Interview mit Dolkun Isa: Im Schatten des Terrors

Trotz Menschenrechtsverletzungen und Kriegsdrohungen finden die Olympischen Winterspielen in Peking statt. Spiele zu Ehren des Regimes, das die Teilnehmenden einer lückenlosen Kontrolle unterwirft.

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Trotz Menschenrechtsverletzungen und Kriegsdrohungen finden die Olympischen Winterspielen in Peking statt. Spiele zu Ehren des Regimes, das die Teilnehmenden einer lückenlosen Kontrolle unterwirft. Dieser Art von Herrschaft ist ein Großteil der Menschen unterworfen, besonders hart betroffen sind die Bürger von Hongkong, die Tibeter in ihrer aufgelösten Region und die Uiguren, sagt Dolkun Isa im Gespräch mit Thomas Benedikter.

Benedikter: Laut einem Report der Uigurin Abdulaheb werden in dieser Region mehr als 1.000 Internierungslager betrieben. Wie schlimm ist es dort?

Dolkun Isa: Die Lage ist aber von Lager zu Lager unterschiedlich, in einigen dieser Lager werden 20-30 Menschen in einem Raum zusammengepfercht mit einer einzigen Toilette für alle. Geschlafen wird auf dem Betonboden. Die Hygiene ist miserabel, die Verpflegung unzureichend. Die Lagerbewohner werden zur Arbeit gezwungen, viele sterben wegen fehlender medizinischer Versorgung. Geständnissen werden erpresst, um Fehlverhalten zuzugeben und Besserung zu geloben.

Was passiert derzeit in Ostturkestan?

Dolkun Isa: Ostturkestan ist heute ein Freiluftgefängnis für über 10 Millionen Menschen. Hier ist ein Polizei- und Überwachungsstaat eingerichtet worden. Die Menschen werden auf höchstem technologischem Niveau überwacht, nicht nur mit Tausenden von Videokameras und Polizei-Checkpoints. Auch Mobilfunk und Internet, soziale und sonstige Medien werden systematisch kontrolliert. Das neueste Überwachungsinstrument sind die Gesichtserkennungskameras, die nicht nur die Identität, sondern auch den emotionalen Zustand einer Person erfassen können. Ostturkestan wird als Testgelände für neue Überwachungsmethoden genutzt, die später in Drittländern exportiert werden sollen. In Tibet ist seit 2011 ein feinmaschiges Netz an Polizeicheckpoints eingerichtet worden.

In China ist es gesetzlich vorgesehen, dass in autonomen Regionen, Präfekturen und Kreisen der Gouverneur ein Angehöriger der Titularnation dieses Territoriums sein muss. Welche Bedeutung hat diese Regelung?

Dolkun Isa: Gemäß Rahmengesetz zur regionalen Autonomie muss der Gouverneur der „autonomen“ Region Xinjiang ein Uigure sein, doch geht es hier immer um Uiguren, die vom Politbüro der KP von Xinjiang ausgesucht und dann von Peking nominiert werden. Bevor diese Person ernannt wird, untersucht der chinesische Sicherheitsdienst genauestens seinen privaten Hintergrund und zwar vier bis fünf Generationen zurück. Wenn in der Verwandtschaft irgendeine Person aufgespürt wird, die nicht systemkonform war, hat der Kandidat keine Chance.

Nach dem 11.9.2001 nutzte China die Terroranschläge und einige Gewaltakte von Widerständlern in Ostturkestan systematisch als Vorwand für die flächendeckende Repression in der XUAR. Doch gab es beim uigurischen Volk jemals eine breite Bewegung für die Selbstbestimmung? Gab es sowas wie eine Befreiungsfront Ostturkestans?

Dolkun Isa: In den 1980er Jahren war der Protest der Uiguren fast immer friedlich verlaufen. Zu meinen Universitätszeiten von 1984 bis 1988 konnten wir uns frei versammeln und diskutieren. Später 1988 organisierten wir eine Kundgebung mit 15-20.000 Teilnehmern, um mehr Autonomie, das Ende der Atombombentest in Lop Nor und das Ende der systematischen Ansiedlung von Han-Chinesen in unserem Land zu fordern. Wir verlangten auch demokratische Wahlen, aber all das in Einklang mit dem Recht des uigurischen Volks auf Autonomie auf der Grundlage der chinesischen Verfassung. 1989 schränkte China den Spielraum für freie Meinungsäußerung scharf ein und entsandte Militär nach Ostturkestan, um diese Demonstrationen niederzuschlagen. Bei diesen ersten Aufständen in den 1990er Jahren kamen 8000 Menschen meist aus der Zivilbevölkerung um Leben. So z.B. 1997 in Ghulja, wo bei friedlichen Demonstrationen für Religionsfreiheit 300 Menschen getötet wurden, wie Amnesty International berichtete. China machte dafür nicht nur angebliche Terrorgruppen verantwortlich, sondern attackierte direkt die Religionsgemeinschaften Ostturkestans.

