10-11-2022
Russlands ethnische Minderheiten bluten
Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) veröffentlicht Zahlen und Fakten über den Blutzoll der Minderheiten in dem verbrecherischem Angriffskrieg Russlands
Von Jan Diedrichsen
Amerikas oberster General schätzt, dass 100.000 russische Soldaten in der Ukraine getötet oder verwundet wurden und dass die Kiewer Streitkräfte in diesem Krieg „wahrscheinlich“ ähnlich viele Opfer zu beklagen haben. General Mark Milley geht außerdem davon aus, dass bis zu 40 000 ukrainische Zivilisten getötet wurden,nachdem sie in den Konflikt verwickelt waren.
Auf russischer Seite werden immer wieder Angehörige der ethnischen Minderheiten und Nationalitäten sowie der indigenen Völker als Kanonenfutter an die Front beordert und getötet.
VOICES berichtet
Kanonenfutter: Indigene werden in einem verbrecherischen Krieg verheizt
Sebastian Hoppe von der „Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) hat sich anhand russischer Medienberichten und Quellen einen genaueren Überblick verschafft.
Die Verteilung der Gefallenen auf russischer Seite folgt den regionalen Mustern der Rekrutierung. Gleichzeitig verschweigt der Kreml seit dem Beginn der Invasion das tatsächliche Ausmaß des Krieges und die Zahl der Toten vor der Öffentlichkeit.
Schätzungen zufolge verzeichneten bis April 2022 die Regionen Dagestan, Inguschetien und Nordossetien im Kaukasus und Burjatien, Tschukotka und Tuwa im russländischen Fernen Osten die höchsten Verlustzahlen, berichtet Sebastian Hoppe von SWP.
Nach Angaben von Journalisten der Plattform »Menschen des Baikals«, die offen zugängliche Daten zu gefallenen Soldaten ausgewertet haben, sei in den ersten drei Monaten des Krieges die Sterblichkeitsrate burjatischer Männer im Alter von 18 bis 45 Jahren um 63 Prozent und die junger Männer unter 30 Jahren um 300 Prozent getiegen. Aus Moskau hingegen stammte keiner der ermittelten Toten.
Um die öffentliche Verbreitung der tatsächlichen Todeszahlen in den Regionen zu unterbinden, geht die russländische Führung mit Hilfe des Inlandsgeheimdiensts FSB hart gegen lokale Medien und kritische Journalistinnen und Journalisten vor. So blockierte etwa Roskomnadzor, Moskaus Zensurbehörde, bereits im April den Zugang zum lokalen Medienportal Ljudi Baikala, dessen Reporterinnen und Reporter zuvor über die massiv gestiegene Sterblichkeit unter jungen Männern in Burjatien berichtet hatten.
Zensur und Repression können jedoch nicht verhindern, dass sich das Unbehagen über das Soldatensterben auf der Ebene der lokalen Öffentlichkeiten Bahn bricht, wo regelmäßig Ehefrauen die Heimkehr ihrer Männer fordern. Die Überrepräsentation ethnischer Minderheiten unter den Gefallenen verstärkt in den betroffenen Bevölkerungsgruppen das Gefühl, für die Kriegsabenteuer eines imperialen Zentrums instrumentalisiert zu werden, schreibt Sebastian Hoppe.
Im Gegensatz zu den urbanen Ballungsräumen Moskau und St. Petersburg, wo sie auf paradoxe Weise abwesend ist, lässt sich die Realität des Krieges durch die täglich stattfindenden Beerdigungen in anderen Regionen nicht vor der Öffentlichkeit verbergen.
Die von Teilen der ethnischen Minderheiten empfundene innerrussländische Kolonialität des Krieges hat sich etwa im Verwaltungsbezirk Kazan in vereinzelten Unmutsbekundungen in Form von T‑Shirt-Kampagnen unter dem Slogan »Ich bin nicht russisch!« (Ja ne russki!) geäußert. Auch die Massenproteste in Dagestan nach der Verkündung der Teilmobilisierung stehen für den Widerwillen von Angehörigen ethnischer Minoritäten Russlands, als neo-imperiales Kanonenfutter in der Ukraine eingesetzt zu werden.
SHARE