Schwieriges Gedenken: Der osmanische Genozid an drei Millionen Christen

Von Tessa Hofmann

Kriege, so lehren es die Erfahrung und die vergleichende Genozidforschung, bieten die ideale Nebelwand für Massenverbrechen an der eigenen und der Bevölkerung vermeintlich feindlicher Staaten. So geschah es auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in zwei Weltkriegen. Schon im Ersten Weltkrieg ermordete das damalige Regime der – in Europa und den USA – so genannten Jungtürken anderthalb Millionen der armenischen Bürgerinnen und Bürger des Osmanischen Reiches, mindestens eine halbe Million AramäerInnen (SyrerInnen, AssyrerInnen, ChaldäerInnen) und deportierte bis zu einer halben Million griechisch-orthodoxer ChristInnen. Rechnet man die Opfer vor und nach dem Weltkrieg hinzu, wurden in der letzten Dekade osmanischer Herrschaft an die drei Millionen indigener Christen in Kleinasien, Nordmesopotamien und im Armenischen Hochland vernichtet. Die Opfer starben bei Todesmärschen, Massakern und Zwangsarbeit. Ihre Leichen blieben größtenteils unbestattet neben den Überlandstraßen oder auf den abgelegeneren killing fields zurück, den Geiern und Wildhunden zum Fraß.

Bis heute erinnern weder in der Türkei, noch in Nordsyrien oder Nordirak Gedenktafeln, Gedenksteine oder gar Gedenkstätten an diese Verbrechen. Die offizielle Türkei und die Mehrheit ihrer Bevölkerung bestreiten mehr aus einhundert Jahre post factum, dass es sich bei den Deportationen der Jungtürken und ihrer kemalistischen Nachfolger und Nachahmer um eine staatlich gewollte und organisierte Vernichtung handelte. Sie unterstellen den Opfern vielmehr Illoyalität, Landesverrat und angebliche Aufstände, was dafür sorgt, dass auch vier Generationen später der Schmerz der Nachfahren lebendig bleibt.

Dieser Schmerz ist allgegenwärtig und grenzüberschreitend. Die Nachfahren der armenischen, aramäischen, assyrischen und griechischen Völkermordüberlebenden haben ihn auch ins Exil getragen. Unter den so genannten „türkischen GastarbeiterInnen“ in der Bundesrepublik Deutschland waren ArmenierInnen und AramäerInnen überproportional stark vertreten, unter den GastarbeiterInnen aus Griechenland befanden sich vor allem PontosgriechInnen und GriechInnen aus Thrakien.

Die dritte postgenozidale Generation ist üblicherweise diejenige, die das schamerfüllte Schreckstarre und das Schweigen der Großelterngeneration durchbricht. Auch in den armenischen, griechischen und syrischen (aramäischen, assyrischen) Diasporen der USA, Frankreichs und Australiens waren es die Enkel, die in mehr oder weniger stark fiktionalisierter Form die Erinnerungen ihrer Vorfahren publizierten und die Mehrheitsbevölkerung ihrer Aufnahmeländer mit ihrer Forderung nach „Anerkennung“ bzw. Verurteilung der 1912 bis 1922 unter osmanischer Herrschaft verübten Verbrechen konfrontierten. Im Zuge dieser seit Ende der 1970er Jahre zunehmenden geschichts- und erinnerungspolitischen Bewegung entstanden in Frankreich und den USA Gedenk-, Trauer- und Lernorte.

Deutschland hinkte dieser Bewegung lange Zeit hinterher. Zwar brachten auch hier im Jahr 2000 VertreterInnen der Betroffenen und deutscher Menschenrechtsorganisationen, darunter Mitglieder der Gesellschaft für bedrohte Völker, eine Petition zur legislativen Anerkennung der jungtürkischen Deportationen und Massaker als Völkermord in den Bundestag ein, doch dauerte es fünf Jahre, bis der deutsche Gesetzgeber sich in einer Resolution 2005 zur deutschen Mitverantwortung an den „Massakern und Vertreibungen“ seines osmanischen Militärverbündeten im Ersten Weltkrieg bekannte. Und es dauerte insgesamt 16 Jahre, bis im Juni 2016 der Bundestag in einer zweiten Resolution die osmanischen Verbrechen völkerrechtlich als das qualifizierte, was sie nach Ansicht der Vereinten Nationen und des Europäischen Parlaments fraglos waren: Genozid. Und damit ein nichtverjährendes Verbrechen gegen die Menschheit.

Aus der Anerkennungsbewegung in Deutschland war bereits 2002 ein Organisationskomitee „Mit einer Stimme sprechen!“ hervorgegangen, in dem sich zum ersten Mal armenische, griechische und aramäische Verbände, Vereine und Einzelpersonen gemeinsam für ein ökumenisches, also inklusives Gedenken einsetzten: Nicht Opferrivalität, sondern Opfersolidarität sollte das fortan gemeinsame Handeln bestimmen.

In Berlin suchte das Organisationskomitee seit 2005 nach einem geeigneten Standort für einen entsprechenden Gedenkstein bzw. ein Mahnmal. Bei Verhandlungen mit Berliner Ortsbehörden wurde allerdings schnell deutlich, dass sich im öffentlichen Raum der sonst so erinnerungsfreudigen deutschen Hauptstadt kein Platz für das Gedenken an die genozidal vernichteten Armenier, Griechen und Aramäer/Assyrer fand, hauptsächlich aus Furcht vor Übergriffen türkischer „Mitbürger“.

Das Organisationskomitee „Mit einer Stimme sprechen!“ stand folglich vor der Wahl, entweder die Verwirklichung seines Mahnmalprojekts ad infinitum zu verschieben oder sich mit einer Gedenkstätte im halböffentlichen Raum, also auf kirchlichem Grund, zufrieden zu geben.

