Autonomie für die Westsahara: Ausweg aus dem Konflikt?

Seit mehr als vierzig Jahren haben Zehntausende von marokkanischen Soldaten einen Sandwall aufgehäuft, der sich 2.400 Kilometer durch die westliche Sahara zieht. Der Wall ist vom Königreich Marokko seit den 1980er Jahren zum Grenzschutz errichtet worden, nach der Chinesischen Mauer und dem römischen Limes wohl die zweitlängste jemals gebaute Grenzbefestigung. Der mit Stacheldraht und unzähligen Landminen gesicherte Grenzwall teilt ein Gebiet mit 266.000 km2, bekannt als Westsahara, die von Marokko als „seine Sahara-Region“ bezeichnet wird.

Von Thomas Benedikter

Bis 1975 war die Westsahara spanisches Kolonialgebiet gewesen. Nach dem Abzug der Spanier rückten Mauretanien und Marokko ein und besetzten es gegen den Willen der Sahraui, der Stammesbevölkerung dieser Region. Marokko annektierte 1976 den Norden der Westsahara und 1979 den Rest, nachdem sich Mauretanien zurückgezogen hatte. Diese Annexionen wurden von den Vereinten Nationen nicht anerkannt, und bis heute wird die Westsahara von der UN offiziell als „Abhängiges Gebiet“ gemäß Art. 73 der UN-Charta geführt. In mehreren Resolutionen hat die UN das Selbstbestimmungsrecht der Sahraui bekräftigt. Auch der EUGH hat festgestellt, dass die Westsahara völkerrechtlich nicht zu Marokko gehört und deshalb im Rahmen der bilateralen Verträge zwischen der EU und Marokko nicht als Teil des Staatsgebiets aufgefasst werden dürfe. Dies hat auch kürzlich zu diplomatischen Reibereien zwischen Deutschland, der EU und Marokko geführt. Trotz fehlender Rechtsgrundlage beansprucht Marokko volle Souveränität über seine „Sahara Region“. Heute kontrolliert es über 80% des Gebiets der Westsahara; den Rest, fast ausschließlich Wüste, die POLISARIO. 

Seit 2019 flackern die Feindseligkeiten wieder auf

Seit 2019 hat Marokko eine Reihe von afrikanischen und arabischen Regierungen überzeugt, in der Westsahara Konsulate zu eröffnen. Seit Marokko im November 2020 einen Teil der UN-Pufferzone besetzte, um eine von POLISARIO-Aktivisten blockierte Straße zu räumen, steht der seit 1991 geltende Waffenstillstand auf der Kippe. Daraufhin startete die POLISARIO einen Gegenangriff. Neuen Auftrieb erhielten die Spannungen, als die US-Regierung unter D. Trump 2020 die Westsahara als Teil Marokkos anerkannte. Nach Marokkos Intervention in der Pufferzone brach Algerien die diplomatischen Beziehungen ab. Aufgrund der militärischen Schwäche der POLISARIO blieben die Zusammenstöße noch auf niedrigem Niveau, zumal Marokko den Luftraum über dem ganzen Gebiet kontrolliert. Marokko hat mehrfach zivile LKW-Konvois im POLISARIO-kontrollierten Ostteil mit Drohnen angegriffen, zum letzten Mal im April 2022. Im Mai 2023 gab es zum ersten Mal einen Bombenanschlag auf einen Phosphat-Transport innerhalb des von Marokko annektierten Gebiets, ein Angriff mit starker Symbolkraft, zumal Phosphat eine der zentralen Bodenschätze der Westsahara ist, die Marokko trotz ungeklärtem Rechtsstatus des Gebiets seit Jahrzehnten abbaut. Dieser Angriff könnte zu einer Eskalation des Konflikts führen. Die Versuche Marokkos, durch eine Territorialautonomie für die Westsahara mit der POLISARIO einen Kompromiss zu erzielen, scheinen vorerst gescheitert.

Das Autonomieangebot Marokkos

Im April 2007 hatte das Königreich Marokko dem UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon einen offiziellen Vorschlag zur Einrichtung einer Autonomen Region Sahara vorgelegt, mit dem Titel „Marokkanische Initiative zur Aushandlung eines Autonomiestatuts für die Sahara-Region“. Mit einem derartigen Kompromiss sollte das Volk der Sahraui sich mit der Annexion durch Marokko definitiv abfinden sollen. Die Westsahara sollte Territorialautonomie erhalten, und im Gegenzug sollten die legitimen Vertreter des sahrauischen Volks die Souveränität des marokkanischen Staats anerkennen. Damit stellen sich zwei grundsätzliche Fragen: zum ersten, sind die Sahraui bereit, im Gegenzug auf ein Referendum zur Selbstbestimmung zu verzichten und sich als autonomer Teil Marokkos zu identifizieren? Zum zweiten: ist dieses Autonomieangebot überhaupt geeignet, Frieden, Stabilität, Selbstregierung und den Schutz der Rechte der Bevölkerung der Westsahara zu sichern? In der Tat kann eine echte Territorialautonomie im heutigen politischen System Marokkos nicht so einfach eingerichtet werden, wie etwa in einem demokratischen Rechtsstaat Europas. Während Frankreich, die USA und einige andere Staaten der EU den Autonomievorschlag Marokkos begrüßten, lehnte ihn die POLISARIO in Vertretung der Sahraui rundweg ab und beharren auf ihrem Selbstbestimmungsrecht. 

