dieser Region leben. Die Verwirklichung dieses Ziels wurde bislang durch die Tatsache der jahrhundertelangen Existenz von Armeniern in der Region und die Existenz ihres Kulturerbes vereitelt, das mindestens auf das 6.vorchristliche Jahrhundert zurückgeht. Dennoch ist die aserbaidschanische Politik nicht von ihrem Ziel abgewichen und hat sowohl in Friedens-, als auch in Kriegszeiten verschiedene Mechanismen zur Zerstörung des armenischen Kulturguts eingesetzt.
Die staatliche Politik Aserbaidschans
Die offizielle Liste der Denkmäler auf dem Gebiet der Republik Arzach (Berg-Karabach) umfasst über 4.000 Denkmäler, von denen zehn Prozent vorchristlich und etwa 1,5 Prozent muslimisch sind und von denen etwa 20 Prozent aus dem 14. bis 16. Jahrhundert stammen. Die überwältigende Mehrheit sind folglicharmenisch-christliche Denkmäler des 4. bis 19. Jahrhunderts. Die Existenz eines umfangreichen armenisch-christlichen Erbes ist an sich schon der wichtigste Indikator für die historisch-rechtliche Zugehörigkeit des Gebiets Arzach.
Die Usurpation des armenischen Kulturerbes durch aserbaidschanische Behörden begann in den 1920er und 1930er Jahren (was durch die atheistische Ideologie der Sowjetunion erheblich begünstigt wurde). Zu einer organisierten und koordinierten Politik wurde sie jedoch erst in den späten 1950er Jahren, als Chruschtschows „Tauwetter“-Politik den Republiken der Sowjetunion erlaubte, das kulturelle Erbe der jeweiligen Republik ganz im Interesse ihrer jeweiligen nationalen Ziele zu interpretieren und zu vereinnahmen. Seit den 1960er Jahren wurde die „Eroberung“ des Arzacher Kulturerbes zum festen Bestandteil der Politik der aserbaidschanischen Regierung zur Verdrängung der Armenier. Die Enteignung des Arzacher Kulturerbes erfolgte durch einen nach außen hin recht komplexen, nach innen jedoch flexiblen Mechanismus. Auf der intellektuellen Ebene nahm sie einen pseudowissenschaftlichen Charakter an. Außerdem wurden zu diesem Zweck zwei Haupthebel eingesetzt:
- Da der Gegensatz zwischen der armenisch-christlichen und der „tatarisch“[1]-muslimischen Kultur mehr als offensichtlich ist, bestand einer der Hebel der Aneignung darin, die „Verwandtschaft“, den „gemeinsamen Ursprung“ und die „Ähnlichkeit“ dieser Kulturen unter dem Vorwand des Internationalismus und der angeblichen Gleichheit der Völker aufzuzeigen.
- Der zweite Hebel bestand in der Zuschreibung des armenischen Kulturerbes von Arzach an diekaukasischen Albaner (Aluank), als deren angebliche Erben sich die Aseris präsentieren. Die so vermittelte kulturellen Aneignung erlaubte es, eine scheinbare Neutralität und falsche Objektivität zu wahren.
Wie die letzten Jahrzehnte gezeigt haben, kann der gleichzeitige Einsatz dieser beiden Hebel unter günstigen Bedingungen der Aneignung des Kulturerbes einen rein akademischen, z.B. zivilrechtlichen Charakter verleihen, was natürlich ein großer Erfolg des „Eroberers“ ist.
Aber in allen Fällen war dieser Erfolg elitärer Natur, denn er beschränkte sich vor allem auf die Verwaltungsorgane und die wissenschaftliche Intelligenz․ Die breite aserbaidschanische Bevölkerung dagegen stand Fragen des Arzacher Kulturerbes teils gleichgültig gegenüber (was in der Sowjetzeit als Haltung gegenüber dem Kulturerbe im Allgemeinen definiert werden kann), teils feindselig (was als Haltung gegenüber einer spezifischen Gegenkultur – hier der armenischen – definiert werden kann)․ Die aserbaidschanische Politik selbst besaß eine geheime, nicht öffentliche Komponente, deren zerstörerische Aktivitäten nur in den1991-1994 befreiten Gebieten von Arzach nachgewiesen werden konnten.
Die Aneignung des armenischen Kulturerbes kann mithin als aserbaidschanische Staatspolitik definiert werden, die nicht nur die Zerstörung des Erbes selbst, sondern auch dessen Verfälschung, Veränderung und Entstellung umfasst. Sie wurde während und nach dem 44-Tage-Krieg im Jahr 2020 noch ausgeprägter und intensiver. In Anbetracht dieser Tatsachen sowie früherer Versuche, die kulturellen Rechte der Menschen in Arzach unter den Bedingungen der international nicht anerkannten Republik Arzach zu respektieren, haben wir beschlossen, eine Website zu erstellen, die das kulturelle Erbe von Arzach vorstellen und bewahren soll: „Arzach Monument Watch“/ www.monumentwatch.org
Die Website wurde am 15. Mai 2021 gestartet. Sie ist dreisprachig: Armenisch, Englisch und Russisch. Sie besteht aus vier Hauptabschnitten und zehn Unterabschnitten. Die Arbeitsgruppe der Website umfasst etwa 15 Spezialisten: Historiker, Archäologen, Anthropologen, Fotografen und Übersetzer. In der Rubrik „Stätten und Denkmäler“ werden etwa 100 Denkmäler vorgestellt. Die Beschreibung dieser Denkmäler stützt sich auf die Analyse wissenschaftlicher Fakten und Quellen. In der Rubrik „Fakten und Details“ werden einzigartige Elemente des Kulturerbes, Protokolle, bemerkenswerte Tatsachen usw. vorgestellt. Die Anzahl der letzteren auf der Website erreicht 30.
Im Abschnitt „Alerts“ (Warnmeldungen) werden die Fälle von Zerstörung des Arzacher Kulturerbes und der aserbaidschanische Zerstörungswahn während und nach dem 44-tägigen Krieg in Arzach dokumentiert. Leider gibt es immer wieder weitere Fälle von Entstellung, Schändung und Zerstörung des Kulturerbes. Eine der Hauptaufgaben unserer Initiative besteht darin, die Fälle von Zerstörung des Kulturerbes zu dokumentierenund darauf zu reagieren, indem alle internationalen Konventionen und Vorschriften genannt werden, die von der Republik Aserbaidschan verletzt werden. 50 solcher Fälle sind bereits auf der Website zu finden (siehe Abb. 1, 2, 3).
Schlussfolgerung
Die Aneignung des Kulturerbes von Arzach ist eine aserbaidschanischen Behörden entwickelte Politik, die unter Einsatz erheblicher professioneller und finanzieller Ressourcen international betrieben wird. Die Politik, die wir zur Abwehr dieser Vorgehensweise streben, muss von den beiden armenischen Staaten – der Republik Armenien sowie der Republik Arzach – in gegenseitigem Einvernehmen und mit seriösen Mitteln betrieben werden. Es ist absehbar, dass sich die Situation in diesem Bereich in naher Zukunft nicht wesentlich ändern wird. Die Schaffung einer unabhängigen akademischen Plattform ist ein erfolgreiches und effektives Projekt zur Erhaltung und zum Schutz des Kulturerbes von Arzach, das es ermöglicht, die Dringlichkeit und die aktuellen Herausforderungen der Erhaltung des Arzach-Erbes im Rahmen der wissenschaftlichen Ethik darzustellen.
[1] „Tataren“ war ein bis in die Sowjetzeit verwendeter russischer Sammelbegriff für turksprachige Muslime.
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