07-10-2021
Bundestagswahl 2021: Aufnahme der Minderheiten ins Grundgesetz
Jan Diedrichsen
Nach der Bundestagswahl vom 27. September 2021 laufen derzeit die Sondierungsgespräche zwischen SPD, CDU/CSU, Bündnis 90 / Die Grünen und FDP. Mit dem bald zu erwartenden Beginn der Koalitionsverhandlungen wird es konkret: Die Parteien müssen sich auf zentrale Politiken der nächsten Jahre einigen. Bei den divergierenden Positionen der Parteien kommt dem zu verhandelnden Koalitionsvertrag große Bedeutung zu. 2017 umfasste der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD 175 Seiten.
Durch gezielte Einflussnahme bietet sich nun ein „Window Of Opportunity“, um auf die Verhandlungsteams Einfluss zu nehmen und für den Minderheitenschutz, den Schutz der bedrohten Völker weltweit und den Menschenrechten im Allgemeinen wichtige Positionen einzubringen, an denen sich die nächste Regierung wird messen lassen müssen.
In den nächsten Tagen wird VOICES einige Schwerpunkte anführen, die in einen Koalitionsvertrag gehören:
Bundestagswahl 2021: Anerkennung des Genozids an den Yeziden
Aufnahme der Minderheiten ins Grundgesetz
Wer schon einige Bundestagswahlen beobachtet hat, den beschleicht ein leichtes Déjà-vu-Gefühl: Die autochthonen Minderheiten in Deutschland – die dänische Minderheit, die friesische Volksgruppe, die Lausitzer Sorben, die deutschen Sinti und Roma – wollen ins Grundgesetz und im Wahlkampf fand sich niemand, der etwas dagegen geäußert hätte. Alle finden das angebracht und höchste Zeit. Zumindest regt sich öffentlich kein Widerspruch gegen solche Pläne – gehört die Minderheitenpolitik doch quasi zur Staatsräson Deutschlands. Und den Minderheitenwähler will im Wahlkampf niemand vergrätzen, seine Stimme kann in den Minderheitenregionen bekanntlich über die Direktmandate entscheiden.
Aber trotz jahrzehntelanger Bemühungen und glaubwürdiger Unterstützung aus verschiedensten politischen Ecken, ist das Vorhaben „Minderheiten ins Grundgesetz“ immer wieder nach den Wahlen auf die lange politische Bank geschoben worden und letztendlich gescheitet.
Heinrich Schultz, langjähriger Vorsitzender der dänischen Minderheit, kann aus der Nachwendezeit, den 90iger Jahren, berichten: „Damals gab es starke Bestrebungen in allen Fraktionen, die Dänen, Friesen und Sorben ins Grundgesetz aufzunehmen. Doch die deutschen Sinti und Roma wollten man nicht dabeihaben. Da haben wir dann natürlich nicht mit gemacht – Minderheiten dürfen sich nie kaufen oder gegeneinander ausspielen lassen, dann haben sie verloren“, erklärt Heinrich Schultz (Ein Podcast mit dem langjährigen SSF-Vorsitzenden, FUEN-Vorstand und GfbV-Vorstand).
Zahlreiche Staaten Europas haben in ihren Verfassungen einen Hinweis auf ihre Minderheiten und Nationalitäten aufgenommen. Dies gilt auch für die Bundesländer Sachsen, Brandenburg und Schleswig-Holstein. Schleswig-Holstein hat seit 1990 die Minderheiten in der Landesverfassung und ergänzte diese am 14. November 2012: Als erstes Bundesland wurden die deutschen Sinti und Roma als Minderheit in eine Landesverfassung aufgenommen. Hier lautet es nun:
Artikel 6 – Nationale Minderheiten und Volksgruppen
(1) Das Bekenntnis zu einer nationalen Minderheit ist frei; es entbindet nicht von den allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten.
(2) Die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen stehen unter dem Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände. Die nationale dänische Minderheit, die Minderheit der deutschen Sinti und Roma und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung.
