Die vergessenen Minderheiten: Christen im Nahen Osten

Jan Diedrichsen schreibt in seiner Kolumne, dass es ohne ein klares Bekenntnis zu Toleranz und Gerechtigkeit keinen dauerhaften Frieden im Nahen Osten geben kann. Wachsamkeit sei dabei keine Schwäche, sondern eine Notwendigkeit, um langfristige Stabilität zu gewährleisten. Dabei appelliert er an die internationale Gemeinschaft und Europas Vorreiterrolle.

Von James (Jim) Gordon - originally posted to Flickr as Assyrian Christian Church, Erbil, Iraqi Kurdistan, CC BY 2.0,

Von Jan Diedrichsen

Die Situation der Christinnen und Christen im Nahen Osten hat sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verschlechtert. Die Wiege des Christentums, Heimat von Gemeinschaften wie den Chaldäern, Aramäern und assyrischen Christen, erlebt systematische Vertreibung und Zerstörung. Konflikte, religiöser Extremismus und politische Instabilität haben ihre Zahl in Ländern wie Syrien, dem Irak und Libanon dramatisch schrumpfen lassen. Allein in Syrien ist die christliche Bevölkerung von rund zehn Prozent vor dem Bürgerkrieg auf unter zwei Prozent geschrumpft.

Diese Gemeinschaften, die jahrhundertelang fester Bestandteil der regionalen Gesellschaften waren, kämpfen um ihr Überleben. Die Rückkehr in ihre Heimatregionen wie Mossul oder die Ninive-Ebene bleibt für viele ungewiss. Selbst dort, wo der sogenannte Islamische Staat militärisch besiegt wurde, sind die Ruinen jahrtausendealter christlicher Kulturen stumme Zeugen eines schwer fassbaren Verlustes. Es braucht mehr als symbolische Solidarität – es braucht konkrete internationale Garantien, dass die Rechte dieser Minderheiten in Zukunft geschützt werden.

Doch es sind nicht nur die Christinnen und Christen, deren Leid oft übersehen wird. Die Jesidinnen und Jesiden haben eines der dunkelsten Kapitel moderner Religionsverfolgung erlebt. Der Völkermord durch den Islamischen Staat im Jahr 2014 hat tiefe Wunden hinterlassen. Tausende Männer wurden ermordet, Frauen vergewaltigt und versklavt, Kinder verschleppt. Bis heute leben viele Jesiden in Flüchtlingslagern, ihre Heimat im Nordirak ist zerstört und die internationale Gemeinschaft hat es versäumt, ihnen angemessen zu helfen.

Wie die Schriftstellerin Ronya Othmann in ihrem Buch „Vierundsiebzig“ eindrucksvoll beschreibt, ist das Leid der Jesidinnen und Jesiden nicht nur eine Mahnung, sondern auch ein Aufruf zum Handeln. In einer aktuellen Kolumne in der FAZ („Warum wir nicht jubeln“) betont Othmann, wie wichtig es ist, die Geschichten dieser Menschen zu hören und ihnen Gehör zu verschaffen. Die Stimmen der Betroffenen dürfen nicht ungehört verhallen, denn sie tragen Erfahrungen mit sich, die wir im Westen oft ignorieren.

Die Wurzeln der Verfolgung liegen in religiösem Extremismus und politischem Kalkül. Der politische Islam in seinen radikalen Ausprägungen bedroht nicht nur Minderheiten im Nahen Osten, sondern auch die Grundlagen demokratischer Gesellschaften. Er ist eine ideologische Bewegung, die keine Toleranz gegenüber Andersgläubigen kennt. Diese Tatsache wird im Westen immer noch relativiert – eine gefährliche Fehleinschätzung, die letztlich uns selbst bedroht.

Die Lehren aus den Verbrechen des Islamischen Staates sollten uns mahnen: Ohne ein klares Bekenntnis zu Toleranz und Gerechtigkeit wird es keinen dauerhaften Frieden geben. Wachsamkeit ist keine Schwäche, sondern eine Notwendigkeit, um langfristige Stabilität zu gewährleisten – in Syrien und darüber hinaus.

Die internationale Gemeinschaft muss klare Standards setzen. Kein Regime, das Minderheiten unterdrückt, darf auf internationale Anerkennung hoffen. Der Schutz religiöser und ethnischer Vielfalt muss zur Voraussetzung jeder politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit werden. Europa muss mit gutem Beispiel vorangehen.

Europa selbst ist nicht frei von Verantwortung. Die anhaltende Relativierung des politischen Islam gefährdet den Säkularismus und die demokratische Grundordnung. Toleranz darf kein Deckmantel für Intoleranz gegenüber Minderheiten, Frauen, Andersgläubigen oder Andersdenkenden sein. Die Trennung von Religion und Staat ist eine der großen Errungenschaften Europas, die es zu verteidigen gilt.

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