Plurinationales Chile – Teil 2: Abschied vom Kolonialismus?

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Abschied vom Kolonialismus?

Siehe Teil 1: Plurinationales Chile?

Ein Verfassungskonvent arbeitet seit dem Sommer an einer neuen chilenischen Verfassung. Auch 17 indigene VertreterInnen schreiben daran mit.

In der kurzen Ära des Präsidenten Allende von 1970 bis 1973 kam es auch zu einem indigenen Frühling. Erstmals in der chilenischen Geschichte, nach der Eroberung und Kolonialisierung dieses Küstenlandes, bekamen die indigenen Völker die Chance, Politik mitzugestalten.

Mit dem von der CIA unterstützen Putsch des Militärs, heftig applaudiert von der spanischstämmigen Elite aus Großgrundbesitzern und Unternehmern, wurde die Reißleine gezogen. Keine Demokratie für Fabrik- und Landarbeiter und schon gar keine Demokratie für die Nachkommen der Ureinwohner. Dieses Erbe der blutigen Pinochet-Diktatur soll mit einer neuen Verfassung endgültig beseitigt werden, genauso die neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik.

Dafür sorgten seit 2019 protestierende und demonstrierende BürgerInnen, die mit großer Mehrheit beim  Referendum am 25. Oktober 2020 für den Verfassungskonvent stimmten. Sie sorgten mit ihrer Wahl auch dafür, dass Linke und Parteiunabhängige die Mehrheit im Konvent stellen. Diese wiederum stimmte für die Mapuche-Vertreterin Elisa Loncón Antileo zu ihrer Präsidentin.

Chile neu gründen

In einer engagierten Rede richtet sich Konvents-Präsidentin Antileo auf Spanisch und auf  Mapudungún, der Sprache der Mapuche an die StaatsbürgerInnen: “Dieser Traum ist der Traum unserer Vorfahren. Dieser Traum wird jetzt Wirklichkeit”, sagte Antileo: “Es ist möglich, Chile neu zu gründen.  Der Verfassungskonvent wird Chile zu einem plurinationalen, interkulturellen Chile machen, in dem die Rechte der Frauen und der Sorgearbeitenden geachtet, und in dem die Mutter Erde und das Wasser geschützt werden”. Die Mapuche Antileo versteht sich auch als Vertreterin der Aymara, der Rapanui und der Yagan.

Der Verfassungskonvent hat sich einige Veränderungen vorgenommen. Der größte Brocken ist die Aufarbeitung der 17-jährigen Pinochet-Diktatur, Stichworte Verschwindenlassen, Staatsterror, Unterdrückung der Ureinwohner. Die von den rechten Parteien und Vertretern der Wirtschaft unterstützte Diktatur schlug tiefe Wunden. Die Verantwortlichen für die massiven Verletzungen der Menschenrechte wurden nicht vor Gericht gestellt.

Auch die neoliberale Wirtschaftspolitik der Pinochet-Diktatur überlebte diese politische Eiszeit. Die Verfassung aus jener Zeit bewertet das Privateigentum höher als Menschenrechte. Die demokratischen Nach- die Privatisierung von Wasser und anderen natürlichen Ressourcen sowie der allgemeinen Daseinsvorsorge weiter voran: bei den  Autobahnen, der Strom-, Gas- und Wasserversorgung und auch des Bildungssystems.

Millionenfache Proteste

Die ungenierte und hemmungslose Plünderung von Land und Leute treibt seit 2019 Millionen Menschen auf die Straßen. “Dass in den ersten Tagen der Proteste Millionen von Menschen auf die Straße gingen, gab uns ein Gefühl von Stärke”, sagte Karina Nohales, Sprecherin der feministischen Dachorganisation Coordinadora 8M. Diese Mobilisierung von unten ermöglichte den Verfassungskonvent und die linke Mehrheit im Konvent. Dafür sorgte auch die exzessive Gewalt der Polizei gegen die DemonstrantInnen. Die ungebremste Polizei-Brutalität ermöglichte im November 2019 ein  “Abkommen für den Frieden und eine neue Verfassung”, das von fast allen ParlamentarierInnen unterschrieben wurde.  Das Abkommen regelte den institutionellen Weg, um die Pinochet-Verfassung umzuschreiben.

