Was folgt auf die „Fünfte Sonne“?

In Mexiko wehren sich die Nachfahren der Ureinwohner widerständig gegen Diskriminierung und Ausbeutung

Von Wolfgang Mayr

Vergangenheit trifft auf Gegenwart. Die US-amerikanische Historikerin Camilla Townsend widmete 2019 ihr Buch „Fünfte Sonne“ der Geschichte der Azteken. Im Mittelpunkt stehen indigene Chronisten und ihre Betrachtung der spanischen Conquista: Eroberung, Vergewaltigungen, Massenmord, Vertreibungen und Enteignungen, die wesentliche Elemente der Inbesitznahme. Trotzdem wehrten sich die autochthonen Völker, richteten sich kreativ in der spanischen Kolonie ein.

Sie wehren sich noch immer, die Nachfahren der damaligen Eroberten. Der Congreso Nacional Indigena, eine den Zapatisten nahestehende indigene NGO, drängt auf eine Mexiko der indigenen Völker. Ihre soziale und wirtschaftliche Lage ist katastrophal, Sprachen und Kulturen sind gefährdet wie auch ihre Territorien. Die zapotekische Journalistin Roselia Chaca, Korrespondentin der Tageszeitung El Universal in Oaxaca, wirft dem mexikanischen Staat Linguizid vor. Der Erhalt und die Wiederbelebung der indigenen Sprachen zählt nicht zu den staatlichen bildungspolitischen Prioritäten.

Vor 700 Jahren wurde Tenochtitlán erbaut, vor 500 Jahren eroberte Hernán Cortés den Staat der Mexica. Hunderttausendfach tödlich waren die Krankheiten, die die spanischen Eroberer nach Mesoamerika einschleppten. Vor 200 Jahren wurden die spanischen Herrscher aus Mexiko vertrieben. Damals begann die alles durchdringende sprachliche Assimilierung und Zerstörung der indigenen Gemeinden. 

Und heute: Laut Roselia Chaca bedrängt der mexikanische Staat mit Großprojekten die indigenen Gemeinden. „Das indigene Erbe bedeutet in Mexiko auch heute noch vielfach Widerstand“, schreibt Chaca.

Camilla Townsend präsentierte mit „Fünfte Sonne“ eine neue Geschichte der Azteken. Sie stützte sich auf frühkoloniale Quellen zur Geschichte der Mexica, zur spanischen Eroberung und zur Etablierung des spanischen Kolonialregimes aus dem Blickwinkel Nahua-sprachiger Akteure. Townsend stellt die faszinierende, vielschichtige Geschichte der Azteken aus deren Perspektive dar. Unbemerkt von den spanischen Obrigkeiten nutzten die Azteken das lateinische Alphabet, um ihre Geschichte in ihrer Sprache Nahuatl aufzuschreiben. 

In ihrem Buch werden die Mexica zu Handelnden, zu Subjekten, sie waren nicht handlungsunfähige Objekte. Die Mexica kapitulierten nicht vor der spanischen Kultur und Kolonisierung, sondern richteten sich darin ein, ihre politischen Loyalitäten definierten sie um. Sie hielten durch, findet Townshend, das einst mächtige Volk litt unter dem Trauma der Eroberung und fand aber Wege zum Überleben.

Wege zum Überleben

Nach solchen Wegen suchen sie noch immer, die Nachfahren der Überlebenden der brutalen spanischen Konquista. 1820 warfen die Erben der spanischen Eroberer die kolonialistischen Statthalter aus dem Land. Aushängeschild war der hispanisierte indigenenstämmige Anwalt Benito Juarez, Zapoteke aus Oaxaca. 

Die humanitären und fortschrittsorientierten Liberalen von Juarez setzten den Prozess der alles durchdringen Hispanisierung durch, eine Ironie der Geschichte, schriebt Camilla Townshend. Es galt nur mehr die spanische Sprache.

Das unabhängige Mexiko nahm kaum mehr Rücksicht auf indigene Belange. Der liberale Juarez ließ den indigenen Gemeindebesitz auflösen, zugunsten des Privateigentums. Die Reste indigener Autonomie gerieten damit unter die Räder des entstehenden Kapitalismus. Die Elite presste die Landbevölkerung aus, fast hundert Jahre lang. 1910 trugen die Landarbeiter und die Klein-Bauern ihr Elend als Revolution in die mexikanischen Metropolen. 

