Syrien nach Assad – Zwischen Übergang und Abgrund

Syrien taumelt, schreibt Jan Diedrichsen. Die HTS ist mit der eigenen Machtsicherung beschäftigt, die Kurden geschwächt, die internationale Gemeinschaft erschöpft oder desinteressiert. Dieses Vakuum birgt Gefahren, die man längst als überwunden glaubte.

Syrien und die Einflusszonen. Graphic: Adam Asby Gibbard

Syrien und die Einflusszonen. Graphic: Adam Asby Gibbard

Latakia brennt. Tartus auch. In den alawitischen Hochburgen, einst Bollwerke des Assad-Regimes, spielen sich Szenen ab, die an die schlimmsten Kapitel der syrischen Geschichte erinnern. Seit dem Sturz Assads im Dezember wurden mehr als 1.300 Alawiten getötet, viele von ihnen in gezielten Vergeltungsaktionen. Die neue Regierung unter Ahmed al-Scharaa (ein ehemaliger al-Qaida-Kommandeur, der nun westliche Diplomaten empfängt und Wirtschaftshilfen verhandelt) spricht von „bedauerlichen Exzessen“, doch sie greift kaum ein. Zwischen den Trümmern, zwischen Massengräbern und zerbombten Vierteln offenbart sich eine unbequeme Wahrheit: Die neue Ordnung ist nicht viel mehr als ein überstürztes Machtkonstrukt, das auf dünnem Fundament steht.

Es sind islamistische Milizen, die in Syrien jetzt das Sagen haben. Die Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die lange als Terrororganisation galt, ist über Nacht zur neuen Staatsmacht geworden. Ihre Wurzeln reichen tief in den Dschihadismus – sie ging aus der syrischen Al-Qaida-Fraktion hervor, distanzierte sich 2017 offiziell von ihr, blieb aber ideologisch im radikalen Islamismus verankert. Heute präsentiert sich die HTS als pragmatische Übergangsregierung, doch der Kern ihrer Politik bleibt unverändert.

Begrenzte Selbstverwaltung im Tausch gegen Autonomie

Gleichzeitig geschieht in Damaskus ein politisches Manöver, das ebenso pragmatisch wie widersprüchlich wirkt: die Vereinbarung mit den Kurden. Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), die lange gegen islamistische Gruppen kämpften, haben sich mit der HTS auf ein Abkommen geeinigt. Die Kurden erhalten begrenzte Selbstverwaltungsrechte, im Gegenzug verzichten sie auf ihre Autonomiepläne. Offiziell wird von „nationaler Einheit“ gesprochen, in Wahrheit ist es ein Pakt der Notwendigkeit. Die Kurden wissen, dass die Türkei jeden Versuch weitergehender Autonomie mit militärischer Gewalt beantworten würde. Die HTS wiederum braucht Stabilität, um ihre Macht zu konsolidieren. Aber wie lange hält eine Allianz, die auf nichts als Angst und gegenseitiger Abhängigkeit beruht?

Besonders betroffen von der neuen Machtkonstellation sind Syriens Alawiten (etwa zwölf Prozent der Bevölkerung), eine muslimische Minderheit, die historisch eng mit dem Assad-Regime verbunden war. Baschar al-Assad selbst ist Alawit, und seine Herrschaft stützte sich über Jahrzehnte auf diese Gemeinschaft. Für viele Islamisten sind die Alawiten jedoch Verräter am wahren Glauben. Ihre Religion, eine synkretistische Strömung des Islam mit schiitischen Elementen, galt in den Augen sunnitischer Hardliner immer als Ketzerei. Jetzt, da das Regime gefallen ist, droht den Alawiten Vergeltung.

Al-Scharaa gibt sich als Staatsmann, empfängt europäische Diplomaten und verspricht Wahlen. Doch wer genau hinsieht, erkennt: Die HTS bleibt, was sie war – ein Netzwerk von Islamisten, das seine Wurzeln nie wirklich gekappt hat. Seit Januar wurden Gesetze erlassen, die das Familien- und Strafrecht nach islamistischen Maßstäben umgestalten. Frauenrechte wurden beschnitten, säkulare Stimmen zum Schweigen gebracht. Ein neues Mediengesetz verbietet Inhalte, die „gegen islamische Werte verstoßen“ – eine Formulierung, die so dehnbar ist, dass sie für jede Art von Zensur taugt. Parallel dazu kursieren Berichte über Verschwundene, über ehemalige Beamte des alten Regimes, die plötzlich nicht mehr auffindbar sind.

Der IS kehrt zurück

Und dann ist da noch der Schatten des Islamischen Staates (IS). Lange totgesagt, kehrt er zurück. In den vergangenen drei Monaten gab es mehr als 30 Anschläge, vor allem gegen alawitische und kurdische Gebiete. In den Grenzregionen zwischen Syrien und Irak tauchen immer mehr ehemalige Kämpfer auf, viele von ihnen Rückkehrer aus europäischen Haftanstalten. Niemand kontrolliert sie. Die HTS ist mit der eigenen Machtsicherung beschäftigt, die Kurden geschwächt, die internationale Gemeinschaft erschöpft oder desinteressiert. Inmitten dieses Vakuums wächst eine Gefahr heran, die längst überwunden schien.

Syrien taumelt. Zwischen islamistischer Ordnung und Staatszerfall, zwischen Rache und Stabilität. Der Westen beobachtet, wägt ab, debattiert über Wirtschaftshilfen und Sanktionen. Aber in Latakia, in Tartus, in den Straßen von Damaskus spüren die Menschen vor allem eines: dass ihre Zukunft weiter ungewiss bleibt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website ist durch reCAPTCHA geschützt und es gelten die Datenschutzbestimmungen und Nutzungsbedingungen von Google

Zurück zur Home-Seite