03-05-2025
Ukraine-Donbas: Folter und Mord an der Tagesordnung
Die ukrainische Historikerin Hanna Perekhoda über den russischen Terror in der besetzten Ost-Ukraine

Die ostukrainische Historikerin Hanna Perekhoda beschäftigt sich mit der Assimilierungspolitik des imperialen Russlands. Foto: Filippa Ljung
Bearbeitet von Wolfgang Mayr
In der annektierten Ost-Ukraine werden Ukrainischsprechende von den russischen Besatzungsbehörden verfolgt. Wegen des russischen Eroberungskrieges sprechen viele Ukrainer:innen nicht mehr ihre russische Muttersprache.
Das online-Magazin “Nationalia” der katalanischen NGO Ciemen sprach mit der Historikerin Hanna Perekhoda über die Lage in den besetzten Regionen. Sie stammt aus dem Donezk, spezialisierte sich auf die Geschichte des imperialen Russlands und studiert an der Universität Lausanne die ukrainische Geschichte zwischen 1917 und 1920. Das Gespräch mit Perekhoda führte die Sprachwissenschaftlerin Sara Larios Ongay. Sie beschäftigt sich mit minorisierten Sprachen und deren Revitalisierung. Auszüge aus dem Interview, bearbeitet von Wolfgang Mayr:
Nationalia: Welche Sprache oder Sprachen verwenden die Ukrainer:innen?
Hanna Perekhoda: Die meisten Ukrainer sprechen beide Sprachen. In einigen Regionen, wie z.B. in Donezk, gilt Ukrainisch als ländliche Sprache der unhöflichen Menschen, die sich weigern, russisch zu sprechen. Vor 2014 (Besetzung der Krym und pro-russische “Unruhen” in der Ostukraine) sprach in Kyjiw fast jeder russisch. Viele Russischsprachige definieren sich trotz ihrer Sprache als Ukrainer:innen.
Sara Larios Ongay: 2012 erließ Präsident Janukowitsch ein Gesetz zum Schutz der Minderheitensprachen.
Hanna Perekhoda: Es ging dabei ausschließlich um die russische Sprache. Es war also kein Instrument zum Schutz von Minderheiten, sondern ein Instrument der prorussischen Einflussnahme in der Ukraine. Ich spreche Russisch, aber ich war gegen dieses Gesetz, weil es nichts anderes als ein politisches Instrument war.
Sara Larios Ongay: Das ukrainische Sprachengesetz von 2018 wurde vom Parlament angenommen. Umgesetzt auch?
Hanna Perekhoda: Nein. Dieses Gesetz begünstigt ukrainischsprechende Ukrainerinnen und Ukrainer in vielen öffentlichen Bereichen, wie zum Beispiel im Bildungsbereich.
Sara Larios Ongay: Ist die Sprache also zu einem politischen Instrument geworden?
Hanna Perekhoda: Seit der ersten ukrainischen Revolution 2004 bedienten pro-russische Kräfte das Sprachen-Thema. Ukrainische Politiker nutzten die gleichen Identitätsthemen, um ihre Wähler zu mobilisieren.
Sara Larios Ongay: Russland begründete seinen Krieg gegen die Ukraine 2014 und 2022 mit dem Schutz der russischsprachigen Bevölkerung.
Hanna Perekhoda: Ja, die Realität ist, dass die russischsprachige Bevölkerung am meisten unter diesem „Schutz“ gelitten hat, denn die Städte in der Ostukraine sind am meisten von der russischen Armee zerstört und bombardiert worden.
Sara Larios Ongay: Wie “nachhaltig” wirkte sich die russische Invasion 2022 auf die Verwendung des Ukrainischen aus?
Hanna Perekhoda: In dieser Situation erscheint es mir logisch, dass viele Ukrainer kein Russisch sprechen wollen. In meinem Fall spreche ich Russisch und benutze weiterhin meine Sprache, aber das liegt daran, dass ich physisch nicht in der Ukraine bin und nicht so viel Schmerz habe wie die meisten Menschen dort.
Sara Larios Ongay: Wie ist die Lage für Ukrainischsprechende in den besetzten Gebieten?
Hanna Perekhoda: Es gibt Menschen, die gefoltert und getötet werden, weil sie Ukrainisch sprechen. Die Sprache gilt als Zeichen der Loyalität gegenüber dem ukrainischen Staat. Ukrainischsprechen wird deshalb konsequent verfolgt. Meine Schule in Donezk wurde 2014 besetzt. Davor haben wir dort Ukrainisch gelernt, dann waren die Lehrer gezwungen, auf Russisch zu unterrichten und sich an das russische Bildungsprogramm anzupassen. Ukrainisch Unterrichtende wurden zum Objekt von Repression und Verfolgung
Sara Larios Ongay: Wie ist die Situation z.B. für die Krimtataren?