Wie entwickelt sich die Familienplanung in Xinjiang?

Dolkun Isa: Bis 1984 wurde in Ostturkestan die Ein-Kind-Politik betrieben, wobei für Angehörige der Minderheitenvölker zwei Kinder erlaubt waren. Doch dies wurde sehr restriktiv gehandhabt. Die Familien der nationalen Minderheiten durften zwar ein weiteres Kind bekommen, mussten nach dem ersten Kind aber drei Jahre warten. Die Behörden bestraften nicht nur Familien, die sich damit nicht abfinden wollten, sondern betrieben nachweislich Zwangssterilisierungen, offen und geheim. Kein Wunder, dass einige Büros der Familienplanungsbehörde von verärgerten Menschen angegriffen worden sind.

Gab es Protest auch gegen die kontinuierliche Zuwanderung von Han-Chinesen nach Ostturkestan?

Dolkun Isa: Der Stopp dieses Bevölkerungstransfers von China nach Ostturkestan ist uns Uiguren schon seit 1985 ein wichtiges Anliegen. Die Regierung begründete diese Politik damit, dass die XUAR ein großes Territorium, aber eine geringe Bevölkerung habe und deshalb zusätzliche Bewohner aufnehmen könne. Damals wie heute galt für uns Minderheiten die 2-Kind-Beschränkung. So antworteten wir: wenn unser Land mehr Bevölkerung braucht, warum erlaubt ihr nicht uns und anderen Minderheiten, größere Familien zu haben? Das empörte die Bevölkerung überaus. Die KPCh betreibt in Ostturkestan eine Politik, die darauf abzielt, die Uiguren im eigenen Land in eine Minderheit zu verwandeln. 1949, als die Rote Armee in Ostturkestan einmarschierte, gab es hier erst 4-5% Han-Chinesen, einschließlich der chinesischen Sicherheitskräfte. Heute besteht laut offiziellen Statistiken die Bevölkerung zu mehr als 40% aus Han-Chinesen. Man weiß, wie wenig zuverlässig chinesische Statistiken sind, doch in diesem Fall tendieren die Daten eher zu einer Unterschätzung der realen Zustände.

Betrachtet man den Umfang der autonomen Zuständigkeiten der Region so ist diese Autonomie auf dem Papier ziemlich umfangreich und umfasst auch das Bildungswesen, die Kultur- und Sprachenpolitik, die Hochschule und Forschungseinrichtungen. Ist die uigurische Sprache denn immer noch der chinesischen Sprache als allgemeine Amtssprache Ostturkestans gleichgestellt?

Dolkun Isa: Gemäß chinesischem Gesetz ist Uigurisch immer noch Amtssprache. Sogar auf den chinesischen Yuan-Banknoten scheint unsere Sprache zusammen mit den anderen Sprachen der autonomen Regionen auf. Bis zum Beginn der 1990er Jahre war die uigurische Sprache gleichberechtigt mit der Staatssprache und konnte vor allen Behörden und Gerichten verwendet werden. Uiguren hatten sogar das Recht auf einen Dolmetscher, wenn sie des Chinesischen nicht mächtig waren. Seit 1990 ist die Bedeutung des Uigurischen Schritt für Schritt beschnitten worden.

Seit 2006 wird Uigurisch nicht einmal mehr als Unterrichtssprache verwendet, sondern bildet nur ein Schulfach mit wenigen Stunden zwei Mal in der Woche. Sogar im Kindergarten ist das so. An den Universitäten haben uigurische Studenten nun im ersten Jahr nur Chinesisch zu lernen und im eigentlichen Studium ist nur mehr Chinesisch als Lehrsprache erlaubt. Sogar uigurische Professoren müssen jetzt uigurische Studenten auf Chinesisch unterrichten. Das widerspricht selbst dem chinesischen Verfassungsrecht.

Welche rechtlichen Beschwerdemöglichkeiten haben die Uiguren in solchen Fällen?

Dolkun Isa: Der Präsident des Höchstgerichts muss ein Mitglied der KPCh sein und das ist schon sehr vielsagend über seine Unabhängigkeit. Auch in der Justiz gibt es die besagte Doppelbesetzung der Spitzenpositionen: zum einen der Gerichtspräsident, zum andern der beauftragte Parteifunktionär. So funktioniert das System. Letztendlich liegt die Entscheidung immer wieder bei der KPCh.

Können wir uns eine echte Territorialautonomie im Rahmen eines autoritären Staats mit Ein-parteien-Herrschaft wie eben in China vorstellen? Die tibetische Exilregierung hat eine „genuine Autonomie“ gefordert, doch ist dies im Rahmen von Chinas politischem Systemüberhaupt möglich??