Bislang fehlt ein vergleichbarer Passus im Grundgesetz: Sachsen und Schleswig-Holstein wollten 2019 mit einem gemeinsamen Antrag, eingereicht im Bundesrat, daran etwas ändern. Auf einen entsprechenden Entschließungsantrag für den Bundesrat hatten sich Sachsens Regierungschef Michael Kretschmer und Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (beide CDU) geeingt. Bei den Kolleg:innen im Bundesrat fand dieser Vorschlag aber keinen Anklang und wurde bereits im Ausschussverfahren ad acta gelegt.
Die Forderung für die Koalitionsverhandlungen: „Die Koalitionsfraktionen einigen sich darauf, in der kommenden Legislaturperiode die Minderheiten des Landes ins Grundgesetz aufzunehmen.
Minderheiten in Deutschland
In Deutschland leben vier anerkannte autochthone (aus dem Altgriechischen „alteingesessen“), nationale Minderheiten/Volksgruppen:
- – die Dänen in Südschleswig,
- – die Friesen,
- – die deutschen Sinti und Roma,
- – und die Lausitzer Sorben.
Auf Grundlage der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen werden in Deutschland die Sprachen der vier nationalen Minderheiten (Dänisch, Nord- und Saterfriesisch, Ober- und Niedersorbisch sowie das Romanes der Sinti und Roma) geschützt. Auch die Regionalsprache Niederdeutsch (Plattdeutsch) ist durch die Charta geschützt. Die Sprecher des Plattdeutschen gehören keiner nationalen Minderheit an: Niederdeutsch wird jedoch als Regionalsprache anerkannt.
Das Bekenntnis zur Minderheit/Volksgruppe ist in Deutschland frei. Zahlenangaben beruhen nur auf Schätzungen. Dies liegt zum einen an der Verfolgung von Minderheiten während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und zum anderen aufgrund völkerrechtlicher Bedenken. Das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (Europarat) legt fest, dass die Zugehörigkeit zu einer Minderheit die persönliche Entscheidung eines jeden Einzelnen ist, die von Staats wegen nicht registriert, überprüft oder bestritten wird.
Selbstverständnis Minderheiten
Was versteht man unter einer autochthonen, nationalen Minderheit/Volksgruppe?
Zu den autochthonen, nationalen Minderheiten/Volksgruppen zählen die durch die Auswirkungen der europäischen Geschichte, durch Grenzziehungen und andere historische Ereignisse entstandenen nationalen Minderheiten/Volksgruppen sowie die Völker Europas, die nie einen eigenen Staat gegründet haben und auf dem Territorium eines Staates als Minderheit leben.
Die Charta der autochthonen, nationalen Minderheiten/Volksgruppen in Europa der FUEN(Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen), der Dachorganisation der Minderheiten in Europa, gibt folgende Definition vor:
Unter einer autochthonen, nationalen Minderheit/Volksgruppe ist eine Gemeinschaft zu verstehen,
- – die im Gebiet eines Staates geschlossen oder in Streulage siedelt,
- – die zahlenmäßiger kleiner ist als die übrige Bevölkerung des Staates,
- – deren Angehörige Bürger dieses Staates sind,
- – deren Angehörige über Generationen und beständig in dem betreffenden Gebiet ansässig sind,
- – die durch ethnische, sprachliche oder kulturelle Merkmale von den übrigen Staatsbürgern unterschieden werden kann und gewillt ist, diese Eigenarten zu bewahren.
Eine Ausnahme bilden die Sinti und Roma, die aus historischen Gründen nicht in einem festen Siedlungsgebiet leben. Die deutschen Sinti und Roma sind in Deutschland als Minderheit anerkannt, obwohl sie nahezu in ganz Deutschland verstreut leben.
Autochthone, nationale Minderheiten/Volksgruppen werden von Zuwanderern (auch allochthone/neue Minderheiten genannt), die nicht traditionell in Deutschland leben, unterschieden.
Quelle: Minderheitensekretariat.de
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