Serbien: „Aufstand“ der Studenten – Der Anfang vom Ende des Präsidenten Vucic und seiner Regierung?

Von Belma Zulcic, GfbV-Bosnien

Demonstrationen in Belgrad gegen die Regierung, Januar 2025. Foto: frei von https://protesti.pics/studenti

Demonstrationen in Belgrad gegen die Regierung, Januar 2025. Foto: frei von https://protesti.pics/studenti

Nachdem am 1. November 2024 das Dach vor dem Eingang des nur wenige Monate zuvor rekonstruierten Bahnhofs in der nordserbischen Großstadt Novi Sad eingestürzt war und dabei 15 Menschen starben, begannen erste Proteste in verschiedenen Orten Serbiens.

Die Forderungen der protestierenden Bürger waren, dass der Vorfall aufgeklärt und Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden. Jeden Tag um 11:52 Uhr versammelten sich Bürger auf Kreuzungen und Straßen in Belgrad, Novi Sad und anderen größeren Städten Serbiens und blockierten für 15 Minuten des Gedenkens an die Opfer den Verkehr.

Nach häufigen abfälligen Bemerkungen des Präsidenten Aleksandar Vucic und anderer Regierungsvertreter in den Medien über die protestierenden Menschen als Mob und Kräfte, die aus dem Ausland bezahlt und eingeschleust wurden, um dem serbischen Staat zu schaden, begannen immer häufigere Angriffe von Hooligans auf die Protestierenden, die, so die allgemeine Annahme, von der Regierung organisiert dazu angestiftet und dafür bezahlt werden.

 

NGO, ausländische Agenten?

Unter dem gleichen Vorwand wurden Vertreter von NGOs aus dem Ausland, unter anderem aus Kroatien und Rumänien, verhört, ihre Hotelzimmer durchwühlt und sie des Landes verwiesen. Dies löste jedoch unter Bürgern eine Revolte aus, sodass sich immer mehr Menschen den Protesten anschlossen.

Auch mit seinen anfänglichen Rechtfertigungen der zahlreichen Fahrer, die die protestierenden Menschen mit ihren Autos anfuhren, um so die Straßenblockaden gewaltsam zu brechen, glückte der serbische Präsident nicht. Gerade diese sorgten dafür, dass die Proteste immer mehr Unterstützung gewannen.

Die erste Blockade der Fakultäten begann am 25. November 2024, nachdem Studenten der Fakultät für Dramaturgie in Belgrad während ihres Protestes drei Tage zuvor angegriffen wurden. Sie besetzten aus Protest die Fakultät und gründeten ein Plenum. Unterstützung dafür erhielten sie sofort von den Professoren der Fakultät.

In den nächsten Tagen schlossen sich dieser Fakultät nach und nach beinahe alle Fakultäten der Universität in Belgrad an, es folgten Fakultäten in anderen Orten Serbiens, sodass heute so gut wie alle Fakultäten in Serbien unter Blockade stehen.

Demonstrationen in Belgrad gegen die Regierung, Januar 2025. Foto: frei von https://protesti.pics/studenti

Demonstrationen in Belgrad gegen die Regierung, Januar 2025. Foto: frei von https://protesti.pics/studenti

Klare Forderungen

Ihre Forderungen umfassen die Veröffentlichung der gesamten Dokumentation zur Rekonstruktion des Bahnhofs in Novi Sad, die Aufhebung der Anklagen und Ermittlungen gegen Studenten, die bei den Protesten verhaftet wurden, die Bestrafung der Angreifer auf die Studenten sowie eine Erhöhung der Finanzierung von öffentlichen Hochschulen um 20 %.

Den Blockaden der Studenten schlossen sich auch einige Oberschulen an, vor allem Gymnasien in Belgrad und Novi Sad, in denen Schüler gemeinsam mit ihren Eltern und Lehrern protestieren und teilweise den Unterricht ganz eingestellt haben.

