14-02-2022
Was will Putin?
Der russische Präsident hat sich im Juli 2021 als Historiker betätigt und eine Perspektive für die Ukraine entworfen. Die Ukraine als Teil Russlands, seine These. In seinem Aufsatz formuliert Putin klar, was er will.
Von Wolfgang Mayr
Die Plattform für einen unabhängigen russischen Journalismus, dekoder, analysierte den Aufsatz von Präsident Putin „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“. Er beschäftigt sich ausführlich mit der ukrainischen Geschichte. Sein Fazit: „In einem Ritt vom Mittelalter bis zur Gegenwart argumentiert er, dass es eigentlich kein ukrainisches Volk gebe – vielmehr seien Russen, Ukrainer und Belarussen Teil einer großen russischen Nation, eines dreieinigen Volkes“. Putin scheint verdrängt zu haben, welchen Leichenberg russische Nationalisten und Stalinisten – in Zusammenspiel mit den Nazis – in der Ukraine hinterlassen zu haben. Ein Volk?
Putin wirft ukrainischen Nationalisten vor, in Zusammenspiel mit europäischen Russland-Feinde eine künstliche ukrainische Nation konstruiert zu haben. Diese Front ist laut Putin seit einigen Jahren wieder aktiv, er nennt sie „Anti-Russland“. Diese Allianz aus ukrainischen Nationalisten und „Anti-Russen“ zettelte laut Putin einen „Bürgerkrieg“ in der Ost-Ukraine an, dem schon über 13.000 Menschen zum Opfer gefallen sind.
In der „Erzählung“ Putins heißt es weiter, Russland unternahm alles, „um den Brudermord zu stoppen.“ Die russische Politik ist darauf ausgerichtet, Millionen von Menschen in der Ukraine zu unterstützen, die sich gegen den Kurs der ukrainischen „Zwangsassimilation“ stellen. Putin vergleicht das wenig intelligente Sprachengesetz der Ukraine – das nach jahrzehntelanger verordneter Russifizierung die ukrainische Sprache bevorzugt – mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen, „ohne Übertreibung“, ergänzt Putin in seinem Aufsatz.
Professor Martin Schulze-Wessel greift auf der Seite „Ukraine verstehen“ ebenso den Essay über die historischen Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern von Wladimir Putin auf. Laut Schulze-Wessel ist für Putin Geschichte zur wichtigsten Machtressource geworden. Putin leitet aus der gemeinsamen Geschichte der beiden Völker in der mittelalterlichen Kyjiwer Rus in Schwarz-Weiß-Manier ab, dass Russen und Ukrainer über die Jahrhunderte hinweg in einem „spirituellen Raum“ lebten und bis heute ein Volk bilden
Für Professor Schulze-Wessel ist die Funktion des Textes eindeutig: „Er enthält eine unverhüllte Drohung an die Ukraine und warnt Kyjiw vor der Verbindung mit den westlichen Staaten, die Putin als systematische Feinde der Einheit von Russen und Ukrainern darstellt. Ein ukrainischer Staat als eigenständiger Akteur der internationalen Politik kommt für Putin nur in enger Verbindung mit Russland in Frage. Ein apokalyptisches Szenario zeichnet er für den – ohne tatsächliche Grundlage angenommenen – Fall einer erzwungenen Assimilation der in der Ukraine lebenden Russen“.
Niemand in Brüssel, in Berlin oder in einer anderen westlichen Hauptstadt, schien sich die Mühe gemacht zu machen, den Aufsatz von Putin zu lesen. Er machte darin recht ungeniert klar und deutlich, was er will. Rätselraten ist nicht angesagt, sondern zur Kenntnis zu nehmen, dass Putin nicht der „lupenreine Demokrat“ ist, wie ihn der ehemalige sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder bewundernd bezeichnet.
Was will Putin? Professor Schulze-Wessel gibt die Antwort: „Man kann den Text als Ankündigung einer weiteren militärischen Aggression gegen die Ukraine lesen. Wie bei der Annexion der Krim könnte der Hinweis auf die Schutzbedürftigkeit der in der Ukraine lebenden Russen als Legitimation für eine künftige Intervention dienen. Die Mythen vom spirituellen Raum und die angedeutete Dystopie der Massenvernichtung sind eingebettet in einen historischen Text, der bei allen darin vorkommenden Verfälschungen und Halbwahrheiten den Anspruch auf rationale Argumentation erhebt. Der Kreml hat auch eine englische Version des Essays verfasst, Putin wendet sich also auch an die globale Öffentlichkeit“.
Diese Öffentlichkeit kümmerte sich nicht darum und ist jetzt verwundert darüber, welche Politik Putin fährt. Der russische Präsident fühlt sich von der Nato bedroht, sein Argument für den seit Wochen laufenden Aufmarsch seiner Truppen an der ukrainischen Grenze. Deeskalierung schaut aus.
Die Plattform dekoder widerspricht in ihrer Anlayse Putin und seiner Anti-Nato-Phobie: „Für die NATO (und die EU) gilt: Jeder Staat ist frei, seine Bündnisse selbst zu wählen. Wer mit wem verbündet ist, liegt in der souveränen Entscheidung einzelner Staaten. Das ist die Grundbedingung der europäischen Sicherheitsordnung. Die russische Absicht: ein Ausdünnen der US-amerikanischen Präsenz in Europa und eine Neuaufteilung des Kontinents in Einflusszonen. Dies weist die Allianz strikt zurück“.
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