19-12-2024
Dänemarks Selbstbild als gute Kolonialmacht in Grönland bröckelt
Bislang ist es Dänemark gelungen, frühere Übergriffe auf die Inuit-Bevölkerung als Fehlentwicklungen von an sich gut gemeinten Initiativen darzustellen. Doch neue Informationen bringen diese Darstellung ins Wanken - und die Kluft zwischen Dänemark und Grönland wächst rasant. Eine Einschätzung von Walter Turnowsky.
Af Kim Hansen - Eget arbejde, CC BY-SA 4.0,
Demonstrationen in den grönländischen Städten Nuuk, Ilulissat, Aaasiaat, Ittoqqortoormiit, Tasiilaq, Nanortalik und Narsaq, aber auch in Kopenhagen, Aarhus, Reykjavik, in der kanadischen Provinz Nunavut und im norwegischen Samenland.
Hintergrund der Proteste ist, dass die dänischen Behörden grönländische Kinder fünfmal häufiger von ihren Eltern trennen als dänische Kinder. Die Protestierenden sehen darin einen Ausdruck kultureller Diskriminierung und nicht nur sie, sondern auch der grönländische Regierungschef Múte B. Egede.
Der aktuelle Konflikt erschüttert Dänemarks Selbstverständnis als Staat, der es nur gut mit den Grönländern meint. Denn er ist die Fortsetzung einer ganzen Reihe historischer Übergriffe, die erst in den letzten Jahren ans Licht gekommen sind.
Der aktuelle Fall ist besonders virulent, weil er fast nahtlos an einen dieser (aus heutiger Sicht fast unbegreiflichen) Übergriffe anknüpft: das sogenannte Kinderexperiment vor über 70 Jahren. 22 Kinder in Grönland wurden von der Kolonialverwaltung ihren Eltern weggenommen und nach Dänemark gebracht. Die Eltern hatten keine Ahnung, warum das geschah – und die Kinder erfuhren es erst Jahrzehnte später.
Ich habe mit einigen dieser Kinder gesprochen. Eine von ihnen, Helene Thiesen, erzählte mir, dass sie weinte, als sie mit sieben Jahren auf das „große schwarze Schiff“ nach Dänemark gebracht wurde – und dass sie in den folgenden anderthalb Jahren eigentlich ständig weinte.
Ihre Muttersprache wurde ihr genommen, sie hat sie bis heute nicht wieder erlernt. Als sie nach Godthåb (dem heutigen Nuuk) zurückkehrte, durfte sie nicht zu ihrer Mutter zurück, sondern wurde mit vielen anderen Kindern in ein Heim gesteckt.
Erst in den 1990er Jahren fanden die dänische Sozialberaterin Tine Bryld und Helen Thiesen heraus, warum ihr und den 21 anderen Kindern dies widerfahren war. Dänemark war wegen der Armut in Grönland in die Kritik geraten. Nun wollte der dänische Staat ein modernes Grönland aufbauen.
Die 22 Kinder sollten die Elite bilden, die diesen Aufbau vorantreiben sollte. Das konnte nach damaliger Auffassung nur geschehen, wenn sie ihre grönländische Kultur ablegten und zu kleinen Dänen und Däninnen wurden. Das war das Experiment, und so wird es auch in den damaligen Akten genannt.
Die sehr kritische Bryld nannte ihr Buch über das Experiment „Mit den besten Absichten“ (I den bedste Mening). Damit hatte sie aber nicht recht, wie wir weiter unten sehen werden.
Die Folgen des Experiments waren, dass die 22 Kinder „Einsamkeit, Entfremdung, Entwurzelung und eine zerrissene Identität“ erlebten. Keines von ihnen wurde Teil einer Elite.
Im Dezember 2020 entschuldigte sich Ministerpräsidentin Mette Frederiksen im Namen des dänischen Staates bei den Kindern des Experiments. Nur sechs der 22 waren noch am Leben, um die Entschuldigung entgegenzunehmen.
Doch zurück zu den vermeintlich guten Absichten Dänemarks. Denn zu den Motiven für das Kinderexperiment gehörte auch die Angst der damaligen Regierung, Grönland zu verlieren. Wegen der Armut und der geringen Lebenserwartung der Bevölkerung übte die UNO Druck auf Dänemark aus, wenn es das strategisch wichtige Grönland behalten wollte.
Es war auch die Zeit der Dekolonisation, und obwohl Dänemark als Kolonialmacht in der internationalen Diskussion kaum eine Rolle spielte, wurde immer deutlicher, dass das Königreich etwas unternehmen musste.
Schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte Norwegen, Ansprüche auf Grönland geltend zu machen. Im Hintergrund lauerten auch die USA, die bereits 1946 versuchten, Grönland Dänemark abzukaufen.
