Armenien – und wie weiter?

Nach der genozidalen Aushungerung der Bevölkerung von Berg-Karabach, gefolgt von der militärischen Rückeroberung der Region im September 2023 und der Vertreibung fast der gesamten Bevölkerung registrierten die Behörden der Republik Armenien innerhalb nur weniger Tage 100.800 Flüchtlinge. Russland nahm 6.400 Vertriebene auf. Für das kleine Armenien (29.800 qkm) stellen die Vertriebenen eine erhebliche soziale und politische Herausforderung dar. Es fehlt an Arbeitsplätzen. Wohnraum wird nur an jene vergeben, die die armenische Staatszugehörigkeit annehmen, wovor jedoch die meisten zurückschrecken, um nicht ihre Ansprüche auf Rückkehr und Wiedergutmachung zu verlieren.

Demonstranten ketten sich symbolisch vor dem Gebäude des Untersuchungsausschusses aneinander (Foto: "Tawusch für die Heimat", 4. Juni 2024)

Demonstranten ketten sich symbolisch vor dem Gebäude des Untersuchungsausschusses aneinander (Foto: "Tawusch für die Heimat", 4. Juni 2024)

Von Tessa Hofmann

Die Niederlage der De Facto-Republik Arzach im Zweiten Karabachkrieg (Herbst 2020) endete mit einem von Russland vermittelten Waffenstillstand. Bei den daran anschließenden bilateralen Friedensverhandlungen zwischen dem Sieger Aserbaidschan und der Republik Armenien geht es nicht mehr um Bergkarabach, das nach der Vertreibung seiner indigenen Bevölkerung „armenierfrei“ ist. Das Rückkehrrecht für die Vertriebenen bleibt ungeklärt; sie würden ohnehin nur unter der Voraussetzung armenischer Selbstbestimmung sowie überzeugender Sicherheitsgarantien zurückkehren. Aserbaidschan hat umgehend mit der Wiederbesiedlung der Region begonnen.

Im Mittelpunkt der armenisch-aserbaidschanischen Verhandlungen stehen derzeit der Bau der „neuen Verkehrsverbindungen zwischen der Autonomen Republik Nachitschewan sowie den westlichen Gebieten Aserbaidschans“ und Grenzziehungsfragen. Die Einrichtung eines Verkehrskorridors wurde im trilateralen Waffenstillstandsabkommen vom 10. November 2020 festgeschrieben. Der dafür vorgesehene armenische Landstreifen ist nur 34 Kilometer breit. In Armenien besteht die Befürchtung, dass Aserbaidschan auch die südöstliche Provinz Sjunik erobern oder dank des Verkehrskorridors zumindest teilweise vom Rest der Republik abschneiden könnte, zumal es auch in Sjunik, wie in Bergkarabach, Bodenschätze gibt. Iran hat angeboten, die Verbindungsroute nach Nachitschewan alternativ durch sein Staatsgebiet zu führen. 

Die Grenzziehung zwischen Armenien und Aserbaidschan wird durch Gebietseroberungen während der beiden Karabachkriege (1991-1994, 2020) und der zahlreichen Militärangriffe Aserbaidschans auf die Republik Armenien seit 2012 erschwert. Im Verlauf dieser Kriege gerieten im Grenzgebiet armenische und aserbaidschanische Siedlungen unter die Kontrolle des jeweils anderen Staates. Anfang Juni 2024 entschied die armenische Regierung gegen den Protest der armenischen Bevölkerung die Rückgabe von vier vormals aserbaidschanischen Dörfern, die 1992 unter armenische Kontrolle gekommen waren, ohne hierfür Gegenleistungen Aserbaidschans zu erhalten,

Wiederholte Beschießungen des gemeinsamen Grenzgebiets durch aserbaidschanisches Militär, zuletzt im Februar 2024 mit vier armenischen Todesopfern, erschweren die Friedensverhandlungen zusätzlich. Hinzukommen massive innenpolitische Spannungen in Armenien. Nachdem Ministerpräsident Paschinjan vier unbewohnte Dörfer in der nordöstlichen armenischen Grenzprovinz Tawusch ohne aserbaidschanische Gegenleistungen und ohne Referendum an Aserbaidschan abgetreten hat, brachen Proteste aus, die vom dortigen Erzbischof Bagrat Galstanjan angeführt werden. Die fraglichen Dörfer waren im Ersten Karabach-Krieg unter armenische Kontrolle gekommen. Aserbaidschan seinerseits hält seit den 1990er Jahren 240 qkm Territorium der Republik Armenien in deren Grenzprovinzen Sjunik, Wajoz Dsor, Gegharkunik und Tawusch sowie die Exklave Arzwaschen besetzt.

