12-10-2021
„Tagebuch der Übersiedlung“ Was blieb vom alten Sarajewo erhalten?

(c) lehmanns.ch
Von Wolfgang Mayr
Tragödien auf Tragödien, Afghanistan, Tigray, Syrien, Ost-Ukraine, Xinjiang, Hongkong, Westsahara, Türkei, usw. Bosnien? War da was? Verdrängt und vergessen. Dzevad Karahasans versucht mit seinem „Tagebuch der Übersiedlung“ daran zu erinnern.
Der bosnische Schriftsteller Dzevad Karahasan widmet Sarajewo mit dem „Tagebuch der Übersiedlung“ ein literarisches Denkmal. Dieses Tagebuch entstand 1993. Damals belagerten serbische Milizen aus dem Hinterland und die serbische Armee der beiden Kriegsverbrecher Ratko Mladic und Radovan Karadzic die bosnische Hauptstadt. Von den Bergen herab wurde die Stadt unter Beschuss genommen, wahllos, genauso Passanten, Hausfrauen, Kinder, SchülerInnen.
Karashasan und viele andere BürgerInnen auch, suchten in den Nächten Schutz in den Kellern. Ein Granatsplitter schlug in seinem Bücherschrank ein, die Werke von Gottfried Keller und Nadeschda Mandelstam wurden zerstört. Im Februar 1993 konnte er aus seiner Stadt fliehen.
Bereits einige Monate später erschien Karahasans „Tagebuch der Aussiedlung“. Er zeichnete in seinen Erzählungen die Größe und Bedeutung der Stadt nach, ein Tagebuch über den Untergang. Sarajevo war vom April 1992 bis zum Februar 1996 belagert und eingekesselt, gezielt wurden Wohnhäuser bombardiert, die Wasser- und Stromzufuhr unterbunden, genauso die Versorgung mit Lebensmitteln.
Europa schaute unbeteiligt zu, der Krieg wurde von den TV-Anstalten in die Wohnzimmer der EuropäerInnen gestrahlt. Die Reaktion auf diesen Krieg vor der Haustür war flau. Mehr als 11.000 Menschen wurden von den serbischen Aggressoren in Sarajewo ermordet. Zerstört wurde aber auch die Realutopie, wie der Deutschlandfunk schreibt. In dieser Stadt lebten vier monotheistische Religionen zusammen, Muslime, Juden, Katholiken und Orthodoxe, Bosniaken, Serben, Kroaten, Slowenen, Kosovaren, Montenegriner und Mazedonier.
Sarajewo stand für Eintracht, für ein mit- und nebeneinander. Ein Labor des Zusammenlebens. Die serbischen Scharfschützen auf den Bergen wollten nicht nur die Stadt zerstören, sondern auch das Symbol dieser Vielfalt vernichten. Der ehemalige Belgrader Bürgermeister und Architekt, Bogdan Bogdanovic, sah in den Zerstörern der Stadt Feinde der Demokratie und der Moderne.
28 Jahre später erschien die Neuausgabe des „Tagebuchs der Aussiedlung“, mit neuem Titel, „Tagebuch der Übersiedlung“. Das Tagebuch von damals, 1993, wurde ergänzt, erweitert. Manchmal schwingt in den Texten schlechtes Gewissen mit, weil er 1993 die Stadt verlassen, sie und die Bewohner den Schlächtern überlassen hatte. Diese setzen die Nationalbibliothek in Brand, den großen Schrank der bosnischen Nationalliteratur. Darüber schreibt er und über die Verantwortung der Literatur für Kriege.
Karahasan beschreibt, wie eine Mutter weint, weil ihre Kinder bei ihr sind. Es war ihr nicht gelungen, sie aus der Stadt zu schleusen.
Er verstand den Neid, den Nachbarn gegenüber einem Mann empfanden, der in der Warteschlange für ein wenig Wasser plötzlich niedersank und verstarb. Sie waren neidisch auf den friedlichen, gewaltlosen Tod.
Und Dževad Karahasan erzählt vom Besuch eines französischen Intellektuellen, der nach einem langen Gespräch mit ihm gekränkt davonzog, weil dieser nicht an Hunger, Kälte und Todesangst so litt, wie es der Besucher erwartet hatte und aus westlicher Sicht für angemessen hielt.
Dževad Karahasan: „Tagebuch der Übersiedlung“
Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
218 Seiten, 24 Euro
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