So entstand 2014-2018 auf dem natur- und denkmalgeschützten Kirchhof III der evangelischen Luisengemeinde in Berlin-Charlottenburg an prominenter Stelle – am Ende der Hauptachse – eine ökumenische Gedenkstätte; sie ist nach meinem Wissen bis heute die einzige ihrer Art geblieben. Drei ehemalige Erbbegräbnisstätten, die Elemente der klassischen griechischen und der romanischen Bautradition aufwiesen, wurden zu dreiflügeligen Altären der Erinnerung umgewidmet und umgestaltet. Ihre Seitenflügel tragen sechs Ikonen der Vernichtung: bekannte historische Fotodokumente aus der Verfolgungsgeschichte der Armenier, Griechen und Aramäer/Assyrer, unter denen in Goldschrift an die sechs Werte erinnert wird, die bei diesem (und jedem anderen Genozid) den Opfern aberkannt werden: Leben, Freiheit, Heimat, Kultur, Glaube, Sicherheit. In der Mitte mahnt eine Widmungstafel aus Corten- und Edelstahl: Gedenkt der Opfer des osmanischen Genozids 1912-1922: Armenier – Griechen Kleinasiens, des Pontos und Ostthrakiens – Aramäer (Syrer /Assyrer / Chaldäer). Auf eine Inschrift, in der die politisch Verantwortlichen „ethnisiert“ werden, wurde bewusst verzichtet. Also ist hier nicht von einem „türkischen Völkermord“ die Rede. Ein Riss zwischen dem oberen und unteren Teil der Widmungstafel symbolisiert die Wunde, die durch die Weigerung der offiziellen Türkei zur historischen Verantwortungsübernahme symbolisiert wird. Sollte eines Tages der Gesetzgeber der Republik Türkei – die Große Nationalversammlung – die Verbrechen des Vorgängerstaates als Genozid anerkennen bzw. verurteilen, wird sich diese Wunde schließen und der Riss auf der Widmungstafel zugeschweißt werden.

Einheit in der Vielfalt war ein wesentlicher Grundsatz christlicher Baukunst im Mittelalter. Dieser Grundsatz wurde auch bei der Gestaltung der Ökumenischen Gedenkstätte in Berlin-Charlottenburg aufgegriffen. In ihrem Zentrum tragen die drei Altäre der Erinnerung ein Kreuz sowie Gedenkinschriften in der jeweiligen Schrift der betroffenen Volksgruppe bzw. Religionsgemeinschaft.

Darüber hinaus unterstreicht die Gestaltung, dass Armenier, Aramäer/Assyrer und Griechen in der letzten Dekade osmanisch-türkischer Herrschaft nicht nur millionenfach ihr Leben verloren, sondern auch ihre seit drei Jahrtausenden angestammte Heimat: ein „Patrizid“ fand statt. Durch 68 beschriftete Bodenplatten wurden die verlorenen Herkunftsorte symbolisch in die Gedenkstätte integriert. Drei Bänke laden zum Verweilen und Gespräch. Vor der Gedenkstätte informieren zwei Tafeln die Besucher über die geschichtlichen Hintergründe der Gedenkstätte und stellen per Quick Response-Code abrufbare Zusatzinformationen in einer „virtuellen Gedenkstätte“ bereit. (https://virtual-genocide-memorial.de/)

Diese Virtual Genocide Memorial (VGM) gliedert sich hierarchisch entsprechend den osmanischen Verwaltungseinheiten: Provinz (Vilayet) – Bezirk (sancak) – Landkreis (kaza) – Gemeinde (nahiye) – Ortsgemeinde (kariye). Von den 16 osmanischen Provinzen, in denen ein erheblicher Bevölkerungsanteil aus Christen bestand, wurden bisher dreizehn mit demographischen und historischen Informationen dargestellt, einschließlich der Würdigung der besonderen kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen ihrer christlichen Bevölkerungsgruppen. Außerdem enthält die VGM Informationen zu repräsentativen Einzelschicksalen, auszugweise literarische Übersetzungen und zahlreiche Bilddokumente. Als wissenschaftliche Redakteurin der VGM erhoffe ich mir, dass im Laufe der Zeit noch weitere Berichte hinzukommen und lade herzlich zur Teilnahme an diesem Projekt ein: info@genozid-gedenkstaette.de

Aber schon heute zeigen die Darstellungen, mit welcher zielgerichteten Systematik sich die damals politisch Verantwortlichen binnen weniger Jahre der altansässigen christlichen Bevölkerung entledigt haben. Die VGM dokumentiert diesen dreifachen Genozid in seiner erschreckend umfassenden Dimension.

Die analoge Gedenkstätte in Berlin-Charlottenburg dient sowohl als individueller und gemeinschaftlicher Trauerort, als auch als Lernort und Stätte der Aussöhnung. Seit 2015 finden hier und in der Friedhofskapelle vier Mal jährlich Veranstaltungen an oder in der Nähe des armenischen (24. April), pontosgriechischen (19. Mai), aramäischen (15. Juni) und griechisch-kleinasiatischen (14. September) Gedenktages statt. Im Rahmen des Tages des Offenen Denkmals bietet die 2011 gegründete Fördergemeinschaft für eine Ökumenische Gedenkstätte für Genozidopfer im Osmanischen Reich (FÖGG) e.V. Führungen an. FÖGG e.V. ist die juristische Nachfolgerin des Organisationskomitees „Mit einer Stimme sprechen!“

Veranstaltung am 13. September 2020 im Gedenken an die griechischen Opfer in Kleinasien 1912-1922

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