03-02-2022
Ukrainisches Säbelrasseln?
Der ehemalige sozialdemokratische Bundeskanzler und aktuell Aufsichtsratsvorsitzender der Nord Stream AG sowie des Gaskonzerns Rosneft, Gerhard Schröder, bezichtigt die Ukrainer der Kriegstreiberei. Schröder sieht Deutschland an der Seite Russlands.

2018 - FIFA. Автор: Kremlin.ru, CC BY 4.0,
Von Wolfgang Mayr
Der ehemalige sozialdemokratische Bundeskanzler und aktuell Aufsichtsratsvorsitzender der Nord Stream AG sowie des Gaskonzerns Rosneft, Gerhard Schröder, bezichtigt die Ukrainer der Kriegstreiberei. Schröder sieht Deutschland an der Seite Russlands.
Nicht nur Schröder, einst der „Boss der Bosse“. Er, der erklärte Freund des „lupenreinen Demokraten“, Schröders Definition für den russischen Präsidenten Putin, steht als Putin-Versteher nicht allein in der politischen Landschaft. Große Teile der SPD, die Linke und die AfD stehen Putin näher als der Ukraine.
Deutsche Tradition. Das deutsche Kaiserreich sponserte Lenin und seine bolschewistische Revolution gegen die Zaren, die bolschewistische Sowjetunion versorgte die Weimarer Republik mit Kriegswaffen, 1939 unterzeichneten NS-Deutschland und die Sowjetunion einen Nichtangriffspakt. In einem Zusatzprotokoll teilten sich die beiden totalitären Staaten das östliche Mitteleuropa auf.
Der erste sozialdemokratische Bundeskanzler, Willy Brandt, versuchte mit seiner Ost-Politik der Entspannung auch die Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht und der SS „gutzumachen“. Sein Kniefall in Warschau wurde zum Sinnbild für Scham und auch Trauer für den Völkermord Nazi-Deutschlands im besetzten Polen.
Unverständlich ist aber, warum wichtige Sozialdemokraten auch heute noch in die Knie gehen, vor dem russischen Präsidenten Putin. Wegen der millionenfachen Kriegsverbrechen Deutschlands in der Sowjetunion? Diktator Stalin scheint es gelungen zu sein, mit seiner Erzählung deutsche Köpfe zu erreichen. Das sowjetische Volk trug die Hauptlast der Opfer, erklärte Stalin und meinte damit die russische Nation.
Dieser „Geschichtsschreibung“ widerspricht der US-amerikanische Historiker Timothy Snyderin seinem Buch „Bloodlands“. Während ihres Paktes wüteten Wehrmacht und Rote Armee in ihren „Interessenssphären“. Besonders betroffen dabei war Polen und seine jüdische Bevölkerung.
In den frühen 1930er Jahren führte in der Sowjetrepublik Ukraine die stalinistische Landwirtschaft der Zwangskollektivierung zu einer Hungersnot mit mehr als 3,5 Millionen Toten. Das Regime, so eine der linken Lesearten, wollte mit seinem Hunger-Holocaust die „bürgerlichen Kulaken“ „bestrafen“, aber nicht kollektiv die Ukrainer. Mit der Zwangskollektivierung einher ging die Russifizierung der Ukraine. Ukrainisch wurde verboten.
Für Professor Serhii Plokhii von der Universität Harvard war die Hungersnot in der Ukraine die Folge einer Politik, die eine unübersehbare ethnonationale Färbung hatte. Diese Politik zielte nicht nur auf die Bauernschaft, sondern auf die neue politische Klasse und die kulturelle Elite ab. Das Regime war nicht nur hinter dem ukrainischen Getreide her, sondern hatte auch die ukrainische Kultur und letztlich die ukrainische Identität selbst im Visier, schreibt Professor Plokhii.
Die politisch gewollte Hungersnot von 1932-1933 – der Holodomor – hat die ukrainische Gesellschaft und Kultur dramatisch verändert. Der Holodomor hinterließ auch tiefe Narben im nationalen Gedächtnis, analysiert der ukrainisch-amerikanische Professor Serhii Plokhii die Geschichte und Bedeutung des Holodomor. Die sowjetische Ukraine, ein Opfer im Experimentierfeld der stalinistischen Gewalt.
Die neue kolonialisierte Sowjet-Republik Ukraine entstand auf einem Leichenberg und auf den zerstörten Leben von Millionen Menschen. Dem nicht genug. 1941 marschierte die deutsche Wehrmacht in die Ukraine ein. Viele empfanden die deutsche Besetzung nicht als Krieg, sondern als Befreiung vom stalinistischen Regime. Die Ukraine zählte aber für die Nazis, wie Polen zuvor, als zu erobernder „Lebensraum“ im Osten. Die Ukrainer, die der Wehrmacht zu applaudiert haben, galten als „Untermenschen“ ohne Zukunft.
Vier lange Jahre wüteten deutsches Militär und die „Sondereinsatzkommandos“ des NS-Staates in der Ukraine. Sie ermordeten mehr als 1,5 Millionen ukrainische Juden. Der Nazi-Herrschaft fielen weitere 2,5 Millionen Menschen zum Opfer. Die von den Nazis diktierten Lebensbedingungen wirkten sich ebenfalls tödlich aus, für 1,5 Millionen Menschen. Laut Schätzungen kamen in der vierjährigen Besatzungszeit zwischen 5 und 7 Millionen Ukrainer ums Leben.
Ein blutgetränktes Land, „Bloodlands“ eben, um Timothy Snyder zu zitieren. „Der Großteil der Opfer der nationalsozialistischen wie der stalinistischen Herrschaft kam aus Polen, dem Baltikum, der Ukraine, Weißrussland und dem westlichen Russland. Diese Region erfuhr die zwei Jahrzehnte zwischen 1928 und 1948 als eine Zeit extremer Gewalt. Timothy Snyder rückt die zahlreichen Orte deutscher und sowjetischer Massenverbrechen, von denen hierzulande allzu viele unbekannt sind, in den Mittelpunkt seines neuen Buches und weckt damit ein Bewusstsein für die spezifische Gewalterfahrung des östlichen Europas im 20. Jahrhundert. Dies gelingt nicht zuletzt dadurch, dass er den Orten des Geschehens einen gemeinsamen und eindringlichen Namen gibt: die Bloodlands,“ würdigt der Historiker Jörg Ganzenmüller die wissenschaftliche Arbeit von Snyder.
Der Ukraine, Opfer des Stalinismus und des Nationalsozialismus, verweigern Sozialdemokraten ihre Solidarität. Die Ukrainer gelten als Kriegstreiber. Russland eignete sich aber die ukrainische Krim an, besetzte mit Hilfstruppen vor Ort zwei Regionen im Donbas und führt dort einen schmutzigen Krieg. Ex-Kanzler Schröder und eine ganze Reihe anderer Sozialdemokraten nehmen das nicht zur Kenntnis.
Im Bosnien-Krieg verweigerte der Westen Sarajewo Waffen zur Verteidigung. Die serbischen Aggressoren hingegen waren hochgerüstet. Ihre Durchschlagskraft war folgenreich und tödlich für Bosnien. Deutschland denkt heute nicht daran, dem Opfer der Nazi-Okkupation beizustehen. Mit Waffen. Nicht die Ukraine rasselt mit dem Säbel, sondern die russische Armee, die schwerbewaffnet an der ukrainischen Grenze lauert.
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