Die Zapoteken Pancho Villa und Emiliano Zapata prägten den Aufstand, der zur indigenen Revolution wurde. Ihr Plan von Ayala skizzierte ein neues Mexiko, wie die Verteilung von Grund und Boden an die Bauern und die Rückkehr zum kollektiven Gemeindebesitz. Die Revolutionäre und die Revolution wurden verraten, die Institutionelle Revolutionäre Partei PRI korrumpierte Staat und Gesellschaft. Der mexikanische Staat und die Gesellschaft befinden sich in Geiselhaft der verschiedenen Kartelle, der organisierten Kriminalität und ihrer verbündeten Oligarchie. 

Die mexikanische Polit-Elite versteht sich als verlängerter Arm der Großgrundbesitzer, der katholischen Kirche, und kooperiert mit den Drogenkartellen und Frauenhändlern. Für die Konzerne der westlichen Welt ist Mexiko noch immer eine zu plündernde Goldgrube. Die bäuerliche Landbevölkerung, Leidtragende dieser Politik, geriet mit dem Nordamerikanischen Freihandelsvertrag (NAFTA) noch stärker unter Druck. 

Die neuen Zapatisten

Im Untergrund, abseits der Öffentlichkeit, formierte sich in Chiapas – dem ärmsten Bundesstaat – die indigene Protestbewegung ELZN. Am Tag des Inkrafttretens von NAFTA am 1. Januar 1994 besetzten tausende Anhänger der zapatistische ELZN mehrere Städte in Chiapas. Ein Beleg dafür, dass sich Indigene mit Vehemenz zurückgemeldet haben. Sie setzen auf Autonomie ihrer Gemeinden, auf eine indigene Politik abseits der Parteien. Den Wahlsieg des angeblichen Linken Andres M.L. Obrador 2018 kommentierten die Neo-Zapatisten mit einem Vergleich: Der Aufseher der Plantage mag wechseln, aber der Besitzer bleibt derselbe. Die EZLN sorgte auch in den anderen Bundesstaaten für eine indigene Renaissance. Vielerorts entstanden neue indigene Organisationen. Aus der EZLN ging der Congreso Nacional Indigena hervor, eine Dachorganisation der indigenen Autonomisten.

Diese neuen Bewegungen sind immer wieder im Visier der Narco-Mafia, der staatlichen „Sicherheitskräfte“ von Polizei bis Militär, zu erklärten Gegnern der autonomen Indigenen zählen auch Vertreter westlicher Konzerne.

12. Oktober – Globaler Aktionstag

Daran erinnerte der CNI in einem Aufruf am 12. Oktober. „Vor 531 Jahren, am 12. Oktober 1492, betrat Christoph Kolumbus nach langer Seefahrt die von ihm benannte Insel „Hispaniola“. Dieser Tag wird in Spanien als Beginn der „Conquista“ („Eroberung“) gefeiert und markiert den Beginn des Kolonialismus,“ heißt es in dem Aufruf. „Für Ureinwohner:innen Amerikas begann die Zeit des Widerstandes gegen die Unterdrückung, sie feiern diesen Tag als Tag der indigenen Würde und des Widerstandes.“

In diesem Jahr rief der Indigena-Kongress CNI zu einem globalen Aktionstag auf, gegen den Krieg gegen indigene Gemeinschaften weltweit und gegen den Neokolonialismus. Konzerne und willfährige, korrupte Regierungen kontrollieren den natürlichen Reichtum der Länder des globalen Südens, analysiert der Congreso. Dagegen wehren sich indigene Gemeinschaften, denn auf ihren Territorien befinden sich die begehrten Rohstoffe. 

Es scheint die die Conquista zu wiederholen und wie damals gibt es heute Widerstand von Indigenen. Die Asamblea Nacional por el Agua y la Vida (Versammlung für Wasser und Leben) und der CNI werfen Staatspräsidenten Andrés Manuel López Obrador vor, einen Ausverkauf des Landes zu betreiben. Er militarisiere das ganze Land, um „Projekte des Todes“ wie den Tren Maya, den Interozeanischen Industrie-Korridor, das Proyecto Integral von Morelos (ein gigantisches Energie-Projekt) und den internationalen Flughafen von Santa Lucía gegen den Widerstand der Bevölkerung durchsetzen zu können.