Das für den 25. Oktober 2020 angesetzte Referendum überraschte die politische Elite. Fast drei Viertel der WählerInnen stimmten für den Konvent. Außerdem votierten sie auch dagegen, dass Parlamentsabgeordnete für den Konvent kandidieren konnten.  Stattdessen wurden linke und parteiunabhängige KandidatInnen in den Konvent geschickt, die rechte Listen kamen nur auf 30 Prozent der Sitze.

Sozial-AktivistInnen im Konvent

Trotz des fehlenden gleichberechtigten Zugangs zu TV-Sendungen setzten sich VertreterInnen verschiedener sozialer Bewegungen durch. 17 Plätze (von insgesamt 155) waren für indigene MandatarInnen reserviert.

Alondra Carrillo von der feministischen Dachorganisation Coordinadora 8M erklärte, es geht nicht „nur“ darum eine Verfassung zu schreiben: “Es geht um echte Demokratisierung  und um eine soziale Alternative. Wir wollen eine Transformation von einem subsidiären Staat, der die neoliberale Ordnung stützt, zu einem solidarischen Staat, der Rechte garantiert, der plurinational, demokratisch und von einer feministischen Perspektive geprägt ist”. Ziel ist auch die Schaffung eines Sozial-Staates. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung verdient monatlich 500 Euro, sind nur „prekär“ beschäftigt und haben keine Krankenheitsversorgung noch einen Rentenanspruch.

Deshalb ist die “Verankerung der sozialen Rechte in der Verfassung, wie Bildung, Gesundheit, also ein öffentliches und funktionierendes, und staatlich finanziertes Bildungs- und Gesundheitssystem“ ein vorrangiges Ziel.

Wirtschaftsinterressen und internationale Abkommen

Schwierig wird die Reform der Wirtschaft werden. Die Abkehr vom Neoliberalismus ist kein leichtes Unterfangen, hat Chile doch einige Freihandelsabkommen unterschrieben. So gilt seit 2003 eine Assoziierungsabkommen mit der EU, das derzeit nachverhandelt wird. Die EU drängt darauf, einen leichteren Zugang zu den Rohstoffen zu erhalten und auf einen strikten Investitionsschutz. Stolpersteine auf dem Weg in eine nachhaltige Wirtschaft, auch wenn die EU diese mit ihrem New Green Deal zumindest verbal anpeilt.

Rechts-Regierung gegen neue Verfassung

Die konservative Regierung in Santiago ist nicht begeistert über die Entwicklung im Land. Schon gar nicht darüber, dass VertreterInnen von sozialen Bewegungen und der indigenen Völker eine neue Verfassung schreiben. Zum Planspiel der regierenden Rechten gehört deshalb die Militarisierung des indigenen Protestes. Bei Protesten auf den Straßen gehen die Carabineros – die kasernierte Polizei – rücksichtslos gegen BürgerInnen vor. Seit Oktober 2019 starben mehr als 30 DemonstrantInnen. Tausende Menschen wurde verhaftet, Berichte bestätigen Folter und Vergewaltigung in den Gefängnissen.

Perspektiven

Mehr als hundert Mitglieder des Konvents forderten bereits die Freilassung der Verhafteten. Eine Forderung mit Gewicht, haben doch die WählerInnen die Konventsmitglieder direkt gewählt. Mit diesem Votum im Rücken haben die von Bevölkerung gewählten Repräsentant*innen aus dem politischen, sozialen und kulturellen Leben die Chance, Chile neu zu gestalten. Für einen zusätzlichen Reformschub könnte die Präsidentschaftswahl im November sorgen. Der linke Kandidat scheint greifbare Chancen zu haben, von einer Mehrheit gewählt zu werden.

Quellen: Nachrichtenpool Lateinamerika; Rosa-Luxemburg-Stiftung

Dazu ein Podcast! vom Nachrichtenpool Lateinamerika

Und hier der Originaltext der Rosa-Luxemburg-Stiftung:

Was kann und was muss die Neue Verfassung schaffen?

von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

Mapuche Memorandum, November 2013 fertig.pdf (gfbv.de)

 

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