Leonard Peltier darf nach Hause

Nach 49 Jahren hinter Gittern  - Ein Gnadenakt von Präsident Joe Biden

Leavenworth, Kansas 1997

Von Claus Biegert

Stündlich warteten Tara und ich auf eine Nachricht aus den USA. Meine Tochter Tara, 2002 geboren, war sozusagen mit Leonard Peltier aufgewachsen. Seit sie wahrgenommen hatte, was ihr Vater, der Journalist, so machte, war sie mit dem Namen Leonard Peltier vertraut. In der Schule erzählte sie von ihm, sie nahm an Aktionen teil, verfolgte die Arbeit an meinem Film „I am the Indian Voice“, bangte bei jeder Begnadigungsphase, wenn ein Präsident sein Amt abgab.  Als 2016 bekannt wurde, dass Papst Franziskus an Präsident Obama geschrieben und um Leonards Freilassung gebeten hatte, jubelte sie. Wer würde denn einem Brief des Papstes widersprechen? Seine Freilassung war für uns so gut wie sicher.

Doch Barak Obama ignorierte die Bitte des Papstes, das FBI stand über dem Heiligen Stuhl. Schon Bill Clinton hatte sich erfolgreich einschüchtern lassen, als bekannt wurde, er neige zu einer Begnadigung. Der Druck kam jedoch nicht nur vom FBI, sondern auch aus den eigenen Reihen: Tom Dashle, Demokrat aus South Dakota und damals Fraktionsvorsitzender im Senat, stufte eine Begnadigung als schädlich für die Partei ein.

Jetzt, neun Jahre später, Montag 20. Januar 2025: In wenigen Stunden wird ein neuer US-Präsident vereidigt werden. Neu ist er nicht, er war schon einmal da. Neu ist, dass eine vorbestrafte Person Präsident werden wird. Das Wochenende ist vergangen ohne die erhoffte Nachricht. Es war quälend.

Bilder ziehen vorbei: Meine Nacht im Gefängnis von Malone an der Grenze zu Kanada und das anschließende Verhör durch das FBI 1975, als Peltier noch in Kanada weilte; meine Mitarbeit an der paninianischen Zeitung „Akwesasne Notes“ hatte mich verdächtig gemacht. Dann zwei Besuche im Gefängnis in Leavenworth, Kansas, zusammen mit Dick Bancroft, dem Photographen und AIM-Chronisten aus Minnesota. Leonard hatte uns empfangen wie ein Gastgeber, der zum Tee ins Wohnzimmer einlädt. Ihn umgab das Charisma eines Menschen, der sich um andere kümmert. 

Als ich Leonard das erste Mal sah, wurde er in Ketten  hereingeführt; das war Anfang der 80er Jahre in einem Gerichtsaal in Los Angeles. Meine erste Reaktion damals: Ihn würde ich als Babysitter engagieren. Als ich Jahre später dies gegenüber Nilak Butler erwähnte, sagte sie: „Das war ja auch seine Aufgabe, sich um die Alten und die Kleinen zu kümmern, er war ein Warrior, der im Hintergrund agierte.“ Nilak gehörte 1975, zwei Jahre nach Wounded Knee – sie war 20 Jahre alt – zu dem Camp in der Nähe des Tatorts auf dem Reservat Pine Ridge, dem Anwesen der Familie Jumping Bull, auf dem die beiden Agenten Jack Coler und Ron Williams getötet worden waren. Leonard leugnete nie, dabei gewesen zu sein. Er leugnet, die Agenten erschossen zu haben. Er wisse, wer es war, so sagte er oft, aber seine Kultur und seine Spiritualität würden es ihm verbieten, den Namen des Täters zu nennen. 

Montagnachmittag, die Inauguration des Vorbestraften rückt näher. Plötzlich, in buchstäblich letzter Minute die Nachricht im Netz: Joe Biden entläßt Peltier in den Hausarrest. Als Datum für das Haftende nennt das vom Präsidenten unterschriebene Dekret den 18. Februar. Noch vier Wochen. Ich habe Sorge, dass dieser Termin vom Bureau of Prisons unter bürokratischem Vorwand verschleppt wird. Die Greifzangen des FBI richten sich auch dorthin. Zuviele Schikanen sind vorausgegangen. Der Agentur Associated Press wurde ein Brief zugespielt, den Christopher Wray, ehemaliger Direktor des FBI, an Präsident Biden geschickt hatte, um diesen von jeglicher Art von Gnade abzubringen. „Einen gnadenlosen Killer frei zu lassen“, schreibt Wright, sei „eine Beleidigung des Rechts.“ 

