Erdoğans Spiel mit dem kurdischen Trauma

In seiner Kolumne bietet Jan Diedrichsen eine hintergründige Einordnung des Konfliktes zwischen türkischer Regierung und kurdischem Volk. Er schreibt, dass die türkische Regierung unterdrückende Machtpolitik unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung betreibt.

Erschienen als Kolumne VOICES – MINDERHEITEN WELTWEIT im „Der Nordschleswiger“

Von Jan Diedrichsen

Seit Jahrzehnten behandelt der türkische Staat das kurdische Volk wie einen inneren Feind. Präsident Erdoğan nutzt die „kurdische Frage“ inzwischen als strategisches Druckmittel – weniger zur Lösung, mehr zur Festigung seiner Macht. Für ihn scheint jeder Ruf nach Autonomie wie eine Bedrohung der nationalen Einheit. Seine Antwort darauf: Unterdrückung und gezielte Repression. Dieses Kalkül vertieft den Konflikt und destabilisiert die gesamte Region.

Der türkische Kampf gegen die PKK, die von der Türkei und vielen anderen Ländern als Terrororganisation verurteilt wird, bildet den Rahmen. Doch die PKK-Terrorakte und ihr bewaffneter Kampf lösen weder das Problem noch heilen sie die Wunden auf beiden Seiten. Wer Gewalt gegen Gewalt setzt, verlängert nur die Spirale des Leids. Dennoch kann dieser jahrzehntelange, blutige Konflikt nicht als Deckmantel dienen, um die berechtigten Interessen der Kurdinnen und Kurden auf Autonomie und Gleichberechtigung zu ignorieren.

Die türkische Führung sieht in den Kurden pauschal eine Bedrohung, statt sich auf eine echte Lösung des Konflikts einzulassen. Besonders perfide wird das, wenn die Regierung unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung ganze kurdische Gebiete militärisch bedrängt, ihre Bewohner entrechtet und vertreibt. Hier wird Terror instrumentalisiert, um unterdrückende Machtpolitik zu rechtfertigen.

Erdoğan ist nicht allein in diesem Spiel. Sein nationalistischer Verbündeter Devlet Bahçeli von der MHP, traditionell ein Hardliner in der Kurdenfrage, schlug jüngst vor, den inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan ins Parlament zu bringen – angeblich, um über die Auflösung der PKK zu sprechen. Dies ist jedoch alles andere als ein Friedensangebot: Es ist eine Falle, eine zynische Show. Ziel ist es, die kurdische Bewegung zu schwächen, zu spalten und den Schein von „Dialog“ zu wahren. Frieden? Ein Nebelwort in diesem Kontext.

Auch international brodelt es. Sollte die US-Armee Syrien verlassen, könnten die dort aktiven kurdischen Gruppen zum nächsten Ziel der Türkei werden. In Syrien kämpfen die Kurden der YPG, die mit der PKK in Verbindung stehen, gegen den IS und für ihre Autonomie. Ein militärisches Eingreifen der Türkei gegen die YPG würde das Chaos in Syrien weiter anheizen und der Region den letzten Rest Stabilität nehmen.

Die Lösung der kurdischen Frage erfordert mehr als Machtdemonstrationen: Es braucht politischen Mut, Respekt und die Bereitschaft, kurdische Rechte anzuerkennen. Doch Erdoğan verfolgt eine andere Agenda. Und die internationale Gemeinschaft? Sie schaut weg. Besonders die EU, die gern für Menschenrechte eintritt, bleibt erstaunlich leise. Zwar verurteilt sie die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei rhetorisch, doch klare Konsequenzen fehlen. Strategische Interessen und die Angst vor einer diplomatischen Krise überwiegen.

Solange Europa hier keine klare Linie bezieht, bleibt Erdoğans Repressionspolitik ungehemmt. Die Leidtragenden sind Millionen Menschen, die – von Terroristen wie Hardlinern gleichermaßen missbraucht – in einem Strudel aus Gewalt und Unterdrückung feststecken.

Das kurdische Volk

Mit einer Bevölkerung von 30 bis 40 Millionen Menschen weltweit stellen die Kurden die größte ethnische Gruppe ohne eigenen Staat dar. Sie leben vor allem in der Türkei mit etwa 15 Millionen, im Iran mit rund 10 Millionen, im Irak mit etwa 8 Millionen und in Syrien mit rund 2 Millionen. Zudem gibt es eine große kurdische Diaspora in Europa. Ihre Sprache gehört zur indoiranischen Sprachfamilie und umfasst mehrere Hauptdialekte wie Kurmandschi, Sorani und Zaza-Gorani. Religiös sind die Kurden mehrheitlich sunnitische Muslime, wobei es auch bedeutsame Minderheiten gibt, darunter Aleviten, Schiiten, Jesiden und Christen.

Die kurdische Autonomiefrage hat historische Wurzeln: Nach dem Ersten Weltkrieg sah der Vertrag von Sèvres (1920) eine Autonomie für die Kurden vor. Diese Zusage wurde jedoch 1923 im Vertrag von Lausanne zurückgenommen, was die Aufteilung der Kurden auf mehrere Nationalstaaten besiegelte. Seitdem streben die Kurden in verschiedenen Ländern nach Autonomie und politischen Rechten. Im Irak besteht heute eine autonome Region Kurdistan mit einer eigenen Regionalregierung. In der Türkei, im Iran und in Syrien werden vergleichbare Bestrebungen jedoch stark unterdrückt.

Unter den politischen Organisationen, die sich für die kurdischen Rechte einsetzen, nimmt die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) eine zentrale Rolle ein. 1978 gegründet, wird sie von der Türkei, der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft. Seit den 1980er Jahren führt die PKK einen bewaffneten Konflikt gegen den türkischen Staat. Die Gewalt der PKK wird scharf verurteilt, da sie das Leid vertieft und friedliche Lösungsansätze erschwert. In Syrien agiert die YPG (Volksverteidigungseinheiten) als kurdische Miliz und kämpfte im syrischen Bürgerkrieg gegen den IS. Die YPG ist mit der PKK verbunden.

Der anhaltende Konflikt zwischen kurdischen Gruppen und den Regierungen der Türkei, des Irans, des Iraks und Syriens belastet die gesamte Region und führt regelmäßig zu militärischen Auseinandersetzungen sowie Menschenrechtsverletzungen. Westliche Staaten unterstützen einige kurdische Gruppen wie die YPG in ihrem Kampf gegen den IS, doch bleiben sie hinsichtlich der kurdischen Autonomiebewegungen zurückhaltend, um die diplomatischen Beziehungen zur Türkei und anderen Staaten der Region nicht zu gefährden.

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