Armenien: Werft die Geschichte über Bord!

Nikol Paschinjans erinnerungs- und geschichtspolitische Revision

Genozidgedenkstätte (1967) auf dem Jerewaner Hügel „Schwalbenfestung“ (Foto- Tessa Hofmann)

Genozidgedenkstätte (1967) auf dem Jerewaner Hügel „Schwalbenfestung“ (Foto- Tessa Hofmann)

Von Tessa Hofmann

Seit 50 Jahren besuche ich die kleine südkaukasische Republik und engagiere mich menschenrechtlich für die internationale „Anerkennung“ bzw. Verurteilung des 1915/6 an anderthalb Millionen Armeniern begangenen Genozids.

Ich habe Armenien in der era sastoja, dem Zeitalter der Erstarrung unter Leonid Breschnjew erlebt, in der Aufbruchstimmung von glasnostj und perestrojka unter Michail Gorbatschow, während und nach dem Ersten Karabachkrieg (1991-1994). Doch nie war ein Aufenthalt in Armenien so bedrückend wie meine jüngste Reise im September 2024. 

Ich erlebte eine Gesellschaft, die nicht nur gespalten ist (und welche westliche Gesellschaft wäre es derzeit nicht ebenfalls?), sondern verunsichert und gelähmt. Woher kommt das?

Im Zweiten Karabachkrieg („Herbstkrieg“) von 2020 erlitten die vereinten armenischen Streitkräfte der De Facto-Republik Arzach und der Republik Armenien eine empfindliche Niederlage. Ein Drittel der bisherigen Republik Arzach geriet unter aserbaidschanische Kontrolle. Das verbliebene Gebiet war, wie zur Sowjetzeit das „Autonome Gebiet Berg-Karabach“, nur noch über den Latschin-Korridor mit der Republik Armenien verbunden. Im Dezember 2022 sperrte Aserbaidschan auch diese einzige Zufahrtsstraße und setzte die Bevölkerung einer neunmonatigen Hungerblockade aus, bis zur militärischen Einnahme am 19. September 2023. 

Über die militärischen Misserfolge im Zweiten Karabachkrieg informierten die armenischen Medien die Bevölkerung nicht wahrheitsgemäß. Es wurde vielmehr der Eindruck erweckt, dass sich an der Karabacher Front für Armenien alles „normal“ entwickele. Ebenso wie sein Vorbild und erster Präsident der postsowjetischen Republik Armenien, Lewon Ter-Petrosjan, empfindet der derzeitige Regierungschef Nikol Paschinjan die Existenz der Republik Arzach als Belastung seiner Politik und der Beziehungen zu den Nachbarn Aserbaidschan und Türkei. Der an der Jerewaner American University of Armenia tätige Experte David Davidian deutete unlängst sogar an, dass Paschinjan eine deutliche Kriegsniederlage brauchte, um die armenische Regierung dauerhaft aus der Verantwortung für Arzach/Bergkarabach entlassen zu können:

„ Es gibt Hypothesen, die besagen, dass der Zweite Karabach-Krieg so konzipiert war, dass Armenien eine herbe Niederlage erlitt. Es ist unmöglich, dass eine armenische Regierung überlebt, wenn Berg-Karabach einseitig an Aserbaidschan übergeben wird. Nehmen wir jedoch an, es wird der Anschein erweckt, dass es umkämpft und verloren wurde. In diesem Fall kann jede Ausrede benutzt werden, insbesondere da ‚Russland‘ daran schuld ist, weil es den Angriff gebilligt und keine militärische oder zumindest diplomatische Unterstützung geleistet hat. Dies ist jedoch nur eine Hypothese. Folgendes muss allerdings berücksichtigt und ins rechte Licht gerückt werden: Seit seiner Amtsübernahme im Jahr 2018 hatte Paschinjan fünf Direktoren des Nationalen Sicherheitsdienstes, und sechs Staatsbeamte starben unter Umständen, die als verdächtig gelten.“

Die Selbstentlassung aus der politischen Verantwortung besitzt vor allem bei den laufenden Friedensverhandlungen mit Aserbaidschan drastische Konsequenzen für die seit September 2023 in Baku als Geiseln einsitzenden acht politischen und militärischen Führer der Republik Arzach. Paschinjans Regierung hat die Forderung nach ihrer Freilassung nicht nur nicht in die Verhandlungen eingeschlossen, sondern im Gegenteil und gegen alle diplomatischen Gepflogenheiten sich öffentlich negativ über diese Personen geäußert.

Selbstentlastung bzw. Externalisierung von politischer Verantwortung betreibt Paschinjan auch mit Blick auf die armenische Geschichte und daraus abgeleitete Erinnerungskultur. Während des 2. Global Summit, der an die Eintausend Teilnehmer aus der weltweiten armenischen Diaspora zur Feier der armenischen Unabhängigkeit nach Jerewan führte, kritisierte Paschinjan in einer anderthalbstündigen Rede am 18. September 2024 den „imperialen armenischen Patriotismus“ und deutete an, dass dieser von der UdSSR im Kampf gegen die NATO und die Türkei induziert worden sei. Tatsächlich handelte es sich bei den Massenprotesten im Frühjahr 1965 um die erste große Bürgerprotestbewegung in der sowjetischen Geschichte.