Hausarrest also, keine Begnadigung. Leonard ist das nur Recht. Nur Schuldige werden begnadigt, so war Jahrzehnte sein Argument; er pochte auf einen neuen Prozess, da sämtliche Beweise, die zu seiner Verurteilung geführt hatten, gefälscht waren. Myrtle Poor Bear, die Frau, die vorgab, seine Freundin zu sein und beobachtet zu haben, wie er die Agenten getötet hat, gab später zu Protokoll, ihn nicht zu kennen und vom FBI zum Unterschreiben der vorgefertigten Aussage gezwungen worden zu sein. Damit stimmten die kanadischen Behörden der Auslieferung zu. Im anschließenden Prozess, bei dem er zu zweimal lebenslänglich verurteilt wurde, war Myrtle Poor Bear nicht mehr zugelassen. Es gab keinen neuen Prozess, doch wurde das Urteil mangels Beweise von Doppelmord auf Beihilf zum Mord – aiding and abetting – modifiziert. Das Strafmaß wurde aber beibehalten.  

Jetzt, nach 49 Jahren, will Leonard nachhause, nach Turtle Mountain zu seiner Familie. Er ist 80 Jahre alt und schwer krank. Sein Sohn Chauncey war zehn, als sein Vater eingesperrt wurde. Er braucht ärztliche Fürsorge, die Wärme seiner Kinder, viele Zeremonien und jemand, der ihm Fry Bread kredenzt. Leonard will die Hand auf die Erde legen und über sich den Himmel sehen. Er will lachen, das hat er nicht verlernt; als Dick Bancroft und ich mit ihm zusammen saßen, wurde oft gelacht.

Die Lebensumstände auf dem Reservat Pine Ridge jener Zeit waren lebensbedrohlich. Kevin McKiernan, Fotograf und Journalist, weilte 1975 auf dem Reservat. Später gab er bei einem Hearing eines US-Untersuchungsausschußes zu Protokoll, dass ihm der FBI-Einsatzleiter der Region, anvertraute, das Bureau habe in den zwei Jahren nach der Besetzung von Wounded Knee über 2000 Special Agents auf dem Reservat ausgebildet. Das FBI arbeitete eng mit dem Stammesrat, der Stammespolizei und einer neu geschaffenen, bewaffneten Truppe namens GOONS zusammen. Auf der anderen Seite die traditionelle Bevölkerung im Schulterschluß mit der Widerstandsbewegung AIM. Es war ein Bürgerkrieg.

Die Umstände des Bürgerkrieg ließ ein Geschworenengericht in Cedar Rapids, Iowa, Bob Roubideaux und Nilaks Ehemann Dino Butler 1976 freisprechen. Beide gehörten neben Peltier zu den Gesuchten, Peltier aber war nach Kanada geflohen. Wäre er mit beiden zusammen vor Gericht gestanden, wäre er wahrscheinlich mit frei gesprochen worden. 

Die Geschichte von Leonard Peltier ist die Geschichte des Kriegs nach den sogenannten Indianerkriegen. Tradionelle Werte indigener Gesellschaften stehen der rücksichtslosen Profitmaximierung des US-Kapitalismus im Weg. Unter dem Indianerland liegen begehrte Bodenschätze! Wird die Souveränität der indigenen Nationen die Bagger und Bohrer aufhalten? „Drill, Baby drill“ ist der Kriegsruf der Invasoren. Indigene Weltsicht will die Mutter Erde davor bewahren. Die Konfrontation ist unvermeidlich. 

Im Juli letzten Jahres hatte das US-Parole Board einen Antrag auf Begnadigung abgelehnt und als nächsten Terim 2039 genannt. Was war es wohl, das den Präsidenten in letzter Minute aktiv werden ließ? Es waren wahrscheinlich die Boarding Schools und die über 3000 toten Kinder, deren Knochen jetzt gefunden werden. Die indigene Inneministerin Deb Haaland (sie kommt vom Laguna Pueblo) hatte das Thema schon länger auf seine Agenda gesetzt. Letzten Oktober war Joe Biden mit ihr nach Arizona gereist, um sich bei einem zeremoniellen Auftritt auf Stammesland für „das Schandmal amerikanischer Geschichte“ bei  den Ureinwohnern zu entschuldigen. In allen Vorbereitungstreffen, so ist jetzt zu vernehmen, hatten die Stammesvertreter Leonard einen „Boarding School Survivor“ genannt: einen Überlebenden der Internate. 

„Solange Leonard Peltier nicht frei ist, sind wir nicht frei!“ – über Jahrzehnte war dieser Ruf zu hören. Ich erinnere mich, wie der Filmemacher Michael Moore diese Worte 2012 bei einem unvergesslichen Konzert mit Harry Belafonte und Pete Seeger im Bacon Theatre in New York City ins Mikrophon rief. Leonards „Freiheit“ kommt zu einem Zeitpunkt, an dem die Freiheit Aller auf dem Spiel steht.

 

 

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