Fortgesetze Kolonialisierung

Im Geiste der Kolonialismus arbeiten das organisierte Verbrechen und die Paramilitärs gezielt mit den Streitkräften, der Guardia Nacional, der Bezirks- und Bundesstaaten-Polizei zusammen. Sie sind eine Art bewaffneter Arm eines kapitalistischen Narco-Staates.

Dieser bewaffnete Armt bekriegt zapatistische Dörfer und die EZLN, ist für das Massaker in Acteal verantwortlich, für die Morde und das Verschwindenlassen von Mitgliedern des CIPOG-EZ (Consejo Indígena y Popular de Guerrero-Emilano Zapata) und der Nahua-Comunidad von Santa María de Ostula, sowie von 43 jungen Männer von Ayotzinapa. Die bewaffneten Kräfte führen auch Krieg gegen Frauen, die vielfach Stützen und Rückgrat der indigenen Gemeinden sind.

Die Espacio de Coordinación Nacional Contra la Guerra (Koordinierung gegen den Krieg) und der CNI benennen den von den USA angeregten Kampf gegen die Narco-Mafia als einen Krieg gegen die Bevölkerung mit fast 154.000 Toten, fast 43.000 Verschwundenen, darunter 69 Journalist*innen und 94 Aktivist*innen indigener Dörfer und Umweltorganisationen. 

Der CNI spricht von einer fortwährenden militarisierten und verbrecherischen Rekolonisierung. 

Seit 30 Jahren operieren in Chiapas Bewaffnete straffrei gegen autonome indigene Dörfer. So hat die ORCAO (Organización Regional de Cafeticultores de Ocosingo) zwischen 2019 und 2023 mehr als hundert Mal zapatistische Dörfer angegriffen. Dörfer, schreibt der CNI, die für Widerstand und Rebellion stehen für das Leben und die Menschheit.

Ob die Präsidentschaftswahlen 2024 eine grundlegende Veränderung bringen, besonders auch für die indigenen Völker? Für die Obrador-Partei bewirbt sich Claudia Sheinbaum Pardo, für die Oppositionsparteien – ein Sammelsurium rechter und linker Parteien – Xóchitl Gálvez Ruiz, eine indigene Senatorin. Unter der äußerst rechten Regierung von Vincente Fox war Ruiz Leiterin des Nationalen Instituts für indigene Völker. Für beide Frauen, die sich mittelinks positionieren, ist die Lage der indigenen Völker Mexikos kein Thema.

Einmal mehr zeigt sich, dass linke lateinamerikanische Politikerinnen und Politiker in der Tradition der kolonialistischen Eroberer verharren. Xóchitl Gálvez Ruiz scheint in die Fußstapfen von Benito Juarez zu treten. 

Die mexikanische Politik verharrt in einer Blase, scheint gegenüber der organisierten Kriminalität und ihren Verbündeten in Wirtschaft und im Staatsapparat hilflos zu sein. Wegen der mafiösen Diktatur in Chiapas flüchten viele Angehörige indigener Völker nordwärts. Und nicht nur Chiapas verliert seine Menschen. Auch in den indigenen Regionen Zentral-Mexikos verlassen Indigene wegen der miserablen Lebensbedingungen – Armut, soziale und ethnische Unterdrückung, Perspektivenlosigkeit – ihre Heimat. Viele Nahua-Sprechende, die Nachfahren der Mexica und ihrer Nachbarn, zieht es in den Norden, in die USA. In die alte Heimat der Vorfahren, beschreibt Camilla Townshend in „Fünfte Sonne“ den Exodus.

Die „Fünfte Sonne“ brachte den Mexica, ihren Verwandten und den Unterworfenen ein neues Zeitalter, die Eroberung. Diese hält seit 500 Jahren an und steht für eine allumfassende Enteignung der Ureinwohner und ihrer Nachfahren. Eine „sechste Sonne“ scheint nicht in Sicht zu sein.

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