Damit zur zweiten Frage: bietet der marokkanische Staat überhaupt die erforderlichen Rahmenbedingungen für eine funktionierende Territorialautonomie? Dafür wäre ein voll funktionierender Rechtsstaat mit unabhängiger Justiz, eine Demokratie mit Schutz aller bürgerlichen Freiheiten und politischen Grundrechte und die Abschaffung des klientelistischen Machtapparats im Staat und in der Westsahara Voraussetzung. Nun hat das Königreich Marokko seit der Thronbesteigung von Mohammed IV. zwar wesentliche Fortschritte in Richtung parlamentarische Demokratie und Rechtsstaat auf allen Ebenen gemacht, doch echte Demokratie in vollem Umfang ist damit noch nicht eingekehrt. Von Freedomhouse wird Marokko als „teilweise freier Staat“ geführt. Moderne Territorialautonomie erfordert aber ein demokratisches System mit Rechtsstaat sowohl im Gesamtstaat wie in der autonomen Region. Autonomierechte, die nicht in vollem Umfang vor marokkanischen Gerichten eingeklagt werden können, würden von vornherein eine Territorialautonomie fragwürdig werden lassen. 

Welche Art von Autonomie, um Frieden zu schaffen?

Bei bilateralen Verhandlungen müsste es zwischen den Konfliktparteien zunächst zu einer Übereinkunft zum Verfahren bei der Ausarbeitung eines Statuts und der Schaffung der autonomen Region kommen. Die Regelung der Autonomie der Region Sahara müssten in diesen Verhandlungen im Detail geklärt und das Verhandlungsergebnis der gesamten Bevölkerung der Region in einer freien Volksabstimmung vorgelegt werden. Gemäß der Resolutionen der UN-Vollversammlung und des UN-Sicherheitsrats zum Westsahara-Konflikt sollen sich die legitimen Bewohner der Westsahara frei entscheiden können, ob Autonomie in der ausverhandelten Form akzeptiert wird oder nicht. Doch wie bei der von der POLISARIO seit 47 Jahren geforderten Volksabstimmung zur Souveränität der Westsahara läge der Stolperstein auch hier in der Festlegung der Abstimmungsberechtigten: sollen alle heute in der Westsahara ansässigen marokkanischen Staatsbürger wahlberechtigt sein oder nur jene, die eine Mindestdauer an Ansässigkeit vorweisen können, oder gar nur jene, die vor der Annexion des Gebiets durch Marokko 1976 legal ansässig waren? Wie sollen die sahrauischen Flüchtlinge in Algerien an der Abstimmung teilnehmen? Wären alle heute Ansässigen wahlberechtigt, würden die indigenen Sahraui, falls sie die Autonomielösung ablehnten, überstimmt, weil sie nur mehr die Minderheit der Wahlberechtigten bilden. 

Einen weiteren Kernpunkt einer Territorialautonomie bilden die der Region übertragenen Zuständigkeiten. Im Fall der Westsahara wäre Marokko bereit, einen im Vergleich mit anderen arabischen Staaten beträchtlichen Teil staatlicher Befugnisse an diese Region abzutreten. Dennoch fehlen im Angebot von 2007 wichtige Politikfelder wie etwa die für die Westsahara enorm wichtige Kontrolle der Fischgründe und der Ausbeutung mineralischer Rohstoffe (vor allem der reichen Phosphatvorkommen), die Energieversorgung, die selbstverantwortliche Organisation der Regionalverwaltung und des öffentlichen Dienstes insgesamt, die Kommunikationsinfrastruktur etwa in Form eines regionalen Radio-TV-Senders. Auch die Zuständigkeit für die innere Sicherheit und regionale Polizei wird im Autonomievorschlag von 2007 nicht erwähnt. Angesichts der in den letzten Jahrzehnten seitens Marokko forcierten Einwanderung fehlt eine weitere Zuständigkeit von entscheidender Bedeutung: die Kontrolle der Zuwanderung. Eine autonome Region Westsahara müsste den Zustrom neuer Siedler aus Marokko mitregulieren dürfen.