Besonders von aserbaidschanischen Angriffen betroffen ist die Ostgrenze der Republik Armenien, teilweise auch die Grenze zur Exklave Nachitschewan. Die Verhältnisse ähneln denen in der weitgehend von Aserbaidschan abgeriegelten Republik Arzach seit Ende 2020: Armenische Bauern in den Grenzgebieten werden häufig beschossen und ihr Vieh gestohlen. „Entlang der neuerdings militarisierten Ostgrenze Armeniens haben verängstigte Dorfbewohner die Nutzung einiger Flächen eingestellt, die sie zuvor als Acker- oder Weideland genutzt hatten. In den letzten zwei Jahren [seit dem Waffenstillstand vom 10.11.2020; TH] kam es immer wieder zu Schießereien und Viehdiebstählen, von denen einige durch russische Vermittlung gelöst werden konnten, andere nicht. Die Kapazitäten der armenischen Regierung und des Militärs werden weitgehend als ineffektiv und entmutigend angesehen.“ Aserbaidschanische Streitkräfte entführen, foltern, vergewaltigen, exekutieren und lassen armenische Zivilisten in den Grenzregionen „gewaltsam verschwinden“.  Aus Angst um ihre Sicherheit haben viele armenische Dorfbewohner die Nutzung ihrer Äcker und Weiden aufgegeben, andere sind dauerhaft weggezogen.

Aserbaidschan hat seine Truppen nicht aus dem international anerkannten armenischen Hoheitsgebiet abgezogen, obwohl das Europäische Parlament, die Vereinigten Staaten und Frankreich dies gefordert hatten. Es handelt sich um Gebiete, die überwiegend während aserbaidschanischer Militärangriffe auf die Republik Armenien unter aserbaidschanische Kontrolle bzw. Besatzung gerieten: während des „Osterkrieges“ (2.-5. April 2016) mit etwa 800 Hektar (8 qkm)  Gebietsverlust auf armenischer Seite (lt. dem damaligen Präsidenten Serge Sargsjan); Juli 2020, 12. Mai 2021 (215 qkm), 12. September 2022 (50 qkm Gebietsverlust lt. armenischem Verteidigungsministerium). Mit Unterzeichnung des Waffenstillstands von 2020 erlangte Aserbaidschan zudem die Kontrolle über den östlichen und größeren Teil der Goldmine von Sotk (geschätzte Reserven: 120 Tonnen), was im November 2020 durch den Einmarsch von aserbaidschanischen und russischen Truppen realisiert wurde. Die Mine befindet sich seit September 2007 im Besitz der russischen Firma GeoProMining.

Aserbaidschan, das selbst so beharrlich an den Landesgrenzen Armeniens „knabbert“, wirft dem dreifach kleineren Land vor, Territorialansprüche gegen seine Nachbarn Türkei und Aserbaidschan zu erheben und fordert eine entsprechende Verfassungsänderung in Armenien. Die derzeitige armenische Verfassung, die in den Tagen der irredentistischen Karabachbewegung 1991 formuliert wurde, sieht die Vereinigung der Republik Armenien mit Bergkarabach sowie die Anerkennung des osmanischen Völkermords von 1915/6 als Genozid durch die Republik Türkei als Verfassungsziele vor. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew forderte Armenien im Januar und erneut im April 2024 auf, das von den gesetzgebenden Organen Sowjetarmeniens und des damaligen Autonomen Gebiets Berg-Karabach verabschiedete Vereinigungsgesetz aus seiner Verfassung zu streichen.