„Paschinjan erklärte dem Publikum unlogischerweise, dass ‚dieses Modell des Patriotismus darauf abzielt, die Existenz eines unabhängigen und souveränen Staates auszuschließen…. Aber dieses Modell des Patriotismus ist so, dass wir kein Heimatland haben sollten, sondern es nur theoretisch lieben sollten, ein theoretisches Armenien haben und es lieben sollten, es an die Wand hängen, in Trinksprüchen, auf Kuchen, aber nicht auf dem Boden, was uns in den letzten mehreren hundert Jahren passiert ist.‘

(…) Paschinjan schrieb dann fälschlicherweise die Bemühungen der Armenier, des Völkermordes zu gedenken, der Manipulation durch die Sowjetunion zu, die es Sowjetarmenien ‚erlaubte‘, des Völkermordes zu gedenken, um der Türkei und der NATO entgegenzuwirken. Er behauptete fälschlicherweise, dass die Sowjetunion den Bau des Völkermorddenkmals in Jerewan zu einer Zeit erlaubte, als die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten am Rande eines Atomkrieges standen. So verunglimpfte er den Völkermord an den Armeniern, indem er ihn schändlicherweise als Werkzeug der sowjetischen Propaganda bezeichnete.“   

Weder die Niederlage im Zweiten Karabachkrieg, noch die umstrittene Grenzziehung in der Provinz Tawusch, bei der die Regierung Armeniens im Frühjahr 2024 mit der Übergabe von vier Dörfern einseitig Zugeständnisse an Aserbaidschan machte, haben jedoch ernsthaft Paschinjans Herrschaft infrage gestellt. Heftige, aber vorübergehende Proteste wurden unterdrückt, die politische außerparlamentarische und parlamentarische Opposition als russlandhörig verunglimpft. Laut einer Umfrage vom Dezember 2023 vertrauten nur 17,5% der Respondenten Regierungschef Nikol Paschinjan, und nur 2,5% dem Anführer der parlamentarischen Opposition und ehemaligem Präsidenten Robert Kotscharjan. Über 50% gaben an, keinen einzigen armenischen Politiker zu unterstützen. In einer Umfrage der internationalen Vereinigung GALLUP vom Mai 2024 – also mitten in der Krise wegen der Grenzmarkierung in Tawusch – gaben 9,1 Prozent der Befragten an, dass sie Paschinjans Tätigkeit völlig positiv bewerten, 18,7 Prozent – eher positiv, 18,6 Prozent – eher negativ, 41,1 Prozent – völlig negativ. 

Diese Vertrauenskrise ergibt sich aus dem Versagen der aktuellen, wie auch der Vorgängerregierungen, „die die Verhandlungen mit Baku wiederholt verpfuscht haben, die Armee nicht modernisierten und die falsche Wahl getroffen haben, wenn es um internationale Verbündete ging (es herrscht bittere Enttäuschung über Armeniens langjährigen Verbündeten Russland, weil Russland bei der Blockade und Einnahme von Berg-Karabach 2022/2023 nicht eingeschritten ist).“ 40% der Respondenten halten Russland für die drittgrößte Gefahr für Armenien nach Aserbaidschan (86%) und der Türkei (82%). 

Doch Angst vor weiteren Kriegshandlungen Aserbaidschans stützt bislang – trotz aller offenkundigen Fehler und Inkompetenzen – die Regierung N. Paschinjans, der man immerhin den Willen zutraut, weitere Kriegshandlungen tunlichst zu vermeiden.

 

1  “Pashinyan is Reducing Russian Influence in Armenia”: Exclusive Interview with David Davidian by AVA Diplomatic (17 September 2024). “Keghart”, September 23, 2024, https://keghart.org/davidian-pashinyan-russia/?fbclid=IwY2xjawFsdiZleHRuA2FlbQIxMQABHQ4WBVf4ioNMw51kvYO7D9RDvY76fcJmYWc_RFOecwM2d6A16KR9euvCKQ_aem_CWfBbH64fQlTwq-o520dvQ

 2 Interview mit Hrair Balian: Why won’t Yerevan act as Armenians still languish in Baku prisons? https://www.youtube.com/watch?v=hD0i2H2Fsag

3 Sassounian, Harut: Pashinyan’s Remarks at Diaspora Summit: Wrong Ideas, Wrong timing, Wrong Place. “Noyan Tapan”, 28-09-2024, https://www.nt.am/en/news/333969/

4 https://www.iri.org/resources/public-opinion-survey-residents-of-armenia-december-2023/

5 “Ajsor”, 15.05.2024, https://www.aysor.am/ru/news/2024/05/15/%D0%BE%D0%BF%D1%80%D0%BE%D1%81/2276506

6  Atasuntsev, Alexander: Could Opposition Protests in Armenia Topple the Government? Armenia’s Nikol Pashinyan is known as a political survivor, but the current unrest—led by a clergyman—is his biggest domestic political challenge yet. “Carnegie Politika”, 3 June 2024, https://carnegieendowment.org/russia-eurasia/politika/2024/06/armenia-protests-pashinyan?lang=en

7  IRI:Россия представляет собой самую большую угрозу для Армении после Турции и Азербайджана

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