Der dänische Staat reagierte mit zwei Initiativen. Zum einen startete er ein Programm, das Grönland im Zeitraffer von einer traditionellen Jägergemeinschaft in eine moderne Gesellschaft nach dänischem Vorbild verwandeln sollte. Das Kinderexperiment war nur eines von vielen Elementen des Programms, das in schönster Bürokratensprache G50 getauft und später durch das G60-Programm abgelöst wurde.
Die zweite Initiative war das Angebot Dänemarks an Grönland, eine (angeblich gleichberechtigte) Region Dänemarks zu werden. Was bei diesem Angebot an das grönländische Parlament „vergessen“ wurde, war die Tatsache, dass die Kolonie das Recht auf Autonomie hatte. Und vor allem wurde nicht erwähnt, dass die Kolonialmächte laut UNO weiterhin finanzielle Verpflichtungen gegenüber ihren ehemaligen Kolonien haben.
Die Journalistin Anne Kirstine Herrmann hat in ihrem Buch „Imperiets Børn“ (Die Kinder des Imperiums) aufgedeckt, dass auf dänischer Seite keineswegs von Vergesslichkeit oder Unwissenheit die Rede sein kann. Im Gegenteil, die damalige dänische Regierung unternahm große Anstrengungen, diese Informationen vor der grönländischen Seite zu verbergen.
Und so stimmte das grönländische Parlament zu und Grönland wurde mit der Grundgesetzänderung von 1953 ein Amt (vergleichbar mit einem Landkreis) Dänemarks.
Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass mit dem Ende des Kolonialstatus die Kolonisierung Grönlands erst richtig begann. Zuvor hatte die Kolonialverwaltung den Grönländern weitgehend ihre Kultur und Lebensweise gelassen (bis auf die nicht unbedeutende Christianisierung). Nun aber sollten aus den Inuit schwarzhaarige Dänen und Däninnen werden.
Um diese Modernisierung zu ermöglichen, sollten die Frauen nicht ungewollt, zu früh oder nur ohne Partner Kinder bekommen. Und da die Behörden den „Ureinwohnern“ die Verhütung offenbar nicht zutrauten, nahmen sie diese Aufgabe kurzerhand selbst in die Hand und verpassten jungen Mädchen die Spirale – ungefragt und ohne Einwilligung.
Doch bis vor zwei Jahren war das in der Öffentlichkeit nicht bekannt. Die Frau, die das geändert hat, ist die Psychologin Naja Lyberth. Mit ihr habe ich mehrfach gesprochen, wenn ich über Themen wie sexuellen Missbrauch von Kindern berichtete. In ihrer ruhigen Art strahlte sie immer eine enorme Kraft aus, wenn sie erklärte, welche Folgen diese Übergriffe für die Opfer haben.
Diese Kraft brauchte Lyberth auch, als sie der grönländischen Zeitung AG von dem Missbrauch erzählte, den sie selbst erlebt hatte. Als sie 14 Jahre alt war, wurde sie wie ihre Mitschülerinnen ins Krankenhaus bestellt. Der Arzt teilte ihr mit, dass sie eine Spirale zur Schwangerschaftsverhütung bekommen solle – es gab keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren.
Da das Mädchen noch nie Geschlechtsverkehr gehabt hatte und die Spirale für erwachsene Frauen bestimmt war, war das Einsetzen sehr schmerzhaft. „Es fühlte sich an, als würde ich mit einem Messer gestochen“, berichtete sie KNR.
Als sie das erste Mal von dem Übergriff berichtete, wusste sie noch nicht, dass sie und ihre Mitschülerinnen nicht die einzigen waren, denen die Gesundheitsbehörden ohne Einwilligung eine Spirale eingesetzt hatten. Mindestens 4.500 Mädchen und Frauen wurden zwischen 1966 und 1975 von den Behörden diesem Eingriff unterzogen – weder sie selbst noch ihre Eltern wurden gefragt. Um das Ausmaß zu verstehen, muss man wissen, dass Grönland 56.000 Einwohner hat.
Die dänische Regierung hat sich bis heute nicht entschuldigt. Sie will erst eine Untersuchung abwarten.
Bislang konnte Regierungschefin Mette Frederiksen darauf verweisen, dass es sich um historische Ereignisse handele und ihre Regierung keine direkte Verantwortung trage. Anders verhält es sich mit der eingangs erwähnten Zwangsverschleppung grönländischer Kinder.
