10-02-2025
Armenien-Aserbaidschan: Zieht Nikol Paschinjan die Klage gegen Baku zurück?
Davor warnt der Arzacher Menschenrechtsbeauftragte. Denn angekündigte armenische Klagezurückziehungen verursacht irreparable Schäden für die armenische Bevölkerung von Arzach. Eine Analyse von Tessa Hofmann
![Washington, September 2024: Rede des Arzacher Menschenrechtsverteidigers Geram Stepanjan](https://gfbv-voices.org/wp-content/uploads/2025/02/Stepanjan.png)
Washington, September 2024: Rede des Arzacher Menschenrechtsverteidigers Geram Stepanjan
Von Tessa Hofmann
Während einer Fragestunde beim US Atlantic Council erläuterte Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan Anfang Februar 2025 die letzten zwei noch offenen von insgesamt 17 Punkten des künftigen Friedensabkommens mit Aserbaidschan: „Einer der Punkte betrifft die Entsendung von Drittstreitkräften entlang der armenisch-aserbaidschanischen Grenze. Aserbaidschan schlägt vor, die Entsendung von Drittstreitkräften entlang der Grenze zu verbieten, womit die Europäische Zivile Beobachtermission gemeint ist. Wir nehmen diesen Wunsch zur Kenntnis und haben einen eigenen Vorschlag unterbreitet, der vorsieht, diesen Punkt nur auf begrenzte Abschnitte der Grenze anzuwenden. Mit anderen Worten: Sobald ein Abschnitt offiziell abgegrenzt ist, sollten keine Streitkräfte von Drittparteien anwesend sein. Wir haben unseren Vorschlag schriftlich eingereicht und warten auf die Antwort Aserbaidschans.
Der andere Punkt betrifft die Klagen, die in Rechtsinstanzen gegeneinander eingereicht wurden. Die Idee ist, alle Klagen zurückzuziehen. Im Allgemeinen sind wir auch nicht gegen diese Idee, aber unser Vorschlag ist nicht nur, sie zurückzuziehen, sondern auch, diese Themen nicht in den bilateralen Beziehungen anzusprechen.“
Eine Serie von Klagen
Armenien hatte am 28. September 2023 beim Internationalen Gerichtshof (IGH) eine Klage gegen Aserbaidschan wegen Verletzung des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung gegen die armenische Bevölkerung von Berg-Karabach eingereicht. Darüber hinaus reichte die Republik Armenien vier Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein.
Eine davon betrifft die Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen, die während der 44-tägigen Invasion der aserbaidschanischen Streitkräfte in das Gebiet der Republik Armenien im Jahr 2020 begangen wurden, die zweite betrifft die aserbaidschanischen Prozesse gegen armenische Kriegsgefangene in Baku.
Ein dritter Fall betrifft die Invasion der aserbaidschanischen Streitkräfte in das Gebiet Armeniens und die dort begangenen Verbrechen, und die vierte Beschwerde betrifft die Blockade von Bergkarabach, massive Menschenrechtsverletzungen und „ethnische Säuberungen“.
Klage-Rückzug und die Folgen
Geram Stepanjan, der Menschenrechtsbeauftragter von Arzach, reagierte scharf auf die Bereitschaft Paschinjans zur Klagezurückziehung: „Der Rückzug Armeniens von Klagen vor internationalen Gerichten, darunter dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, wird zum Verlust des Rechtsmechanismus führen, der notwendig ist, um die Rechte der Bevölkerung von Arzach auf internationaler Ebene zu schützen“, sagte Stepanjan in einem Interview. Daher werde eine solche Entscheidung nicht nur für den Schutz der Grundrechte des Volkes von Arzach irreparable Folgen haben, sondern auch das Ansehen Armeniens erheblich beeinträchtigen und den Status des Landes als ein von den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit geleiteter Staat untergraben.
Der Menschenrechtsaktivist betonte, dass diese Bedenken nicht nur von Vertretern der armenischen Menschenrechts-Aktivisten, sondern auch von der Diaspora geteilt werden. Der Bürgerbeauftragte von Arzach merkte an, dass seine Meinung von so prominenten armenischen Menschenrechtsaktivisten wie Siranusch Sahakjan, Arman Tatojan, Ara Rasarjan und Artak Beglarjan geteilt wird.
Rechtlose Arzacher:innen
Im Fall von Klagezurücknahmen durch die Republik Armenien, so Stepanjan, bliebe den vertriebenen Arzachern nur noch die Möglichkeit, in Bezug auf ihr Eigentum Beschwerden beim EGMR einzureichen. Er fügte jedoch hinzu, dass solche Klagen nicht mehr sehr wirksam seien. Seiner Meinung nach besteht im Falle einer Rücknahme der Ansprüche ein dringender Bedarf an Unterstützung durch internationale Organisationen und die armenische Diaspora, um die verpassten Gelegenheiten zum Schutz der Rechte der Bevölkerung von Arzach zumindest teilweise auszugleichen.
Der Menschenrechtsaktivist erklärte, dass die vertriebenen Arzacher massenhaft Einzelbeschwerden beim Gericht einreichen müssten, die Eigentumsansprüche und den Schutz des kulturellen Erbes betreffen. Er betonte, dass dies zu einer ernsten Situation führen wird, in der so viele Einzel- oder Sammelbeschwerden wie möglich in einem begrenzten Zeitrahmen eingereicht werden müssen.
„Solche Klagen werden jedoch nicht entschädigen können und nicht die gleiche Bedeutung besitzen wie zwischenstaatliche Klagen, die vom Staat eingereicht werden“, sagte Stepanjan.
Gleichzeitig merkte Stepanjan an, dass Paschinjan nicht befugt sei, die beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) vorliegenden Klagen zurückzuziehen. Diese wurden unter anderem von dem ehemaligen Staatsminister und Menschenrechtsverteidiger der Republik Arzach, Artak Beglarjan, eingereicht, aber noch nicht zur Verhandlung angenommen. Stepanjan befürchtet, dass dieser Institution vorzeitig etwas entzogen werde: „Die von Beglarjan eingereichten Klagen werden nur dann geprüft, wenn sich das Gericht ernsthaft mit diesen Fragen befasst. Derzeit gibt es dort keine Fälle, die irgendwelche Garantien bieten könnten. Armenien kann die Klagen jedoch nicht zurückziehen, da sie auf staatlicher Ebene im Wesentlichen nicht beim Gericht eingereicht wurden“, versicherte Stepanjan. Seiner Meinung nach sind die von der Republik Armenien beim EGMR eingereichten Klagen eine andere Angelegenheit.
Stepanjan glaubt, dass der einzige Weg, um die armenischen Behörden daran zu hindern, unter dem Druck Aserbaidschans Klagen vor internationalen Gerichten zurückzuziehen, öffentlicher Protest und die Unterstützung der Fachwelt sind, unter deren Druck die Behörden in Armenien diesen katastrophalen Schritt aufgeben werden.
[Die Autorin]
Tessa Hofmann ist Autorin und Mitarbeiterin der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) zum Thema Armenien.
[Zum Weiterlesen]
Dallmann, Winfried K.; Hofmann, Tessa: Das geopolitische Schicksal Armeniens: Vergangenheit und Gegenwart. Norderstedt 2014, 486 S., 24 Karten, www.amazon.de/Das-geopolitische-Schicksal-Armeniens-Vergangenheit/dp/3759786243?asc_source=01HW8VZ99SQJM9DEFYXBNCY3WX&tag=snxde295-21
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