21-05-2024
“Befreiung” auf russisch
Das Besatzungsregime “säubert” die Ostukraine zwischen der Krym und Charkiv
Von Jan Diedrichsen
Im Visier der russischen Truppen ist derzeit Charkiv, einst Hauptstadt der frühen ukrainischen Sowjet-Republik und kulturelles Zentrum der russischsprechenden Ukrainer:innen. Eine verletzte Stadt, der Titel einer detaillreichen Recherche von Copernico über Charkiv, das sich gegen die russische Invasion und gegen die befürchtete Russifizierung wehrt, wie es der russischsprechende Autor Sergej Gerassimow in seinem ukrainischen Kriegstagebuch “Feuerparonama” beeindruckend beschreibt.
Die Bürger:innen von Charkiv wissen, was sie nach einem russischen Sieg “erwartet”. Sie haben Mariupol vor Augen. Drei Monate lang attackierten die russischen Aggressoren die Hafenstadt. Tausende Menschen starben gleich zu Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar 2022. Gezielt verwüsteten die Invasionstruppen Mariupol, die Besatzer versuchen die ukrainische Kultur mit einem breit angelegten radikalen Russifizierungsprogramm auszulöschen.
Mariupol gibt es nicht mehr
Der ukrainische Regisseur Mstyslav Chernov widmete Mariupol den Dokumentarfilm “20 Tage in Mariupol”. Dafür wurde Chernov bei den Academy Awards mit dem begehrten Filmpreis ausgezeichnet. Chernov appellierte an die “internationale” Gemeinschaft, die Ukraine nicht zu einem politischen Spielball zu machen.
Die Filmchronik beschreibt die sterbenden Stadt, die Apokalypse der Belagerung, Einkesselung und Übernahme Mariupols durch die russischen Angreifer. Mstyslav Chernov: ”Es sagte mal jemand zu mir, Kriege beginnen nicht mit Explosionen – sie beginnen mit Stille.“ Damit beginnt der Film und endet im Lärm der Raketeneinschläge. Seit ihrer Eroberung gibt es die ukrainische Stadt Mariupol nicht mehr.
Odesa im Visier
Wie Charkiv wird auch die andere Großstadt, Odesa in der südöstlichen Ukraine, ständig attackiert, mit Drohnen und Raketen terrorisiert. Wie Charkiv auch ist Odesa eine stark russisch geprägte Stadt. Auch deshalb gilt Odesa für den russischen Kriegspräsidenten als wichtiges Kriegsziel. Odesa war einst Zentrum des angeblichen Neurusslands, vor mehr als 100 Jahren. Die gesamte östliche Ukraine spielt in der ideologischen Welt Putins eine zentrale Rolle in der Wiedergeburt eines Russlands in den Grenzen der implodierten Sowjetunion. Dagegen wehrt sich Odesa, gegen das Schicksal von Mariupol.
Seit der russischen Annexion der Krym 2014 ist Odesa wieder ins europäische Bewusstsein gerückt. Vor mehr als 200 Jahren entstand Odesa, fernab der russischen Metropolen. Die Stadtgründung ähnelt Städtegründungen in den damals entstehenden USA. Menschen unterschiedlicher Sprachen und Herkunft zogen in diese Hafenstadt, prägten über lange Jahre Leben und Kultur. Besonders jene der jüdischen Bevölkerung. Die Ursprünge der Stadt reichen zurück in die Hunnen-Zeit. Die Odesa-Bucht war aber schon für die griechischen Kolonialisten interessant, hieß irgendwann tatarisch Khadjibey/Chadschibey, dann türkisch Yeni Dünya, russisch Odessa, heute ukrainisch Odesa.
Der US-amerikanische Historiker Charles King widmete mit seinem 2011 erschienen Buch “Odessa, Leben und Tod in einer Stadt der Träume” der Schwarzmeer-Metropole ein literarisches Denkmal. Die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” würdigte das tiefe Eintauchen Kings in die Geschichte Odesas.