Obwohl die Regierung zum einen unter Druck der Proteste die Forderungen für Erhöhung der Finanzierung der Hochschulen erfüllte sowie einen Teil der Dokumentation über die Rekonstruktion des Bahnhofs veröffentlichte, zum anderen den Studenten mit Einstellung der Studentenkredite und der Unterkunft in Wohnheimen und den Lehrern mit Kürzung der Gehälter und Kündigungen drohte, ebbten die Proteste nicht ab.

Die Studenten und Bürger fordern nach wie vor die Sanktionierung aller Beteiligten an den Angriffen auf die Studenten. Wie Videoaufzeichnungen bestätigen, sind unter den Angreifern auch Funktionsträger der Vucic-Partei SPS. Auch fordern sie die Veröffentlichung aller Dokumente über die Rekonstruktion des Bahnhofs, da vermutet wird, dass gerade die Schlüsseldokumente bewusst unterschlagen wurden. Die Arbeiten am Bahnhof wurden unter anderem von Firmen aus China ausgeführt und übertrafen die geplanten Kosten um ein Mehrfaches.

 

Lügender Vucic

Gleich nach dem Einstürzen des Bahnhofsdachs erklärte Präsident Vucic, am Bahnhof wäre alles außer dem Dach rekonstruiert worden, wurde jedoch sofort wie von Videoaufnahmen der Bauarbeiten und Bildern so auch von wenigen mutigen Ingenieuren, die an der Rekonstruktion beteiligt waren, dementiert. Er äußerte sich trotz Forderungen der Bürger nicht mehr dazu und entschuldigte sich auch nicht für die offensichtliche Lüge.

Seit Jahren herrschen Aleksandar Vucic und seine Fortschrittspartei (SPS) vollkommen autoritär in Serbien. Im Vordergrund stehen dabei wirtschaftlicher Fortschritt und die Festigung Serbiens als regionale wirtschaftliche Macht.  Zahlreiche Experten sprechen jedoch von allesumfassender Korruption und Vetternwirtschaft, maßloser Staatsverschuldung und dem enormen Verkauf des öffentlichen Eigentums an ausländische Investoren, z. B. der unrechtmäßige Bau des Wohnkomplexes „Belgrad auf Wasser“ in Kooperation mit Investoren aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, der Verkauf von Anrechten für Gold- und Kupferabbau an chinesische Firmen sowie der Abbau von Lithium an den Konzern Rio Tinto.

Gerade wegen des geplanten Lithiumabbaus protestieren Menschen und Aktivisten in Serbien schon seit Monaten in großen Massen. Die Regierung ging auch bei diesen Protesten gegen Aktivisten und Bürger vor, schüchterte sie ein und ließ sie auch verhaften.

Demonstrationen in Belgrad gegen die Regierung, Januar 2025. Foto: frei von https://protesti.pics/studenti

Demonstrationen in Belgrad gegen die Regierung, Januar 2025. Foto: frei von https://protesti.pics/studenti

Autoritäres Vucic-Regime

Bis Ende letzten Jahres konnte die Regierung trotz der wachsenden Unzufriedenheit der Bürger und der daraus resultierenden immer stärkeren Auswanderung aus dem Land effektiv gegen Kritiker vorgehen: Mittels der regimenahen Medien wurden Kritiker als Verbrecher, Kriminelle und Verräter diffamiert, eigene Vergehen und die offensichtliche Korruption wurden weitestgehend von der Justiz ignoriert und vertuscht, mit einer intensiven Medienkampagne wurden die „Erfolge“ der Regierung Vucic und er als großer Held und Beschützer des Serbentums gefeiert, seine Macht durch Wahlfälschung und Repressalien erwirkt.

Seine Fortschrittspartei war in allen öffentlichen Betrieben und Institutionen so tief verwurzelt, dass jede Kritik automatisch auch einen Arbeitsplatzverlust bedeutete. Der Großteil der Bürger war eingeschüchtert, die kaum bestehende Opposition uneinig und machtlos.