Gefährdete Demokratie

Seit die Republik Armenien sich nach dem Zweiten Karabachkrieg und vor allem nach dem aserbaidschanischen Angriff auf die Republik Armenien von 2022 zunehmend prowestlich orientierte bzw. mit seiner vermeintlichen Schutzmacht und vormaligem strategischen Partner zu überwerfen begann, wird es im Westen als südkaukasische Demokratie gelistet. Doch die Niederlage von 2020 und die Rückeroberung Arzachs durch Aserbaidschan haben Armenien in eine anhaltende innenpolitische Krise gestürzt. Die Gesellschaft ist tief in Anhänger und Kritiker des Regierungschefs Nikol Paschinjan gespalten, dem letztere eine zu nachgiebige Haltung und vor allem Verrat an Arzach vorwerfen. Mitte Mai 2024 forderten erneut Tausende Demonstranten Paschinjans Rücktritt. Die Generalstaatsanwaltschaft prüft einen Klageantrag wegen Landesverrats.

Unter dem Slogan „Armenisch. Armenien. Heimat. Gott“ hat sich eine neue Protestbewegung „Tawusch-Bewegung für die Heimat“ formiert. Ihr Anführer, Erzbischof Bagrat Galstanjan, war lange in Kanada tätig. Er fordert den Rücktritt Paschinjans und schlägt eine Übergangsregierung vor, deren Angehörige bei den folgenden außerordentlichen Wahlen nicht kandidieren werden. Diese Ankündigung erfolgte im Vorfeld einer Großkundgebung, die für Sonntag, den 9. Juni 2024, um 18.30 Uhr Ortszeit auf dem Jerewaner Platz der Republik geplant ist.

Während der täglichen Abschlussveranstaltung am 4. Juni, die jeden Abend nach den Straßenprotesten im Hof der St. Anna-Kirche in Jerewan stattfindet, erläuterte Galstanjan die Aufgaben der Übergangsregierung: Sie werde einer umfassenden Versöhnungsagenda auf allen gesellschaftlichen Ebenen Vorrang einräumen, um Einheit und Heilung zu fördern. Darüber hinaus soll sie die internationalen Beziehungen regeln und die aktuelle geopolitische Lage beurteilen, um sicherzustellen, dass Armenien inmitten der globalen Dynamik seinen Kurs beibehält. 

Die Regierung Paschinjans, der 2008 und 2018 selbst den Bürgerprotest auf die Straßen getragen hatte, reagierte mit Polizeigewalt, vorübergehenden Festnahmen von 27 Demonstranten am 31. Mai und Diffamierungen auf die Tawusch-Bewegung. Erzbischof Galstanjan wurde unterstellt, ein bezahlter Agent Russlands zu. Diese Unterstellungen wurden inzwischen mehrfach entkräftet: durch den unabhängigen Journalisten Dawit Lewonjan, vom Nationalen Sicherheitsdienst Armeniens im Verlauf einer einmonatigen Untersuchung sowie durch die armenische Generalstaatsanwaltschaft, die ebenfalls keine Beweise gegen Galstanjan fand. Studierenden, die sich mit einem Streik an der Tawusch-Bewegung beteiligen wollten, wurde angedroht, sie würden die Folgen beim Examen spüren.

Galstanyan und andere Teilnehmer der Bewegung „Tawusch für die Heimat“ besuchten inzwischen eine Reihe wichtiger Institutionen, um ihren Widerstand gegen die armenische Regierungspolitik zu erläutern, darunter das Büro der Menschenrechtsverteidigerin, das Außenministerium und das Regierungsgebäude während einer Sitzung.

Von der Menschenrechtsverteidigerin forderten die Demonstranten am 4. Juni Rechenschaft über den Einsatz brutaler Polizeigewalt gegen Demonstranten. Sie stellten insbesondere die Bewertung mehrerer Vorfälle durch das Menschenrechts-Büro in Frage: den sichtbaren Abdruck des Schuhs eines Polizisten im Gesicht eines jungen Mannes, den Versuch, den Zugang Seiner Heiligkeit, des Katholikos Garegin II. zur Sardarapat-Gedenkstätte am Tag der Republik zu behindern, und die Polizeigewalt gegen den Abgeordneten Aschot Simonjan. Die Demonstranten forderten, diese Menschenrechtsverletzungen mit mehr Nachdruck anzusprechen.

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