12-03-2022
Cui bono: Aserbaidschans Vertreibungsversuche im Schatten des Ukraine-Krieges
Tessa Hofmann berichtet über die Entwicklung in Berg-Karabach (armenisch: Arzach) und die aktuelle Resolution des Europäischen Parlaments zum Schutz armenischer Kulturgüter.
Von Tessa Hofmann
Willkürliche Grenzziehungen und Administrativeinteilungen in der frühsowjetischen Periode haben während und vor allem nach dem Ende der Sowjetherrschaft zu großen Konflikten, kriegerischen Auseinandersetzungen und seit dem 24. Februar 2022 auch zu einem Angriffs- und „Bruderkrieg“ zwischen Russen und Ukrainern geführt. Denn als die einstigen Binnengrenzen der UdSSR zu Staats- und Außengrenzen wurden, wuchs bei Südosseten in Georgien der Wunsch nach Vereinigung mit dem größeren Nordossetien (in der Russländischen Föderation). Die im Grenzgebiet zwischen Russland und Georgien lebenden Abchasen forderten die Loslösung von Georgien, dem sie zu Beginn der Sowjetisierung dieser Region gegen ihren Willen administrativ zugeschlagen wurden. Und die Abtrennung Berg-Karabachs (armenisch: Arzach) von Armenien zugunsten Aserbaidschans 1921 führte schon zu Sowjetzeiten zu Irredentismus, Separationsbewegungen und 1991-1994 sowie 2020 zu zwei verlustreichen Kriegen. Die in westlichen Medien mantraatrig beschworene völkerrechtliche Unverletzbarkeit von Grenzen lässt sich eben nicht mit dem völkerrechtlich höheren Grundsatz der nationalen Selbstbestimmung vereinbaren. Und das gestern vorenthaltene Selbstbestimmungsrecht wächst sich zum bewaffneten Konflikt aus. Wobei bisweilen die Unterdrücker von gestern als vermeintliche Beschützer von heute auftreten.
Im Herbstkrieg von 2020 verlor das von Aserbaidschan völkerrechtswidrig angegriffene Arzach/Karabach etwa ein Drittel seines Territoriums einschließlich der historischen Haupt- und Festungsstadt Schuschi an Aserbaidschan. Nach einem trilateralen Waffenstillstandsabkommen, das der Regierungschef der Republik Armenien anstelle des Präsidenten der international nicht einmal von Armenien anerkannten Minirepublik Arzach unterzeichnete, übernahm Russland den Schutz der noch verbliebenen armenischen Gebiete Berg-Karabachs.
Wie schon 2020, nutzt Präsident Alijew (Əliyev) jetzt erneut die Ablenkung internationaler Gremien und der Weltöffentlichkeit, um sein erklärtes Ziel zu erreichen: die vollständige Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus Arzach. Im Herbst 2020 war es vor allem die Pandemie, die zu einer Ablenkung der Öffentlichkeit führte, gegenwärtig ist es Putins Angriff auf die Ukraine. Im Schatten dieses Krieges versucht Alijew, durch Einschüchterung, Angriffe und Sabotage die Armenier in Arzach in die Flucht zu treiben.
Wie Medien und Menschenrechtsorganisationen aus Armenien mitteilen, wurde in den frühen Morgenstunden des 8. März 2022 die Hauptgasleitung, die Arzachs Hauptstadt Stepanakert sowie die umliegenden Dörfer versorgt, in der Gegend der aserbaidschanisch kontrollierten Stadt Schuschi offenbar gezielt beschädigt; Reparaturarbeiten erfolgten bislang nicht. Ein Großteil der Arzacher Bevölkerung, etwa 100.000 Menschen, sind seither ohne Gasversorgung, ihrer wichtigsten Heizquelle. Da die meisten Bäckereien in Stepanakert ebenfalls mit Gas betrieben werden, kam es dort seit dem 8. März zu Brotknappheit.
Seit Beginn des Ukrainekrieges, der offenbar Russland von seinen Verpflichtungen als Schutzmacht im Südkaukasus ablenkt, beschoss Aserbaidschan grenznahe Ortschaften im verbliebenen Arzach. Vor allem das Dorf Chramort in der Region Askeran fiel vorübergehend aserbaidschanischem Granatenbeschuss zum Opfer. Mit Lautsprechern wurde die Einwohner in perfektem Armenisch tagelang aufgefordert, ihren Wohnort zu verlassen.
Seit Oktober 2021 erfolgten immer wieder Morde an einzelnen Armeniern, oft Bauern, durch aserbaidschanische Scharfschützen, teilweise in Gegenwart russländischer Friedenssoldaten. Diese Tötungen gelten offenkundig der Einschüchterung der armenischen Bevölkerung, der drastisch vor Augen geführt werden soll, dass Russland sie nicht wirklich beschützen kann oder will.