Eine Stadt, die ständigen Bedrohungen ausgesetzt war, eine “kosmopolitische Gemeinschaft aus Italienern, Griechen, Russen, Ukrainern, Juden und anderen Ethnien wurde nicht nur durch äußere Gefahren wie die tödliche Pestepidemie 1812 und 1813 oder eine Heuschreckenplage ein Jahrzehnt später bedroht, sondern auch durch fortwährende innere Spannungen”, beschreibt die FAZ die spannende Geschichte. “Der Schmelztiegel Odessa, eine Stadt mit einer ´Grenzidentität´, wie King schreibt, erwies sich nicht nur als offen für revolutionäre Ideen, sondern auch für das Gift des Nationalismus,” fasst die FAZ die hitzige Geschichte der Stadt in wenigen Zeilen zusammen.
Charles King erinnert mit “Odessa” an das fast freie jüdische Leben in dieser damaligen städtischen Neugründung.
Bedrohte Stadt
Odesa war so etwas wie eine Grenzstadt im “Wilden Westen”, in der ein doch meist Nebeneinander verschiedener ethnischer und religiöser Gruppen möglich war. Damit war es vorbei, als der aufkeimende russische Nationalismus, meist antisemitisch und in Kumpanei mit den zaristischen Behörden, das Land überschwemmte. 1905 erschütterten antijüdische Pogrome die Stadt, im Zuge des Bürgerkrieges überfielen Zaristen und Bolschewiken jeweils Odesa, in der frühen sowjetischen Ära blühte die Hafenstadt und das jüdische Leben wieder auf.
Erfolgreich in der Vernichtung waren die Nazis mit ihrem eliminatorischen Antisemitismus, ein Begriff des US-amerikanischen Wissenschaftlers Daniel Goldhagen. In den 1940er Jahren stand Odesa vor dem Abgrund, die rumänischen Verbündeten des Dritten Reichs wüteten unter der Schirmherrschaft der Nazis in der Stadt, deportierten die jüdischen Odesaner. Immerhin ein Drittel der multikulturellen Bevölkerung.
Heute wird Odesa von den russischen Invasionstruppen bedroht, die die Stadt immer wieder bombardieren. Zielgenau Wohnviertel und städtische Wahrzeichen. Der Holocaust-Überlebende Roman Schwarzman verglich deshalb auf ukraineverstehen die heutige Bedrohung mit dem sich ankündigenden Ende 1941. “Ich kann sagen, dass Putin ein verdienter Schüler Hitlers ist,” sagte Schwarzman. Putin habe als ehemaliger KGB-Mitarbeiter gelernt, wie man einen Vernichtungskrieg führt. Der Holocaust-Überlebende wirft Putin vor, “unsere gesamte Bevölkerung vernichten, auch unsere Infrastruktur, sogar Krankenhäuser und Schulen” vernichten zu wollen. Deshalb wachse der Hass in der Ukraine gegenüber allem Russischen.
Putins “Denazifizierung” sei das Programm, um die Ukraine zu zerstören. Putin behaupte, es gebe die Ukraine nicht, es sei ein Land, das erfunden worden sei. Putin wolle 40 Millionen Ukrainer vernichten. “Der kollektive Putin, er und all seine Unterstützer, sind Terroristen, weil sie Zivilisten ermorden,” zeigt sich Schwarzman entsetzt im “ukraineverstehen”-Gespräch. Möglicherweise führt die “Befreiung” der Ukraine von angeblichen Nazis zur Zerstörung von Land und Leute. Befreiung auf russisch.
Stadt für Stadt, nach der Blaupause der serbischen Milizionäre in den 1990er Jahre in Bosnien. Auch ihr Projekt hatte die Vernichtung bosnischer Städte und deren Zivilisation zum Ziel, ein “ritueller Städtekrieg”, so formulierte es der serbische Architekt und Dissident Bogdan Bogdanovic.
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