Deshalb bedeuten die seit November anhaltenden Proteste auch eine Wende: Ein Großteil der Bürger hat die Angst vor dem Regime überwunden und lässt sich nicht mehr einschüchtern. Vor allem haben dazu die Proteste der Studenten beigetragen, die seit Wochen einheitlich, koordiniert und unnachgiebig demonstrieren. Sie wollen unter sich keine Führungspersönlichkeiten bestimmen, liebäugeln nicht mit der Opposition und fordern keine Machtübernahme.

Abgeschreckt wurden sie auch nicht, als regimenahe Medien öffentlich die Namen und Adressen engagierter Studenten veröffentlichten und ihre Abonnenten dazu aufriefen, gegen sie vorzugehen.

 

Der Protest weitet sich aus

Der Protestbewegung haben sich nun auch Lehrer, Anwälte, Ärzte und viele andere Bürger angeschlossen. In diesen Tagen sind Hunderttausende auf den Straßen, landesweit in 103 Städten. In gewisser Weise ist dies ein Aufstand der Gebildeten und Jungen gegen den Staat und die Regierung von Präsident Vucic, die nun endlich bloßgestellt und „entzaubert“ ist.

Geholfen hat ihr auch der angekündigt große Gegenprotest im Kleinort Jagodina in Zentralserbien nicht, zu dem auf Kosten des Staates Menschen aus Institutionen und Betrieben am 24. Januar 2025 aus ganz Serbien mit Bussen herangefahren wurden und dafür ein Entgelt erhielten, und trotz alldem nur etwa 14.000 Menschen kamen, so die Schätzung des Archivs für öffentliche Versammlungen Serbiens. Im Gegensatz dazu waren am gleichen Tag allein in Belgrad über 55.000 Menschen auf den Straßen, in Novi Sad 22.000 und in Nis etwa 10.500, Tausende auch in vielen anderen Orten.

Der größte Protest der Studenten fand am Abend des 22. Dezember 2024 statt, als sich im Zentrum Belgrads über 100.000 Menschen versammelten.

Weitere große Proteste in beinahe allen Städten Serbiens sind angekündigt. Letzthin haben sie Unterstützung auch aus der Diaspora erhalten. Weltweit haben Serben Proteste der Unterstützung in ihren aktuellen Wohnorten organisiert, in Deutschland, der Schweiz, Norwegen, Großbritannien, den USA und vielen anderen Ländern.

Enttäuschend, dass Institutionen der EU nur minimal reagiert und zurückhaltend vor Einschüchterungs- und Drohungsversuchen gegen Studenten und andere demonstrierende Bürger gewarnt haben, während sich Richard Grenell, der Beauftragte für Sondermissionen der neuen Trump-Regierung, ähnlich wie die Putin-Regierung, offen auf die Seite der Vucic-Regierung geschlagen und die Proteste in Serbien sogar kritisiert hat.

[Die Autorin]
Belma Zulcic ist die Leiterin der bosnischen Sektion der Gesellschaft für bedrohte Völker.

[Zum Weiterlesen]
– Belgrader Zentrum für Menschenrechte >>> https://vreme.com/de/tag/beogradski-centar-za-ljudska-prava/
– Centre for Human Rights >>> https://www.bgcentar.org.rs/bgcentar/eng-lat/saopstenja/
– BpB-Balkangambit >>> https://www.bpb.de/mediathek/podcasts/balkangambit/552050/trailer/
– BpBDossierSüdosteuropa >>> https://www.bpb.de/themen/europa/suedosteuropa/
– What Does Trump’s Return Mean for the Balkans? >>> https://foreignpolicy.com/2025/01/21/trump-bosnia-serbia-kosovo-albania-vucic-dodik-grenell/
– Voices – Hoffen auf Donald Trump >>> https://gfbv-voices.org/srpski-svet/
– Wikipedia >>> Dacheinsturz Bahnhof Novi Sad https://de.wikipedia.org/wiki/Dacheinsturz_des_Bahnhofs_Novi_Sad

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