Dolkun Isa: Die tibetische Exilregierung verlangt eine solche Autonomie auf der Grundlage des Prinzips „Ein Land – Zwei Systeme“. Dieser Vorschlag ist von Peking sofort abgelehnt worden. Wie in Tibet geschehen, hat die Rote Armee auch Ostturkestan erobert und besetzt, obwohl wir eine unabhängige Republik hatten. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist völlig missachtet worden. 1955 hat China die Einführung von Territorialautonomie in Xinjiang erlaubt. Bezüglich des Autonomievorschlags der tibetischen Exilregierung gab es mehrere Treffen zwischen chinesischen Regierungsvertretern und jenen der tibetischen Exilregierung, gemäß der Devise von Deng Xiao Ping „Wir können über alles diskutieren, nur nicht über die Unabhängigkeit.“ Chinas Vertreter trafen die Delegierten des Dalai Lama einige Jahre lang, doch 2006 wurde der ganze Prozess gestoppt.

Warum?

Dolkun Isa: China hat sich seit den 1980er Jahren der Welt und den globalen Märkten geöffnet, seine Wirtschaft ist dank des Exports enorm gewachsen. Damals benötigte es die gute Zusammenarbeit mit dem Westen, vor allem den Technologieimport. Nun ist China zur beinahe größten Wirtschaftsmacht aufgestiegen und braucht die westlichen Industrieländer nicht mehr im selben Ausmaß. So hat China die Maske abgenommen. Auf der anderen Seite ist der Rest der Welt jetzt interessiert, gute Beziehungen zu China zu pflegen, sich den chinesischen Markt offenzuhalten und von chinesischen Investitionen zu profitieren.

Hat Der WUC jemals einen ähnlichen Vorschlag für genuine Autonomie für Ostturkestan vorgelegt? Können Sie sich einen derartigen Kompromiss mit China vorstellen?

Dolkun Isa: Aufgrund der Erfahrungen der Tibeter hat unsere frühere Führung auch einen Dialog mit China gefordert, ausgehend vom Recht auf Selbstbestimmung. Im Europäischen Parlament haben wir 2010 eine große Konferenz zum Thema Selbstbestimmung abgehalten. Dann riefen wir die chinesische Regierung zum Dialog auf, doch hat Peking nie darauf geantwortet. Chinas Linien in Ostturkestan ist sehr klar: volle Assimilation, volle Kontrolle, keine echte Autonomie, über drei Millionen Uiguren in Umerziehungslagern, jede Art von Diskriminierung und Repression der Uiguren. Die offizielle Position des WUC ist die Forderung von Freiheit für das uigurische Volk mit friedlichen, gewaltfreien und demokratischen Mittel, um unsere politische Zukunft als uigurisches Volk frei zu gestalten zu können. Wir haben jegliches Vertrauen in den chinesischen Staat verloren. China hat versprochen, Autonomie zu gewähren, doch hat dieses Versprechen nie wirklich eingelöst. Die sog. XUAR besteht zwar, doch die gesamte Entscheidungsmacht liegt beim Staat und bei der kommunistischen Partei.

Ist die Entwicklung in Hong Kong ein weiterer Beweis dafür, dass das Prinzip „Ein Land – Zwei Systeme“ gar nicht funktioniert?

Dolkun Isa: Die jungen Demokratieaktivisten in Hong Kong haben immer wieder diese Spruchbänder ausgerollt: „Wenn wir heute nicht handeln, werden wir morgen wie Xinjiang leben.“ Doch China kümmert sich nicht darum und hat jetzt das neue Sicherheitsgesetz verabschiedet. Jetzt können wir ohne Zweifel feststellen: sogar in Hong Kong ist Autonomie jetzt Geschichte. Bis Xi Jin Ping an die Macht kam, hatte Hong Kong einige demokratische Institutionen, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, freie Medien und sogar teilweise demokratische Wahlen waren zugelassen. Dann hat Peking Schritt für Schritt seine Einmischung verstärkt. Das Parlament von Hong Kong ist jedenfalls nie völlig frei gewählt worden. Nun zieht China die Schlinge immer enger und kümmert sich nicht mehr so sehr um die internationale öffentliche Meinung.

 

Aus: 100 Jahre moderne Territorialautonomie – Autonomie weltweit | Politikwissenschaft | Publikationen | LIT Verlag (lit-verlag.de)

Dolkun Isa, 54, ist in Ostturkestan (Xinjiang) geboren und aufgewachsen. Als Universitätsstudent 1984-1988 wurde ihm das Ausmaß der Entrechtung seines Volkes, der Uiguren, bewusst, worauf er sich für mehr Demokratie und Gleichberechtigung engagierte. 1988 organisierte Isa eine große Studentenkundgebung in Urumqi, die von der Polizei gewaltsam aufgelöst wurde. Isa wurde aus der Universität ausgeschlossen und jahrelang verfolgt. 1994 floh er in die Türkei und beantragte 1996 politisches Asyl in Deutschland. Seit 2006 ist er deutscher Staatsbürger. Nach seiner Ankunft in Deutschland gründete Dolkun den Weltkongress der Uiguren (World Uyghur Congress), den Dachverband von 32 uigurischen Organisationen in 18 Ländern. 2017 wurde Dolkun Isa zum Präsidenten des WUC gewählt.

 

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