Seit dem Waffenstillstand vom 9. November 2020 befinden sich 1456 vornehmlich armenische Kulturdenkmäler unter aserbaidschanischer Kontrolle. Das Europäische Parlament stellte am 10. März in einer ausführlichen Resolution fest, „dass Aserbaidschan dem armenischen Kulturerbe während des Krieges 2020 vorsätzlich erhebliche Schäden zugefügt hat, insbesondere während des Beschusses der Kirche in Qazançı/Schahkert, der Ghasantschezoz-Kathedrale (Kathedrale Christi des Heiligen Retters) in Şuşa/Schuschi, sowie die Zerstörung, Änderung der Funktion oder Beschädigung anderer Kirchen und Friedhöfe während und nach dem Konflikt, wie der Kirche der Heiligen Mutter Gottes Sorawor in der Nähe der Stadt Cəbrayıl/Mechakawan und der Sankt-Eliseus-Kirche im Dorf Suqovuşan/Mataghis in Bergkarabach.“Präsident Alijew habe bei seinem Besuch der aus dem 12. Jahrhundert stammenden armenischen Kirche in Hünərli/Zakuri feierlich angekündigt hat, die armenischen Inschriften von dort zu entfernen.
In den vergangenen 30 Jahren, so das Europäische Parlament, habe Aserbaidschan religiöses und kulturelles Erbe der Armenier unumkehrbar zerstört, vor allem in der Autonomen Republik Nachitschewan, wo 89 armenische Kirchen, 20 000 Gräber und mehr als 5 000 Grabsteine von aserbaidschanischem Militär zerstört wurden.
Diese Tilgung sämtlicher kultureller Spuren armenischer Existenz hat Methode, denn aserbaidschanische Ideologen versuchen seit der Sowjetzeit den Nachweis zu führen, dass Nachitschewan und Arzach nie armenisch waren.
Die Beseitigung der Spuren des armenischen Kulturerbes in der Region Bergkarabach erfolge „nicht nur durch dessen Beschädigung und Zerstörung (…), sondern auch durch Geschichtsfälschung und den Versuch, es als sogenanntes kaukasisch-albanisches Kulturerbe darzustellen“, so das Europäische Parlament.
Der aserbaidschanische Kulturminister Anar Kərimov kündigte entsprechend am 3. Februar 2022 die Einsetzung einer Arbeitsgruppe an, deren Aufgabe darin bestehen soll, die angeblich fiktiven armenischen Inschriften aus „albanischen religiösen Tempeln zu entfernen“. Angesichts dieser Entwicklung verurteilt das Europäische Parlament „aufs Schärfste, dass Aserbaidschan seine Politik fortsetzt, das armenische Kulturerbe in und um Bergkarabach herum auszulöschen und dessen Existenz zu leugnen, was eine Verletzung des Völkerrechts und einen Verstoß gegen die jüngste Entscheidung des IGH darstellt.“
Des Weiteren stellt das Europäische Parlament „fest, dass die Auslöschung des armenischen Kulturerbes Teil eines breiter angelegten Musters einer systematischen, landesweit betriebenen und von den Staatsorganen Aserbaidschans geförderten Politik der Armenierfeindlichkeit, des Geschichtsrevisionismus und des Hasses gegenüber Armeniern ist, die Entmenschlichung, Gewaltverherrlichung und Gebietsansprüche gegen die Republik Armenien einschließt, wodurch Frieden und Sicherheit im Südkaukasus bedroht sind.“
Werden aber diese Mahnung aus Brüssel sowie die Erkundungen der UNESCO in der Konfliktregion wirklich ausreichen? Viele ArmenierInnen bezweifeln das stark und berufen sich auf die negativen historischen Erfahrungen Armeniens mit seinen Nachbarn.
Fest steht bereits jetzt, dass Putins Krieg in der Ukraine die ohnehin schon unsichere Lage der Armenier in Arzach und der Republik Armenien noch gesteigert hat.
Zum Weiterlesen:
Resolution des Europäischen Parlaments zum Schutz armenischer Kulturgüter in Arzach/Berg-Karabach: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0080_DE.pdf
Webseite „Monument Watch“: https://monumentwatch.org/sites-and-monuments/
Tigran Grigoryan: The new escalation in Nagorno-Karabakh is part of Azerbaijan’s long-term strategy, “Civil.net”, 11 March 2021, https://www.civilnet.am/en/news/653296/the-new-escalation-in-nagorno-karabakh-is-part-of-azerbaijans-long-term-strategy/
SHARE