Hanna Perekhoda: Als Russland 2014 die Krym besetzte, protestierten die Krimtataren gegen die Annexion. Sie werden seitdem am meisten verfolgt. Bis 2022 waren die meisten politischen Gefangenen in den besetzten Gebieten Tataren, viele werden des Terrorismus beschuldigt. Viele flohen in den freien Teil der Ukraine und brachten auch ihr Parlament und ihre Kulturzentren dorthin. Sie erhalten in der Ukraine viel Aufmerksamkeit.
Sara Larios Ongay: Und es gibt noch viele andere Minderheiten in der Ukraine.
Hanna Perekhoda: Es gibt eine ungarische Minderheit in Transkarpatien. Ihre Situation ist hochgradig politisiert. Der pro-russische ungarische Ministerpräsident wirft der ukrainischen Regierung vor, der ungarischen Sprachminderheit nicht genügend Freiheit zu gewähren. Es gibt noch die pontischen Griechen, die hauptsächlich in Mariupol leben. Sie hatten ihre eigene griechische Sprache und Kultur. Mariupol ist eine Stadt, die durch die russischen Bombenangriffe fast zerstört wurde. Die pontischen Griechen haben dort am meisten unter den Folgen des Krieges gelitten.
Sara Larios Ongay: Wie stellen Sie sich die Ukraine nach dem Krieg vor?
Hanna Perekhoda: Meine ideale Ukraine ist ein Land, in dem jeder die Sprache sprechen kann, die er will. Nicht nur der russische Krieg zerstört die Sprachenlandschaft. Ein weiteres Problem ist, dass der Staat und die kulturellen Eliten es noch schlimmer machen, weil sie die Idee verbreiten, dass man, um Ukrainer zu sein, Ukrainisch sprechen, die ukrainische Kultur lieben und so weiter.
Sara Larios Ongay: Was ist daran falsch?
Hanna Perekhoda: Viele russischsprachige Bürger verteidigen die Ukraine an der Front, und was die Ukrainer im Moment verbindet, ist die gemeinsame Erfahrung des Widerstands gegen eine Besatzungsmacht und nicht die Tatsache, eine gemeinsame Sprache zu haben. Es muss überdacht werden, was es bedeutet, Ukrainer zu sein. Und wenn der Staat weiterhin eine ethno-nationalistische Ideologie des 19. Jahrhunderts verwendet, in der das Sprechen einer Sprache bedeutet, Teil einer Nation zu sein, werden wir nirgendwo hingehen. Es ist eine Sackgasse.
Sara Larios Ongay: Sie wollen ein Land, in dem Sprache gesprochen werden kann. Glauben Sie, dass dies ein mögliches Zukunftsszenario ist?
Hanna Perekhoda: Wenn der Krieg mit einem Friedensabkommen endet, das von imperialistischen Mächten aufgezwungen wird, die in Wirklichkeit ihre eigenen Interessen verteidigen, werden die Spannungen und der Hass gegen Russland wachsen. Ein großes Gefühl der Ungerechtigkeit wird sich unter Millionen Menschen ausbreiten, und das wird einen fruchtbaren Boden für die Radikalisierung schaffen. In diesem Zusammenhang ist es sehr schwierig, Vielfalt zu akzeptieren.
Sara Larios Ongay: Der mögliche Diktatfrieden ist also eine Sackgasse?
Hanna Perekhoda: Ja. Wenn der Krieg aber mit einem Friedensabkommen endet, das einen gerechten Frieden fördert, die Wahrung der Souveränität der Ukraine garantiert und Russland als alleinigen Verantwortlichen für diese Aggression ansieht, wird es möglich sein, eine Gesellschaft zu schaffen, in der Vielfalt akzeptiert und gefeiert wird. Es wird einige Zeit dauern, weil das Trauma sehr groß ist und es mehr als ein oder zwei Generationen dauern kann, bis es geheilt ist. Aber wenn Russland ein Staat wird, der seinen Nachbarn gegenüber nicht aggressiv ist, wird Russisch in der Ukraine weiterhin von vielen Menschen gesprochen werden sowie auch die Sprachen der Minderheiten.
Weitere Informationen:
– Imperiale Blindheit und russische Identität
– Die Ukraine kämpft gegen den Faschismus
– L´Ucraina combatte il fascismo
– Resisting Russian Imperialism
– Freedom and Social Identity in the Donbas
– Eine gerechte Sicherheit ist möglich
– In einem faschistischen Regime gibt es keine Feminismus
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