Das erleben in Dänemark ansässige Familien im Hier und Jetzt. Um zu entscheiden, ob ein Kind in Obhut genommen werden muss, verwenden die Behörden – neben anderen Kriterien – Tests, die die Eignung der Eltern überprüfen sollen. Diese Tests sind jedoch auf dänische Verhältnisse zugeschnitten und berücksichtigen nicht die grönländische Kultur. Sie sind für Eltern mit grönländischem Hintergrund ungeeignet, wie unter anderem das Dänische Institut für Menschenrechte festgestellt hat.
In einem aktuellen Fall haben die örtlichen Behörden der Grönländerin Keira Alexander ihr Kind nach der Geburt weggenommen. Aus den Akten geht hervor, dass ihre Herkunft dabei eine Rolle spielte.
„Keira nutzt ihren grönländischen Hintergrund, wo unbedeutende Gesichtsausdrücke eine kommunikative Bedeutung haben“, heißt es dort. Da das Kind jedoch in Dänemark aufwachsen soll, ist die Gemeinde der Ansicht, dass es für die Mutter schwierig wäre, „das Kind auf die sozialen Erwartungen und Signale vorzubereiten“, die für ein Leben in Dänemark erforderlich sind.
Sicherlich gibt es in diesem Fall Aspekte, die der Öffentlichkeit nicht bekannt sind. Aber allein die Tatsache, dass ihre Kultur überhaupt in die Bewertung einbezogen wird, hat bei den Grönländern und Grönländerinnen in Dänemark und in der Heimat Entsetzen und Wut ausgelöst.
Für sie führt ein roter Faden von Helene Thiesen zum Schicksal von Keira Alexander. Die Botschaft klingt heute wie vor 70 Jahren: Grönländisch ist minderwertig, um zurechtzukommen, muss man Däne werden.
Das ist auch der Grund, warum die Frage der Elterntests zum Politikum und zum Konflikt zwischen Grönland und Dänemark geworden ist. Zwei Tage nach den Demonstrationen reiste der Vorsitzende des Naalakkersuisut, wie der grönländische Regierungschef genannt wird, persönlich nach Kopenhagen, um sich mit der dänischen Sozialministerin Sophie Hæstorp Andersen zu treffen.
Nach dem Treffen war Múte B. Egede alles andere als zufrieden. Er wollte Hæstorp Andersens Aussage, sie habe keine gesetzliche Grundlage, um die Tests an grönländischen Kindern zu verbieten, nicht akzeptieren. Im Nachrichtenmagazin „Deadline“ forderte er einen sofortigen Stopp der Tests und eine Neubewertung der bisherigen Entscheidungen. Darüber wolle er mit der dänischen Regierungschefin Mette Frederiksen sprechen.
In dem Nachrichtenmagazin wurde er auch zum Spiral-Skandal befragt. Er forderte eine sofortige Entschuldigung und sprach mit Blick auf die nicht geborenen grönländischen Kinder von „Völkermord“. Die Reaktionen auf diese Äußerung waren unterschiedlich: in Dänemark weitgehend Unverständnis und Empörung, in Grönland Zustimmung quer durch die politische Landschaft.
Ich kenne Egede fast seit Beginn seiner politischen Karriere, und er hat auf mich immer den Eindruck eines besonnenen Mannes gemacht. Doch seit er 2021 Regierungschef wurde, hat sich seine Rhetorik gegenüber Dänemark kontinuierlich verschärft.
Das ist nur eines von vielen deutlichen Anzeichen dafür, dass Dänemark und Grönland immer weiter auseinanderdriften. Seit einigen Jahren ist meiner Meinung nach klar, dass Grönland eines Tages einen eigenen Staat gründen wird. Nur in Dänemark ist diese Nachricht noch nicht angekommen.
Als Donald Trump 2019 Grönland kaufen wollte, wurde das Angebot sowohl in Grönland als auch in Dänemark mit Kopfschütteln abgelehnt. Gleichzeitig war es aber auch ein Weckruf für Dänemark und eine Selbstvergewisserung für Grönland.
Und was, wenn der US-Präsident diesmal der arktischen Nation ein Assoziierungsabkommen anbietet – inklusive Subventionszahlungen in gleicher Höhe wie Dänemark? Das ist kein Hirngespinst, sondern laut Medienberichten arbeiten Personen aus Trumps Umfeld an genau einem solchen Modell.
Für einige Menschen in Grönland klingt ein solches Angebot attraktiv, für die meisten eher nicht. Zumindest aber würde es das Verhandlungsgleichgewicht zwischen Grönland und Dänemark entscheidend verschieben.
Nach dem Autonomievertrag von 2009 entscheidet allein das grönländische Volk, wann es sich vom dänischen Königreich lossagt. Doch trotz massiver wirtschaftlicher Hürden könnte dieser Tag näher sein, als viele glauben.
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