Welche Stellung hätte die autochthone Stammesbevölkerung der Sahrauis in der autonomen Region? Der marokkanische Autonomievorschlag sichert ihr innerhalb und außerhalb des Territoriums eine „privilegierte Position“ und eine führende Rolle in den Institutionen und Körperschaften zu, die nicht näher definiert wird. Welche Kontrolle könnte eine autonome Westsahara über ihre natürlichen Ressourcen ausüben? Marokkos Autonomievorschlag räumt der zukünftigen autonomen Region zwar einen Teil der Einnahmen der Nutzung seiner wirtschaftlichen Ressourcen ein, bleibt aber bewusst vage. Derartig wichtige Grundrechte müssen in einem Autonomiestatut präzise geregelt sein, um zukünftigen Konflikten vorzubeugen: Wer ist rechtmäßiger Eigentümer der natürlichen Ressourcen der Region? Wer vergibt welche Nutzungskonzessionen? Wie hoch ist der Anteil der autonomen Region am Gesamterlös? Solche Fragen müssen in einem Autonomieabkommen im Detail geregelt werden.

Der internationale Kontext entscheidend

Der internationale Kontext spielt für die dauerhafte Stabilität einer Autonomielösung eine sehr wichtige Rolle. Heute lebt der größere Teil des sahrauischen Volks als Flüchtling im Nachbarland Algerien. Derartige Faktoren haben beim Erfolg anderer Territorialautonomien eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Nicht nur in die Autonomieverhandlungen, auch in die Garantie der Territorialautonomie selbst müsste dieser Nachbarstaat als eine Art Schutzmacht einbezogen werden. Man denke an das Beispiel Südtirol mit seiner „Schutzmacht“ Österreich. Diese Rolle kann auch im Autonomiestatut verankert werden, ohne die Souveränität Marokkos zu verletzen. Algerien wäre dann Garant und Überwachungsinstanz gemäß Völkerrecht und marokkanischem Recht, was eine Bedingung für die Zustimmung der Sahrauis zur Autonomielösung und Garantie für dauerhaften Frieden sein kann.

Inhalt, Kontext und Absicherung der Autonomie müssen passen

Was kann Autonomie in Fall der umstrittenen Westsahara? Da die marokkanische Autonomieinitiative als Verhandlungsangebot zu werten ist, besteht ganz erheblicher Verhandlungsspielraum. Nun müssen sich beide Seiten bewegen. Vor allem hat Marokko das Autonomieangebot wesentlich nachzubessern, um überhaupt die POLISARIO zum Verhandlungstisch zu bewegen. Auch Algerien hat ein Interesse an einer Konfliktlösung: zu lange schon harren 170.000 Sahrauis in der algerischen Wüste aus, zu lange ist diese Wüstenregion durch einen verminten Sandwall geteilt und die Beziehungen zu Marokko belastet. Die sahrauischen Stammesvölker und die von berberischen Stämmen geprägte Bevölkerung Marokkos haben außer Sprache und Religion auch sonst Vieles gemeinsam. Die Westsahara als autonomer Teil Marokkos kann für beide Seiten von Vorteil sein, sofern demokratische Selbstregierung und die besondere Stellung der indigenen Sahrauis gewährleistet wird. Eine Territorialautonomie mit hohem Standard kann der Schlüssel zur Konfliktlösung in der Westsahara sein. Kürzlich hat auch Österreich den Autonomieplan Marokkos als ernsthaften Weg zur Lösung des Konflikts anerkannt.

Der Ball liegt nicht nur bei Marokko und der POLISARIO, sondern auch bei der UNO. Ende Oktober 2019 hat der UN-Sicherheitsrat als Nachfolger von Horst Köhler Staffan de Mistura als neuen Sonderbeauftragten für die Westsahara eingesetzt, engagiert sich aber zu wenig für eine Lösung des Konflikts. Die POLISARIO versucht, den Konflikt auf dem internationalen Parkett zu halten, während Marokko bestrebt ist, seine Autonomielösung zu propagieren. Nach einer ersten Verhandlungsrunde im Dezember 2019 sind Vermittlungsversuche stecken geblieben. Bisher war die UNO nicht in der Lage, die verhärteten Fronten aufzubrechen und alle Beteiligten (Marokko, Algerien, Mauretanien, POLISARIO) zurück an den Verhandlungstisch zu bringen. 

Zur Vertiefung:

Alida Koos u. Tim Sauer, Wasserstoff aus der Westsahara: Europas „grüne“ Energie-Deals befördern neo-koloniale Ausbeutung; URL: Gesellschaft für bedrohte Völker • Wasserstoff aus der Westsahara: Europas „grüne“ Energie-Deals befördern neo-koloniale Ausbeutung (popoli-min.it)

Thomas Benedikter (2021), Autonomie weltweit – 100 Jahre moderne Territorialautonomie, LIT, Berlin

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